Zweites Gespräch

[13] Philopon. Neophil.


PHILOPON: Aber was bekümmern wir uns darum, ob die metaphysischen Unterredungen unter die galanten und neumodischen gehören? Genug, daß sie für uns eben so viel Wichtigkeit als Anmuth haben.

NEOPHIL: Nur für uns? Diese Wichtigkeit und Anmuth müssen die abstracten Grundwahrheiten für alle denkende Wesen haben. Diejenigen besonders, welche in die Geisterlehre einschlagen. Zwar haben sie keinen unmittelbaren Einfluß in das menschliche Leben; dennoch aber sind sie das edelste und würdigste unsrer Erkenntniß, weil ihre Gegenstände die edelsten und würdigsten sind.

PHILOPON: Man muß es jetziger Zeit gäntzlich vergessen haben, die Metaphysik auf dieser Seite zu betrachten. Gott! in was für Verachtung schmachtet sie, die weyland Königin der Wissenschaften! Ich erstaune und kann die Ursachen dieser Verachtung nicht finden.

NEOPHIL: Nicht finden? Und also liegen sie wohl so verborgen, daß man nöthig hat, sie zu suchen? Nein liebster Freund, nein. Sie haben ohne Zweifel eine Quelle übersehen, aus der wir, leider, mehrere Uebel herleiten müssen. Ich meine unsre sklavische Nachäffung eines Volkes, das uns zu verführen gleichsam gemacht zu seyn scheinet. Dieses Volk, welches seit dem P. Malebranche keinen einzigen metaphysischen Kopf aufzuweisen hat, sähe wohl, daß die Gründlichkeit sein Werk nicht sey; es machte daher die Artigkeit[13] der Sitten zu seinem einzigen Augenmerke, und übte den spöttischsten Witz gegen die, welche tiefsinnigen Betrachtungen nachhingen und in der grossen Welt nach einer gewissen übertriebenen Zärtlichkeit des Geschmacks nicht zu leben wußten. Die wenigen Weltweisen, die es noch hatte, fingen an, ihre runtzliche Stirn aufzuheitern, und wurden artig. Endlich dachten sie auch artig. Sie schrieben Werke pour les Dames, à la portée de tout le Monde, u.s.w. und lachten aus vollem Halse über die düstern Köpfe, deren Schriften noch etwas mehr enthielten, als das schöne Geschlecht lesen will. Die ehrlichen Deutschen lachten mit. Und wie konnten sie auch anders? Sie, die gerne die Hälfte ihres Verstandes dahin gäben, wenn ihnen die Franzosen nur zugestehen wollten, daß sie zu leben wissen.

PHILOPON: Werden denn die Deutschen niemals ihren eigenen Werth erkennen? Wollen sie ewig ihr Gold für das Flittergold ihrer Nachbarn vertauschen? Sie könnten sich ja wohl damit begnügen, daß sie grössere, und die Franzosen artigere Philosophen unter sich haben.

NEOPHIL: Gewiß! Leibnitz, Wolf, und verschiedne ihrer Schüler, zu welcher Vollkommenheit haben sie die Weltweisheit gebracht! Wie stolz kann Deutschland auf sie seyn! Doch was hilft es, sich mehr zuzuschreiben, als recht ist. Lassen Sie uns also immer gestehen, daß auch ein andrer als ein Deutscher, ich setze noch hinzu, daß auch ein andrer als ein Christ, daß Spinosa an der Verbesserung der Weltweisheit einen grossen Antheil hat. Ehe der Uebergang von der Cartesianischen bis zur Leibnitzianischen Weltweisheit geschehen konnte, mußte jemand in den dazwischen liegenden ungeheuern Abgrund stürzen. Dieses unglückliche Loos traf Spinosen. Wie sehr ist sein Schicksal zu betauren! Er war ein Opfer für den menschlichen Verstand; allein ein Opfer, das mit Blumen gezieret zu werden verdient. Ohne ihn hätte die Weltweisheit ihre Grenzen nimmermehr so weit ausdehnen können.

