Viertes Gespräch

[29] Kallisthen. Numesian.


NUMESIAN: Welcher Mahler, welcher Bildhauer hat je zwey Stücke verfertigt, die sich vollkommen ähnlich waren? Ja so gar – –

KALLISTHEN: Halten Sie ein, liebster Freund! Sie sind unrecht. Wollten Sie nicht wider den Satz des nicht zu unterscheidenden streiten?

NUMESIAN: Nun?

KALLISTHEN: Gleichwohl führen sie eine Erfahrung an, darauf sich die Verfechter dieser Meinung am meisten berufen können.

NUMESIAN: Keinesweges! Diese Erfahrung lehrt uns nur, daß zwey ähnliche Dinge verfertigen, alle menschliche Geschicklichkeit übertrift. Wird aber die Hervorbringung derselben nicht eben deswegen als ein Vorrecht der göttlichen Kunst angesehen werden können?

KALLISTHEN: Ich kann dieses auf eine kurtze Zeit gelten lassen, ob ich gleich noch vieles dawider hätte. Allein was folget hieraus zum Nachtheile der Leibnizianer?

NUMESIAN: Das sollen Sie bald hören. Fordern Sie nur dasjenige nicht wieder zurück,[29] was Sie mir jetzt eingeräumet haben. Was denken Sie wohl, sind zwey nicht zu unterscheidende Dinge schlechterdinges unmöglich?

KALLISTHEN: Alsdenn nicht, wenn sie in verschiedener Verbindung der Zeit und des Raums existiren sollen.

NUMESIAN: Schon wieder einen Posten abgedrungen. So kann die göttliche Allmacht wirklich solche zwey Dinge hervor gebracht haben?

KALLISTHEN: Ohnstreitig, wenn die göttliche Weisheit nicht an mannigfaltigen Dingen mehr Gefallen gehabt haben müßte.

NUMESIAN: Nun kann ich ganz gewiß Sieg rufen. Denn wo vollkommen ähnliche Dinge mehr Kunst beweisen als mannigfaltige; wo sie, sage ich, als ein Charakter der göttlichen Einsicht angesehen werden können, so muß die göttliche Weisheit nothwendig an ihnen mehr Gefallen gehabt haben.

KALLISTHEN: Es wäre ewig Schade wenn Voltaire über Leibnitzen siegen sollte. Denn ich muß es Ihnen nur sagen, dieser Franzose hat ihren Einwurf irgendwo in seinen kleinen philosophischen Schriften vorgetragen. Allein es steht unsern witzigen Nachbaren überhaupt sehr schlecht an, wenn sie sich in metaphysischen Sachen zu Richtern aufwerfen wollen. Sie sind zu unstät irgend eine systematische Schrift mit gehöriger Anstrengung durchzulesen. Sie begnügen sich, wie sie sich aus Eitelkeit dessen zu rühmen pflegen, hier und da einige Blümchen aufzusuchen; allein diese Blümchen verwelken unter ihren Händen. Voltaire wird ganz gewiß nicht mehr, als höchstens einen Blick in die Theodicee des Leibnitz gethan haben; denn Leibnitz war doch immer noch ein Deutscher, ob er gleich seine Theodicee französisch geschrieben. Nun mag er von ohngefehr erblickt haben, Leibnitz behaupte, es sey der göttlichen Weisheit unanständig, zwey nicht zu unterscheidende Dinge in die Welt zu setzen; und er[30] glaubte ganz gewiß gelesen zu haben, es würde mehr Geschicklichkeit erfordert, mannigfaltige Dinge, als vollkommen ähnliche zu verfertigen. Nun hören Sie einmal, wie es Leibnitz genommen hat. Sie wissen er hat durch unumstößliche Gründe dargethan, daß die göttliche Weisheit nichts ohne zureichenden Grund wehlen könne. Wenn also zwey nicht zu unterscheidende Dinge in verschiedenen Orten, oder zu verschiedenen Zeiten, angetroffen werden sollen: so muß sich nothwendig begreifen lassen, warum das eine vielmehr hier als da, oder vielmehr zu dieser als zu jener Zeit vorhanden ist. Da aber in den Dingen selbst kein Unterscheid zu finden seyn soll, der Raum und die Zeit aber an sich selbst der Wahl keinen Ausschlag geben können: so kann kein Bewegungsgrund den göttlichen Willen bestimmt haben, und es kann unmöglich eine Wahl geschehen seyn. Sehen Sie nunmehr, warum Leibnitz sagt: es wäre der göttlichen Weisheit unanständig?

