4. Die Naturmenschen

[94] Es kam ein Mann, der die Lehre des göttlichen Landmanns21 verkündete, namens Hü Hing, von Tschu nach Tong. Er kam vor die Tür des Palastes und sagte zu dem Herzog Wen: »Wir sind Leute aus fernen Landen und haben gehört, daß Ihr ein mildes Regiment führet, o Fürst. Wir möchten ein Stück Land überwiesen haben und Eure Untertanen werden.« Der Herzog Wen gab ihm einen Wohnplatz. Er hatte mehrere Dutzend Schüler. Alle trugen sie härene Gewänder und verdienten sich ihre Nahrung durch Klopfen von hänfenen Sandalen und Flechten von Matten.

Ein Jünger des Tschen Liang22 namens Tschen Siang und sein[94] Bruder Sin kamen, mit ihren Ackergeräten auf dem Rücken, von Sung nach Tong und sprachen: »Wir haben gehört, daß Ihr das Regiment eines Heiligen führt, o Fürst. So seid Ihr auch ein Heiliger. Wir möchten eines Heiligen Untertanen werden.«

Tschen Siang besuchte darauf den Hü Hing und war sehr entzückt. Er warf seine ganze Wissenschaft beiseite und ging zu ihm in die Lehre.

Tschen Siang besuchte einst auch den Mong Dsï23 und erzählte ihm Hü Hings Worte, daß der Fürst von Tong wirklich ein würdiger Herr sei, dennoch aber die letzte Wahrheit noch nicht kenne. Ein weiser Fürst müsse ebenso wie sein Volk seine Nahrung durch seiner Hände Arbeit verdienen, er müsse sich sein Frühstück und Abendmahl selbst zubereiten und nebenher noch die Regierung führen. In Tong aber seien staatliche Scheunen, Vorratskammern, Schatzhäuser und Kassen; das heiße das Volk bedrücken, um sich auf seine Kosten zu nähren, und könne nicht weise genannt werden.

Mong Dsï sprach: »Dann pflanzt also sicher der Herr Hü sein Korn selber, ehe er ißt.«

Die Antwort war: »Ja.«

»Dann webt der Herr Hü also sicher sein Tuch selber, ehe er sich kleidet.«

Die Antwort war: »Nein, Herr Hü trägt Wolle.«

»Und trägt Herr Hü einen Hut?«

Antwort: »Ja, er trägt einen Hut.«

»Was für einen Hut trägt er?«

»O, einen ganz einfachen.«

»Hat er ihn selbst gewoben?«

»Nein, er hat ihn für Korn eingetauscht.«

»Warum hat denn Herr Hü ihn nicht selbst gewoben?«

»Es hätte ihn am Landbau gehindert.«

»Und gebraucht Herr Hü Kessel und Töpfe zum Kochen und eine eiserne Pflugschar zum Pflügen?«

»Ja.«

»Hat er sie selbst gemacht?«

»Nein, er hat sie für Korn eingetauscht.«

»Wenn einer, der für Korn Geräte eintauscht, nicht den Töpfer und Gießer bedrückt, wie will man denn behaupten, daß die Töpfer und Gießer, die für ihre Geräte Korn eintauschen, den Landmann bedrücken? Warum richtet denn Herr Hü nicht eine Töpferei und Gießerei ein, so daß er für seinen Bedarf nur auf[95] sein eignes Haus angewiesen ist? Warum treibt er denn mit Handwerkern aller Art einen unablässigen Handels- und Tauschverkehr? Warum scheut er nicht die damit verknüpften Beschwerden?«

»Die Arbeit der Handwerker läßt sich eben nicht vereinigen mit dem Landbau.«

»So? Dann ist also die Ordnung der Welt das einzige Handwerk, das sich mit dem Landbau vereinigen läßt? – Die Arbeiten der höheren Klasse sind andere als die des gemeinen Volks. Außerdem hat jeder einzelne Mensch Bedürfnisse, zu deren Befriedigung die verschiedensten Handwerke nötig sind. Wenn nun jeder alles selber sich beschaffen müßte, was er braucht, das hieße die ganze Welt beständig auf den Straßen umherrennen lassen.

