3. Wie Schun seinen Bruder behandelte

[138] Wan Dschang fragte: »Siang war täglich darauf aus, den Schun zu töten. Als dieser zum Herrn der Welt eingesetzt ward, da habe er (sagt man) ihn in Gewahrsam getan. Wie steht es damit?«

Mong Dsï sprach: »Er gab ihm ein Lehen; vielleicht kann man auch sagen, daß er ihn in Gewahrsam getan hat.«

Wan Dschang sprach: »Schun verbannte den Gung Gung5 in das Land der Finsternis, er tat den Huan Dou in Gewahrsam auf dem Gespensterberg, er tötete den Fürsten von San Miau auf den drei Klippen und setzte den Kun6 auf dem Flügelberg gefangen. Die ganze Welt war mit der Bestrafung dieser vier einverstanden, da es schlechte Menschen waren, die beseitigt wurden. Nun war[138] Siang der Allerschlechteste, und doch belehnte Schun ihn mit Yu Bi. Was hatten denn die Leute von Yu Bi verschuldet? Handelt ein gütiger Mann also, daß, wenn es sich um andere Leute handelt, er sie beseitigt, wenn es sich aber um seinen Bruder handelt, ihn belehnt?«

Mong Dsï sprach: »Ein gütiger Mann steht so zu seinem Bruder, daß er ihm nichts nachträgt und keinen Groll gegen ihn hegt. Er liebt ihn einfach und hat ihn gern. Wen man liebt, dem wünscht man Ehre; wen man gern hat, dem wünscht man Reichtum. Darum belehnte er ihn mit Yu Bi, um ihn geehrt und reich zu machen. Wäre das ein liebevoller Bruder, der, selber der Herr der Welt, es duldete, daß sein Bruder in untergeordneter Stellung lebt?«

Wan Dschang sprach: »Darf ich fragen, was das bedeutet: ›Vielleicht kann man auch sagen, daß er ihn in Gewahrsam getan hat‹?«

Mong Dsï sprach: »Siang hatte keine Freiheit des Handelns in seinem Land. Schun, der Herr der Welt, hatte seinen Dienern befohlen, für ihn das Land zu verwalten, für ihn Abgaben und Steuern einzuziehen. Deshalb kann man sagen, er habe ihn in Gewahrsam gehalten. Denn er durfte es doch nicht geschehen lassen, daß jene Untertanen bedrückt wurden. – Aber dennoch wünschte er ihn häufig bei sich zu sehen, und jener kam unablässig. Darauf bezieht sich die Stelle: ›Nicht nur wenn Abgaben zu bringen oder Verwaltungsgeschäfte zu erledigen waren, empfing er den Fürsten von Yu Bi7.‹«

Quelle:
Mong Dsï: Die Lehrgespräche des Meisters Meng K'o. Köln 1982, S. 138-139.
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