NUMESIAN: Nun wahrhaftig! diesesmal haben Sie mir den Sieg allzugeschwind aus den Händen gerissen, und aller Tadel, den sie auf Voltairen geworfen, fällt mit gleichem Rechte auf mich zurück.

KALLISTHEN: Voltairen verzeihet man endlich gern, daß er es in seinen Schriften an Gründlichkeit hat fehlen lassen. Er bleibt doch immer für diejenige noch gründlich genug, welche die Philosophie von ihm erlernen wollen. Allein es haben Leute von höherer Einsicht, in der Leibnitzischen Weltweisheit manchen Ausspruch gewagt, ohne das Leibnitzische Lehrgebäude mit erforderlicher Aufmerksamkeit untersucht zu haben.

NUMESIAN: Sie meinen etwa den jungen Weltweisen, der letzthin wider den Leibnitzischen Satz des nicht zu Unterscheidenden eine ganze Abhandlung – – –

KALLISTHEN: Um des Himmels Willen, nein! Dieser halbwitzige Schriftsteller hat es kaum verdient, daß man seinen Einwürfen eine Widerlegung entgegen[31] setzt. Ich rede vielmehr von dem Verfasser der Pensées sur la liberté; einem Gelehrten, dem es gewiß an Scharfsinnigkeit nicht fehlt, den Namen eines wahren Weltweisen zu verdienen. Allein an Geduld muß es ihm nothwendig gefehlt haben, seine Einfälle zu zergliedern, und sie bis auf die ersten Gründen der menschlichen Erkenntniß zurück zu führen.

NUMESIAN: Gut, gut, diesen Mangel der Geduld hat er noch mit manchen gemein. Ich selbst habe mich niemals überwinden können, die ganze Ontologie nach der Ordnung mit Aufmerksamkeit zu lesen. Es gehört wirklich eine Art von Selbstverleugnung dazu, von dem steilen ungebahnten Wege, worauf man zur Wahrheit zu gelangen glaubt, zurück zu kehren, um sich auf der Ebene im Gehen zu üben.

KALLISTHEN: Und gleichwohl thut niemand einen sichern Schritt auf der Anhöhe, der sich nicht vorher in der Ebene das Gehen geläufig gemacht hat. – – Eben aus der kleinen Schrift, von der wir jetzt reden, kann ich ihnen einige Exempel anführen, wie leicht die scharfsinnigsten Köpfe, aus Mangel einer hinlänglichen Kenntniß der Ontologie, fehlen können. Sie werden sich unstreitig zu erinnern wissen, was der Verfasser in einer Anmerkung für einen Beweis von dem Satze des nicht zu Unterscheidenden verspricht. Er hält nehmlich dafür, man könne alle einzelne Dinge zu gleicher Zeit als Arten und Geschlechter betrachten. Als Arten, in Ansehung derjenigen Geschlechter, die unmittelbar vor ihnen vorhergehen und die wir wirklich für die untersten Arten angesehen haben. Als Geschlechter hingegen, in Betrachtung ihrer verschiedenen Abänderungen, denen sie unterworfen sind und die wiederum ihre Unterarten haben, und so unendlich fort. Nun sagt er ferner, da es ganz ungereimt sey, zwey vollkommen ähnliche Arten oder Geschlechter in der Natur anzunehmen: so könne dieses eben so wenig von zweyen einzelnen Dingen behauptet werden.