Darum heißt es: Es gibt Geistesarbeiter und Handarbeiter. Die Geistesarbeiter halten die andern in Ordnung, und die Handarbeiter werden von den andern in Ordnung gehalten. Die von den andern in Ordnung gehalten werden, nähren die andern. Die die andern in Ordnung halten, werden von diesen ernährt. Das ist eine durchgehende Pflicht auf der ganzen Welt.

In den Zeiten des Yau war das Land unter dem Himmel noch nicht geregelt. Sintfluten strömten regellos und überschwemmten alles Land unter dem Himmel. Büsche und Bäume wuchsen als Urwälder. Vögel und Tiere mehrten sich zahllos. Kein Korn konnte wachsen. Vögel und Tiere bedrängten die Menschen. Der Tiere Fährten und der Vögel Spuren durchzogen kreuz und quer das mittlere Reich. Yau allein nahm sich's zu Herzen. Er erhob den Schun, und Ordnung wurde verbreitet. Schun befahl dem J, das Feuer zu handhaben. J legte Feuer an die Berge und Dschungeln und verbrannte die Urwälder. Da flohen die Tiere und Vögel und zogen sich zurück.

Yü trennte die Läufe der neun Flüsse, regulierte das Bett der Flüsse Dsi und To und führte ihre Wasser dem Meere zu. Er reinigte den Lauf des Ju und Han und öffnete den Lauf des Huai und Sï und leitete sie in den großen Strom (Giang). Dadurch erst wurde das Reich der Mitte ein Land, das seine Bewohner ernährte. Zu jener Zeit war Yü acht Jahre auswärts, dreimal kam er an seiner Tür vorbei und hatte nicht Zeit einzutreten. Selbst wenn er das Land hätte bestellen wollen, hätte er's denn gekonnt?

Der Hirse-Herr24 lehrte die Leute das Säen und das Ernten, das Pflanzen und Pflegen der fünf Kornarten25. Das Korn wurde reif, und das Volk hatte zu essen.[96]

Es geht den Menschen also: wenn sie genügende Nahrung, warme Kleidung und behagliche Wohnung haben, aber keine Unterweisung, so werden sie wie die Tiere des Feldes. Das tat den Heiligen leid, und sie ernannten den Siä26 zum Lehrmeister. Er unterwies das Volk in den Verpflichtungen der Menschen, daß zwischen Vater und Sohn die Liebe ist, zwischen Fürst und Diener die Pflicht, zwischen Mann und Frau der Unterschied der Gebiete der Tätigkeit, zwischen Alt und Jung der Abstand, zwischen Freund und Freund die Treue.

Yau, der Hochverdiente, sprach: ›Ermutige sie, locke sie an, bring sie zurecht, mach' sie gerade, hilf ihnen, beflügle sie, laß sie selbst das Rechte finden und gehe ihnen nach, ihren Geist anfeuernd.‹ Also waren die Heiligen um das Volk besorgt. Wo hätten sie da Zeit hernehmen sollen, um das Land zu bestellen? Die Sorge Yaus war es, einen Mann zu bekommen wie Schun, die Sorge Schuns war es, Männer zu bekommen wie Yü und Gau Yau. Besorgt sein, seine hundert Morgen in Ordnung zu halten: das ist Sache des Bauern. Mit andern Menschen seine Güter teilen, ist Freundlichkeit, die Menschen im Guten unterweisen, ist Gewissenhaftigkeit, den rechten Mann bekommen für die ganze Welt: das ist vollkommene Güte. Darum ist es leichter, die Welt einem andern zu übergeben, als für die Welt den rechten Mann zu finden27.

Meister Kung sprach28: ›Groß wahrlich ist die Art, wie Yau Herrscher war. Nur der Himmel ist groß, nur Yau hat ihm entsprochen. Überströmend war er, so daß das Volk keinen Namen finden konnte. Ein Edler wahrlich war Schun. Erhaben ist die Art, wie er die Welt besaß, ohne etwas dazu zu tun.‹

Yau und Schun hatten die Welt in Ordnung zu bringen; hatten sie da etwa nicht genug Betätigung für ihre Gedanken? Wahrlich, sie hatten es nicht nötig, sich auch noch zu betätigen beim Ackerbau!