PHILOPON: Das Unglück dieses Mannes hat mich jederzeit ungemein gerührt. Er[14] lebte mäßig, eingezogen und untadelhaft; er entsagte allen menschlischen Ergötzungen, und widmete sein gantzes Leben dem Nachdenken, und siehe! er geräth in dem Labyrinthe seiner Betrachtungen auf Abwege, und behauptete dasjenige aus Irrthum, was der verworfenste Bube wünschet, um ungestraft seinen bösen Lüsten fröhnen zu können. Wie ungerecht ist der unversöhnliche Haß der Gelehrten wider einen solchen Unglücklichen!

NEOPHIL: Diese Leute glauben der guten Sache ihrer Religion keinen kleinen Nachdruck zu geben, wenn sie die Widersacher derselben mit Schimpf belegen, und mit Lästerungen gleichsam überschütten. Allein sie richten mehr Schaden an, als sie Nutzen zu stiften glauben. Der Ungläubige beharret desto hartnäckiger auf seinen vorgefaßten Meinungen, weil er die Lästerungen für die stärksten Waffen ansiehet, womit man ihn bestreiten kann; und unpartheyische Gemüther betrachten ihn als den beleidigten Theil, und schlagen sich aus Großmuth auf seine Seite. – – Unter allen Widersachern des Spinosa ist der einzige Wolf diesem Tadel nicht unterworfen. Dieser grosse Weltweise setzt den Spinosismus, bevor er ihn widerlegt, in sein gehöriges leicht. Er zeigt ihn von seiner stärcksten Seite, und eben dadurch hat er seine Schwäche am besten entdeckt. Wer seine Widerlegung mit Aufmerksamkeit gelesen hat, wird gewiß niemals in Versuchung gerathen Spinosen beyzupflichten.

PHILOPON: Aber warum übergehen Sie Baylen? Hat er nicht auch die Schwäche dieses irrigen Lehrgebäudes genugsam gezeigt?

NEOPHIL: Er hat zwar hier und da einige richtige Einwürfe wider Spinosen vorgebracht, allein er hat sie mit so vielen Scheingründen und Consequenzen durchflochten, daß er ihnen gleichsam alle Kraft zu benehmen scheint. Den Begrif, zum Exempel, den sich Spinosa von der Ausdehnung zu machen scheint, hat er mit tüchtigen Gründen bestritten, und hinlänglich gezeigt, daß sie unmöglich als eine unendliche Eigenschaft Gottes betrachtet werden könne. Allein wozu dient die Menge Folgerungen, die er Spinosen aufbürdet? Was[15] nützen die Gleichnisse, daß nach Spinosens Meinung, wenn die Christen wider die Türken zu Felde ziehen, Gott wider Gott zu Felde zöge? daß dem höchsten Wesen alle Mordthaten, Diebereyen, Ehebrüche und Blutschändungen zugeschrieben werden müßten u. d. m.? Hätte er nicht, um alle diese Einwürfe gültig zu machen, vorher wider Spinosen darthun müssen, daß es wirklich in Ansehung Gottes Unvollkommenheiten gebe? Man weiß, daß Spinosa mit ausdrücklichen Worten das Gegentheil behauptet. So lange er diese Schanze, dahinter sich sein Feind verbirgt, nicht niedergerissen hat, dienen alle die Beschuldigungen, die er ihm zur Last legt, höchstens mir dazu, die Gemüther des gemeinen Haufens wider ihn aufzubringen.

PHILOPON: Sie haben Recht. Und eben jetzt erinnere ich mich, daß Bayle selbst gesteht, er sey Spinosens Werke mit keiner allzugenauen Aufmerksamkeit durchgegangen. Gewiß er hätte es thun sollen. Wenigstens würde kein Vorurtheil seine Feder geführt haben.