NUMESIAN: Nun? finden Sie denn an diesem Beweise etwas auszusetzen?[32]

KALLISTHEN: Wenn es wahr ist, was dieser Schriftsteller versichert, daß ihn nehmlich diese Gründe lange Zeit vorher auf den Satz des nicht zu Unterscheidenden geführt haben, ehe ihm bekannt war, daß es eine Leibnitzische Weltweisheit gebe; wenn dieses wahr ist, sage ich: so haben wir ein Exempel mehr, wie wenig von der Richtigkeit der Folgerung auf die Wahrheit des Grundsatzes geschlossen werden kann. Denn erstlich ist es falsch, daß ein einzelnes Ding gegen seine Abänderung als ein Geschlecht sollte angesehen werden können. Ein Ding gehört alsdenn erst zu den Individuis, wenn alles was ihm zukommen kann, vollkommen bestimmt ist. So lange noch nicht ausgemacht ist, ob ihm dieses oder jenes zukomme; so lange gehört das Ding noch zu einer Art, oder zu einem Geschlechte, und kann nirgend anders, als in der Einbildung anzutreffen seyn: denn der Begrif einer Art ist etwas allgemeines, dergleichen in der Natur nirgends gefunden wird. Ein jeder aber weis, daß alles an einem Dinge, seine Modificationen nicht ausgenommen, vollkommen bestimmt seyn muß, wenn es wirklich existiren soll. Nun sagen Sie mir einmal, wie hat unser Schriftsteller glauben können, bey einem einzelnen Dinge, einem Dinge, das von allen Seiten her vollkommen determinirt ist, noch Unterarten anzutreffen? Oder hat er irgend behaupten wollen, es wäre nie ein Ding von allen Seiten her bestimmt? Wie ist es denn möglich daß es vorhanden seyn kann?

NUMESIAN: Allein dringen Sie auch unserm Weltweisen nicht eine Definition von Arten und Geschlechtern auf, zu der er sich niemals verstehen dürfte? Sie nehmen die Wolfische Definition von einer Art an; er aber mag vielleicht darunter nichts anders, als eine Menge ähnlicher Dinge zusammen genommen, verstanden haben, ohne daß es nöthig sey, die völlige Bestimmung dieser einzeln Dinge aufzuheben. Sie können immer noch in etwas unterschieden seyn, und dennoch zusammen genommen eine gewisse Art, oder ein gewisses Geschlecht ausmachen.

KALLISTHEN: Gut! Er kann die Worte nehmen, wie er will, die Sache bleibt deswegen immer noch einerley. Ich sage, nach eben dieser Erklärung[33] müssen alle Dinge zu einerley Art gehören, die eben dieselbe Aehnlichkeit mit einander gemein haben; denn ihr besonderer Unterschied kömmt hierbey gar nicht in Betrachtung. Sehen Sie nunmehr, warum es ungereimt ist, zwey vollkommen ähnliche Arten anzunehmen? Allein wie kann man dieses auf zwey einzelne Dinge ziehen? Warum können diese nicht vollkommen einerley Abänderungen haben und in verschiedener Verbindung des Raums und der Zeit existiren? Ich finde zwischen diesen beyden Sätzen nicht die mindeste Verbindung. Zwey Arten können unmöglich in Ansehung des Raums oder der Zeit unterschieden seyn, weil diese bey der Bestimmung der Arten und Geschlechter gar nicht in Betrachtung kommen; warum kann dieses aber nicht von einzelnen Dingen gesagt werden? Jedoch vielleicht hat unser Schriftsteller nur erweisen wollen, es könnten keine zwey vollkommen ähnliche Dinge zu gleicher Zeit und in demselben Räume angetroffen werden? Wenn dieses ist; so hat er vollkommen Recht. Allein alsdenn enthält seine Lehre nichts, als was man Jahrhunderte vor Leibnitzen eingesehen hat, und sie ist noch sehr weit von demjenigen entfernt, was man den Satz des nicht zu Unterscheidenden nennt.

