1. Falsche Vergleiche

[171] Ein Mann aus Jen fragte den Schüler Wu-Lu Dsï1: »Was ist wichtiger: der Anstand oder die Nahrung?«

Wu-Lu Dsï sagte: »Der Anstand ist wichtiger.«

Jener fuhr fort: »Was ist wichtiger: der Anstand oder die Befriedigung des Geschlechtstriebs?«

Der Jünger sprach: »Der Anstand ist wichtiger.«

Da sprach jener: »Wenn du Hungers sterben müßtest, falls du nur mit Anstand essen wolltest, aber zu essen bekämst, wenn du nicht mit Anstand essen wolltest: würdest du dann auf dem Anstand bestehen?

Wenn du keine Frau bekämst, falls du die Anstandsregel, sie selbst abzuholen, befolgen wolltest, aber eine Frau bekämst, wenn du sie nicht selbst abholen wolltest: würdest du darauf bestehen, sie selbst abzuholen?«

Wu-Lu Dsï konnte darauf nichts entgegnen.

Am andern Tag ging er nach Dsou, um es Mong Dsï zu erzählen.

Mong Dsï sprach: »O, das ist doch nicht schwer, eine Antwort darauf zu geben! Wenn man zwei Dinge nicht auf denselben Boden stellt und nur die oberen Enden vergleicht, so kann man ein zollgroßes Stückchen Holz einen Dachfirst überragen lassen. Gold ist schwerer als Federn, aber damit ist nicht gesagt, daß eine goldene Gürtelspange schwerer sei als ein ganzer Wagen voll Federn. Wenn man das dringendste Bedürfnis nach Nahrung mit der unwichtigsten Anstandsregel zusammenhält, da ist natürlich die Nahrung weit wichtiger. Wenn man die wichtigste Befriedigung des Geschlechtstriebs mit der unwichtigsten Anstandsregel zusammenhält, da ist natürlich die Befriedigung des Geschlechtstriebs weit wichtiger. Geh hin und entgegne ihm: Wenn du deinem älteren Bruder den Arm verrenken und ihm sein Essen wegreißen müßtest, um essen zu können, aber nichts zu essen hättest, wenn du deinem Bruder den Arm nicht verrenktest: würdest du ihm dann seinen Arm verrenken? Wenn du deinem Nachbar über die Mauer steigen und seine jungfräuliche Tochter wegschleppen müßtest, um ein Weib zu bekommen, aber kein Weib bekämst, wenn du sie nicht wegschlepptest: würdest du sie dann wegschleppen?«

Quelle:
Mong Dsï: Die Lehrgespräche des Meisters Meng K'o. Köln 1982, S. 171.
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