3. Echte Kindesliebe ist nicht gleichgültig, doch bescheiden

[172] Gung-Sun Tschou fragte den Mong Dsï und sprach: »Der Meister Gau4 sagt, das Lied Siau Pan5 – in dem ein Sohn sich über[172] ungerechte Behandlung seines Vaters und seiner Stiefmutter beklagt – sei von einem gemeinen Manne gemacht.«

Mong Dsï sprach: »Warum sagt er so?«

Der Schüler sprach: »Weil der Sohn murre.«

Mong Dsï sprach: »Der alte Gau ist wirklich beschränkt in seiner Behandlungsweise der Lieder. Angenommen, hier sei ein Mann6, nach dem ein Fremder seinen Bogen spanne, um ihn zu schießen, so wird er ihn davon abzuhalten suchen mit freundlichen und ruhigen Worten – aus keinem anderen Grund, als weil er ihm ferne steht. Wenn aber sein Bruder nach ihm den Bogen spannte, um ihn zu schießen, so würde er ihn abzuhalten suchen unter Tränen und Klagen – aus keinem andern Grund, als weil er ihm so nahe steht. Aus dem Groll jenes Liedes spricht die Liebe zu den Eltern. Die Liebe zu den Eltern ist reinste Liebe. Er ist beschränkt, dieser alte Gau, wie er mit den Liedern umgeht!«

Der Schüler sprach: »Wie kommt es dann, daß im Kai-Fong-Lied7 – wo sieben Söhne die Schuld an dem Verlassen des Witwenstandes durch ihre Mutter sich selbst zuschreiben – kein Groll zum Ausdruck kommt?«

Mong Dsï sprach: »Das Unrecht der Mutter in dem Kai-Fong-Lied war klein. Das Unrecht der Eltern im Siau-Pan-Lied war groß. Wenn der Eltern Unrecht groß ist und man grollt nicht, so ist das Gleichgültigkeit. Ist der Eltern Unrecht klein und man grollt, so ist das Reizbarkeit. Die Gleichgültigkeit ist gegen die kindliche Liebe, und Reizbarkeit ist ebenso gegen die kindliche Liebe.

Meister Kung sprach: ›Schun hat es doch am weitesten gebracht in der Kindesliebe: mit fünfzig Jahren noch hing er an seinen Eltern.‹«

Quelle:
Mong Dsï: Die Lehrgespräche des Meisters Meng K'o. Köln 1982, S. 172-173.
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