NUMESIAN: Es thut mir wircklich leid, daß ich Ihnen Recht geben muß. Denn da Leibnitz von seinem Lehrsatze keinen Beweis gegeben: so wäre es wircklich zu wünschen, daß die Gründe unsers Schriftstellers eben so richtig als neu wären.

KALLISTHEN: Haben wir nicht Gründe genung, welche die Wahrheit des Lehrsatzes auf eine überzeugende Art darthun? Es ist wahr, Leibnitz scheinet sich einigermassen mit der Erfahrung begnügt zu haben; allein haben es seine Nachfolger an Beweisthümern fehlen lassen? Nichts kann, meinem Urtheile nach, überzeugender seyn, als der Beweis den Wolf davon gegeben. Ja aus der allgemeinen Harmonie aller Dinge fliesset dieser Satz so natürlich, daß man unmöglich diesen bestreiten kann, ohne jene zu läugnen. Denn wenn alles auf das genaueste mit einander verknüpft ist; so können in verschiedener Verbindung des Raums und der Zeit unmöglich zwey vollkommen ähnliche Dinge anzutreffen seyn, ohne daß die gantzen Reihen von beiden Seiten[34] sich vollkommen ähnlich wären. Wie gehet dieses aber an, wenn wir diese beiden Dinge nicht in zwey ähnliche Welten versetzen wollen?

NUMESIAN: Je nun! Wenn es weiter nichts ist; so wollen wir immer zwey ähnliche Welten vorhanden seyn lassen. Wer die Existenz zweyer nicht zu unterscheidender Dinge annimmt; der wird ganz gewis kein Bedenken tragen, auch zwey vollkommen ähnliche Welten für möglich zu halten.

KALLISTHEN: Er mag dieses thun; aber die Leibnizianer werden ihn gantz gewiß auch aus diesem Posten verdrengen. Nichts wird ihnen leichter, als die Unmöglichkeit zweyer Welten, die sich vollkommen ähnlich sind, zu beweisen. Denn entweder werden sie mit einander verknüpft seyn, oder nicht. Sind sie es, so machen sie nicht mehr als eine einzige Welt aus, denn alles gehört durchgehends zu einer einzigen Kette. Sind sie es nicht; so müssen sie entweder in etwas verschieden seyn, oder sie sind sich vollkommen ähnlich. Im ersten Falle kann unmöglich etwas vollkommen ähnliches in beiden Welten anzutreffen seyn; und im letztern sind diese Welten gar nicht von einander zu unterscheiden. Ich meine, sie sind auch nicht einmal durch den Raum, oder durch die Zeit, zu unterscheiden, und ihre Verschiedenheit ist eine blosse Chimäre.

NUMESIAN: Eine blosse Chimäre? Und warum? Heißt dieses nicht den Satz des nicht zu Unterscheidenden voraus setzen, eben da man ihn beweisen sollte?

KALLISTHEN: Ich habe Ihnen schon gesagt, daß zwey ähnliche Dinge, die auch nicht einmal durch den Raum, oder durch die Zeit erkannt und von ein ander unterschieden werden können, Jahrhunderte vor Leibnitzen eben so viel galten, als zwey Dinge, die nicht zwey sind. Man mag einen einzigen Begrif so vielmal voraussetzen, als man immer will, so machen diese Voraussetzungen nur deswegen eine Vielheit aus, weil entweder die eine nach der andern, oder neben[35] der andern gesetzt wird. Was heißt dieses aber anders, als, weil sie in einem verschiedenen Raume, oder zu verschiedenen Zeiten angenommen werden? Hebt man diesen Unterscheid auf, so werden alle diese Begriffe gleichsam zusammen fliessen, und bloß ein einziges Ding ausmachen. Wenn Leibnitz die innere Möglichkeit zweyer ähnlichen Dinge zugesteht; so verstehet er es nur so, daß Gott sich eben dasselbe Ding in verschiedener Verbindung der Zeit, oder des Baumes vorstellen, und auch wirklich hervor bringen könne, wenn er es vermöge seiner unendlichen Weisheit für gut befände.