NEOPHIL: Aber der Witz würde ihn auf desto mehr Abwege gebracht haben. Der Witz, der eben so viel schlechte Gegner gemacht hat, als der Eifer. Wie frey ist Wolf von beyden Vorwürfen. Er leistet alles was Bayle verabsäumet hat, und auch bey dem möglichsten Fleisse vielleicht würde verabsäumet haben. Er beweiset, daß Spinosa geglaubet habe, es könnte aus einer unendlichen Menge endlicher Vollkommenheiten eine unendliche gleichsam zusammengesetzt werden; und endlich zeiget er den Ungrund dieser Meinung so klar, daß ich ganz gewiß überzeugt bin, Spinosa würde ihm mit Vergnügen selbst Beyfall gegeben haben. Denn man muß von der unbändigen Hartnäckigkeit der sogenannten Freygeister nicht auf die Gemüthsart dieses Weltweisen schliessen. Er ist aus Irrthum und nicht aus Bosheit des Herzens auf Abwege gerathen.

PHILOPON: Allein Sie zeigten mir gestern mit vieler Scharfsinnigkeit, daß Spinosa die vorherbestimmte Harmonie behauptet habe. Wenn es nun sein Ernst gewesen wäre, sich von der Wahrheit zu überzeugen,[16] wie leicht hätte er nicht daraus schliessen können, daß die Seele eine Kraft habe, und folglich eine besondere Substanz sey?

NEOPHIL: Ich glaube nicht, daß dieses unmittelbar aus dem System der Harmoniefolge. Doch weil Sie mich an das Gestrige erinnern; so erlauben Sie mir jetzt, den Gedanken ihrer Beurtheilung vorzulegen, den ich im Vorbeygehen verrieth. Er betraf die Gestalt, unter welcher Spinosens Lehrgebäude mit der Vernunft und der Religion bestellen könne. Sie wissen, die Leibnitzianer legen der Welt gleichsam ein zweyfaches Daseyn bey. Sie hat, mit ihnen zu reden, vor dem Rathschlusse Gottes, unter möglichen Welten in dem göttlichen Verstande, existirt. Gott hat ihr, weil sie die beste war, vor allen möglichen Weltenden Vorzug gegeben und hat sie ausser sich wirklich seyn lassen. Nun blieb Spinosa bey der ersten Existenz stehen. Er glaubte, es wäre niemals eine Welt außer Gott wirklich geworden, und alle sichtbare Dinge wären bis auf diese Stunde bloß in dem göttlichen Verstande anzutreffen. Was nun die Leibnitzianer von dem Plane der Welt behaupten, so wie er in dem göttlichen Verstande (antecedenter ad decretum) existirt hat, das glaubte Spinosa von der sichtbaren behaupten zu können. Jene sagen, Gott habe sich die Möglichkeit der zufälligen Dinge vorgestellt, indem er an seine eigene Vollkommenheiten nebst einem gewissen Grade der Einschränkung gedenken konnte. Eben also behauptet Spinosa. »Alle einzelne Dinge drücken die göttliche Eigenschaften nach einer gewissen eingeschränckten Art aus.« Der Charakter der zufälligen Dinge in dem Verstande Gottes ist nach den Leibnitzianern, daß sie ohne eine unendliche Reihe von Ursachen nicht begriffen werden können; fast mit gleichen Worten behauptet Spinosa:4 »Der Begrif eines eintzelnen Dinges, das wirklich vorhanden ist, hat Gott zur Ursache, und zwar nicht in so weit er unendlich ist; sondern in so weit in ihm der Begrif eines andern Dinges anzutreffen ist, das ebenfalls wirklich vorhanden ist. Gleicher Gestalt ist Gott die Ursache dieses letztern, in so weit in ihm der Begrif eines 3ten anzutreffen ist, und so unendlich fort. Was kann ein gründlicher Weltweise an dieser Lehre[17] aussetzen, wenn sie auf die Welt, so wie sie in dem göttlichen Verstände existirt hat, angebracht wird?« Ueberlegen Sie nunmehr, wie Leibnitz sein System in Ansehung der verständlichen Welt (so wollen wir diejenige, die vor dem Rathschlusse Gottes in seinem Verstande existirt hat, der Kürze halber nennen) hätte einschränken müssen. Er konnte dem Begrif, der in Gott die menschliche Seele vorstellt, unmöglich eine besondere Kraft zuschreiben, und dennoch blieb noch immer sein System von dem System der veranlassenden Ursachen himmelweit unterschieden, und zwar dadurch, daß sich nach seinem System die folgende Vorstellungen in dem Begriffe, der unsere Seele ausdrückt, aus den vorhergehenden verständlich erklären lassen, welches aber nach dem System der veranlassenden Ursachen nicht geschiehet. Sie können nunmehr leichtlich die Anwendung auf Spinosen machen, und daraus schliessen, wie wenig die Harmonie allein hinreichend gewesen, ihn aus seinem Irrthume zu reissen.