Ich habe gehört, daß man Barbaren29 zur chinesischen Kultur bekehren kann: ich habe nie gehört, daß man sich von den Barbaren bekehren lassen müsse. Tschen Liang, Euer Meister, war aus dem südlichen Staate Tschu gebürtig, aber er fühlte sich angezogen von den Lehren eines Fürsten von Dschou und eines Meister Kung. So kam er hierher nach Norden, um zu lernen im Reich der Mitte. Und vielleicht war unter den Gelehrten im Norden keiner, der ihn übertraf. Er war wirklich, was man einen rechten Helden nennt. Ihr und Euer Bruder hattet Euch ihm[97] mehrere Jahrzehnte lang angeschlossen. Nun der Meister tot ist, habt Ihr ihn verlassen.

Damals, als Meister Kung verschieden war, da ordneten die Schüler nach Ablauf der dreijährigen Trauerzeit ihr Gepäck, um heimzukehren. Als sie von Dsï Gung Abschied nahmen, da sahen sie sich an und begannen zu weinen, bis ihnen die Stimme versagte; dann kehrten sie heim. Dsï Gung aber kehrte zum Grab zurück und baute sich auf dem Friedhof eine Hütte und blieb allein noch drei Jahre da, ehe er heimkehrte.

Ein andermal wollten Dsï Hia, Dsï Dschang und Dsï Yu, da sie den Yu Jo30 dem Heiligen ähnlich fanden, diesem dienen, wie sie einst Meister Kung gedient. Und sie wollten auch Meister Dsong dazu nötigen. Meister Dsong aber sprach: ›Es geht nicht an! Was gewaschen ist in den Strömen Giang und Han, was gebleicht ist in der Herbstsonne, das ist so glänzend, daß es von nichts übertroffen werden kann.‹

Nun kommt da ein krächzender Südbarbar, der den Weg der heiligen Könige verwirft, und Ihr wendet Euch ab von Eurem Lehrer und geht zu jenem in die Lehre. Das ist allerdings etwas anderes, als was Meister Dsong getan. Ich habe gehört, daß man aus finsterem Tal sich hervormacht, um auf eine luftige Höhe zu kommen. Aber ich habe noch nie gehört, daß einer von seiner luftigen Höhe herabsteigt, um finstere Täler aufzusuchen. In den Lobliedern von Lu31 heißt es:


›Die Jung, die Di zur Zucht zu führen,

Ging, Schu zu zücht'gen nach Gebühren.‹


Der Fürst von Dschou also hätte jenen bekämpft, Ihr aber geht zu ihm in die Lehre, da habt Ihr allerdings keinen guten Tausch gemacht.«

Tschen Siang erwiderte: »Wenn man Meister Hüs Lehren folgt, so wird es keine zweierlei Preise auf dem Markt mehr geben und im ganzen Reiche keine Fälschung mehr. Dann kann man einen fünf Hand großen Knaben auf den Markt schicken, und niemand betrügt ihn. Leinwand- und Seidenstücke von gleicher Länge hätten denselben Preis. Hanfzwirn und Seidenstränge von gleicher Schwere hätten denselben Preis. Die fünf Getreidearten in gleicher Menge hätten denselben Preis. Die Schuhe von gleicher Größe hätten denselben Preis.«

Mong Dsï erwiderte: »Es liegt in der Natur der Dinge, daß sie verschieden sind. Es gibt Dinge, die um das doppelte, um das[98] zehn- und hundertfache, um das tausend- und zehntausendfache wertvoller sind als andre. Sie alle einander gleich zu machen, heißt die Welt in Verwirrung bringen. Wenn die großen Schuhe denselben Preis haben wie die kleinen, wer wird da noch welche machen wollen? Den Lehren des Meisters Hü folgen, heißt einander anführen zum Betrug. Wie will man damit einen Staat in Ordnung bringen?«

Quelle:
Mong Dsï: Die Lehrgespräche des Meisters Meng K'o. Köln 1982, S. 94-99.
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