NUMESIAN: Also kann sich GOtt selbst keine zwey Dinge vorstellen, die nicht entweder einen innerlichen oder wenigstens einen äusserlichen Unterscheid haben?

KALLISTHEN: Eben so wenig, als er sich zwey Dinge vorstellen kann, die nicht zwey sind.

NUMESIAN: Nunmehr, gute Nacht Hazard! – – Oder haben Sie es noch nicht gelesen, was für Mühe sich eben dieser Verfasser in einer neuem Schrift (du Hazard sous l'empire etc.) giebt, den Leibnitzianern ein Ohngefehr aufzudringen, nach welchen ihr GOtt zu wirken genöthiget seyn soll? Nunmehr sind seine rhetorischen Figuren ganz gewiß vergeblich angebracht. Denn die zwey vollkommen ähnlichen Dinge, die er in dem göttlichen Verstande vor der Schöpfung annimt, davon GOtt eines auf Gerathewohl gewehlt haben müßte, können, mit Leibnitzen zu reden, nichts anders seyn, als ein eintziger Begrif, den sich GOtt in verschiedener Verbindung des Baums, oder der Zeit vorgestellt hat. Er hatte also nur zwischen zwey verschiedenen Verbindungen zu wehlen, wobey es unmöglich an Bewegungsgründen gefehlt haben kann, seinen Willen zu bestimmen.

KALLISTHEN: Ich habe diese kleine Premontvalsche Schrift noch nicht gelesen; allein alle Einwürfe dieses Schriftstellers wider die Leibnitzische Weltweisheit, sind fast von gleichem Schlage. Man darf nur die Ontologie ein[36] wenig zu Rathe ziehen, um die Schwäche seiner Gründe vollkommen einzusehen. Der Haupteinwurf, auf welchen er sich in seinen pensées sur la liberté allenthalben stützt, und der wider den Leibnitzischen Unterschied zwischen nothwendigen und zufälligen Wahrheiten, gerichtet ist, ist meines Erachtens nichts als ein spitzfündiger Trugschluß, dessen Blösse man mit leichter Mühe entdecken kann.

NUMESIAN: Und gleichwohl kenne ich so manchen eifrigen Leibnitzianer, den dieser Einwurf in Verlegenheit gesetzt hat. Sie konnten unmöglich einen Unterscheid finden, zwischen der Bedingung, die eine jede mathemathische Warheit voraus setzt und zwischen derjenigen, die zu einer so genannten zufälligen Wahrheit erfordert wird.