PHILOPON: Ich begreife dieses alles sehr wohl, und sehe nunmehr, wie viel wir Spinosens Irrthume zu verdanken haben. Es war nur ein kleiner Schritt von ihm zur Wahrheit. Man glaubet insgemein, daß Spinosa zwischen nothwendigen und zufälligen Dingen keinen Unterscheid macht; allein ist est nicht genug, daß er mit ausdrücklichen Worten behauptet, das Nothwendige lasse sich aus den göttlichen Eigenschaften, in so weit er unendlich ist, das Zufällige hingegen, in so weit in ihm eine unendliche Reihe anderer Zufälligkeiten anzutreffen ist, verständlich erklären? Sein Irrthum war also ganz etwas anders, als was vielleicht alle seine Widersacher dafür ansehen. – – Doch was muß ihn wohl bewogen haben, Gott die Freyheit abzusprechen?

NEOPHIL: Wenn er irgend zu einem Irrthume unschuldig gekommen ist; so war es ganz gewiß dieser. Er sah blos das Aequilibrium indifferentiä für eine ächte Freyheit an, und diesen Irrthum hat er mit unzähligen rechtgläubigen Weltweisen gemein. Es fehlte ihm aber an Scharfsinnigkeit nicht, einzusehen, daß die Wahl eines verständigen Wesens allezeit durch Bewegungsgründe bestimmt werde;[18] daher hielt er dieses Aequilibrium für unmöglich und sprach allen verständigen Wesen die Freyheit ab. Leibnitz hat diesen Irrtum glücklich zerstreuet und unumstößlich dargethan, daß die ächte Freyheit in einer Wahl des Besten bestehe; und daß die Bewegungsgründe die Wahl bestimmen und den blossen Zufall aufheben, niemals aber eine Nothwendigkeit zuwege bringen könnten. Man bewundere den Eigensinn der Menschen! Leibnitz hätte für die Entwickelung dieses Begrifs, beynahe für einen Spinosisten gelten müssen.

PHILOPON: Mich vergnügt die Aehnlichkeit, die ich zwischen der Weltweisheit überhaupt, und einem jeden Weltweisen insbesondere bemerke. Beyde haben in ihrem Fortgange einerley Schicksal. Man ist meistentheils Anfangs abergläubisch, alsdenn ungläubig und endlich rechtgläubig.

NEOPHIL: Außer dem vergnügt mich auch die Betrachtung, daß Gott in der Welt alles zum Guten lenkt. Spinosens gefährliche Irrthümer mußten der Wahrheit zum Vortheil gereichen.[19]

Quelle:
Moses Mendelssohn. Gesammelte Schriften. Band 1, Berlin 1929 ff. [ab 1974: Stuttgart u. Bad Cannstatt], S. 13-20.
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