KALLISTHEN: Dies könnte vielleicht seyn; denn die eifrigsten Leibnitzianer sind nicht immer diejenigen, die sich seine Gründe am besten zu Nutze zu machen wissen. Der Geist der Parteylichkeit blendet die Augen der scharfsichtigsten Weltweisen. – – Wir werden uns heute nicht lange unterhalten können. Aber doch noch ein Paar Worte! Und mehr braucht es auch nicht als ein Paar Worte, Ihnen zu zeigen, daß sich die ganze Schwierigkeit, die Sie in dieser Lehre zu finden geglaubt, bloß auf einen Mißverstand gründet. Premontval, so wie diejenigen, die seine Gründe nicht zu widerlegen gewußt, haben geglaubt, es wäre zu einer bedingten Warheit genug, wenn man sich des Wörtchens Wenn dabey bedienen könne. Sie haben sich daher billig verwundert, da sie gesehen, sie könnten alle mathematische Warheiten mit einem Wenn ausdrücken. Leibnitzen und Wolfen hingegen würde dieses gar nicht befremdet haben. Sie wußten allzuwohl, daß man einen jeden kategorischen Satz in der Mathematik in einen bedingten verwandeln könne, wenn man die wesentliche Bestimmung, welche das Subject in seiner Unterart bestimt, zu einer Bedingung macht5. Werden aber die Wahrheiten deswegen zufällig? Wir wollen sehen. Ich werde mich des Beyspiels des Herrn von Premontval bedienen. Alle Winkel eines Triangels[37] zusammen sind so viel, als zwey rechte Winckel, oder, um diesen Satz bedingterweise auszudrücken, wenn ein Raum von drey Seiten eingeschlossen wird, so sind etc. Was setzt dieser Lehrsatz voraus? Daß etwa ein Triangel vorhanden sey? Keinesweges! Er setzt nur voraus, daß drey Seiten einen Raum ohne Widerspruch einschliessen können. Diese Warheit ist nothwendig, denn der Begrif eines Triangels enthält nothwendig keinen Widerspruch. Nunmehr zeichnen Sie einen Triangel auf den Tisch, und sagen Sie, dieser Triangel hat drey Winkel, die so viel sind etc. Was setzt nunmehr dieser Satz zum voraus? Ohne Zweifel, daß die Figur, die sie gezeichnet haben, ein Triangel sey. War es aber nothwendig, daß Sie hier einen Triangel zeichneten? Gewiß nein! Denn der Gegensatz: »diese Figur ist kein Triangel«, enthält keinen Widerspruch. Also ist ihr Satz zufällig und nur in einem gewissen Falle wahr. Sie können dieses sehr leicht auf alle Wahrheiten ohne Unterschied anwenden, und daraus den Schluß ziehen, daß ein Satz, welcher eine Möglichkeit voraussetzet, unbedingt und nothwendig sey; denn ein mögliches Ding ist nothwendig möglich, oder was keinen Widerspruch enthält, enthält nothwendig keinen Widerspruch. Hingegen ein Satz, der eine Wirklichkeit voraussetzt, ist nur zufällig wahr. Dieses sind die Grenzen, die den Meßkünstler von dem Naturkündiger scheiden. Jener setzt nur die Möglichkeit gewisser Begriffe voraus, statt daß sich dieser mit den Körpern, so wie sie wirklich sind, beschäftiget.

NUMESIAN: Ich begreife dieses alles sehr wohl. Allein eine einzige Schwierigkeit liegt mir noch im Wege, die ich Sie bitte, mir zu heben. Fließt nicht aus ihrer Erklärung, daß ein jeder Satz, der eine nothwendige Bedingung voraus setzt, nothwendig seyn müsse?

KALLISTHEN: Unwidersprechlich.

NUMESIAN: Nun setzt aber die Existenz dieser Welt eine nothwendige Wahrheit, das Daseyn Gottes, voraus, und dennoch gestehen die Leibnitzianer, daß sie zufällig sey.[38]

KALLISTHEN: Ihr Einwurf würde vollkommen gegründet seyn, wenn diese Welt nichts weiter, als bloß das Daseyn Gottes voraussetzete; allein der Wille Gottes wird eben sowohl dazu erfordert, als sein Daseyn. Sein Wille aber ist nicht nothwendig.[39]


Quelle:
Moses Mendelssohn. Gesammelte Schriften. Band 1, Berlin 1929 ff. [ab 1974: Stuttgart u. Bad Cannstatt].
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Klopstock, Friedrich Gottlieb

Hermanns Schlacht. Ein Bardiet für die Schaubühne

Hermanns Schlacht. Ein Bardiet für die Schaubühne

Von einem Felsgipfel im Teutoburger Wald im Jahre 9 n.Chr. beobachten Barden die entscheidende Schlacht, in der Arminius der Cheruskerfürst das römische Heer vernichtet. Klopstock schrieb dieses - für ihn bezeichnende - vaterländische Weihespiel in den Jahren 1766 und 1767 in Kopenhagen, wo ihm der dänische König eine Pension gewährt hatte.

76 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon