Neunter Abschnitt.
Das am Anfang Befindliche.

[58] Frage: Es sind Leute, die sagen:

Auge, Ohr u.dgl. Sinne (indriya), Leid, Freude u.dgl. dharmas: wer solche Sachen hat, heißt eben »vorher befindlich«. (IX. 1.)

Wenn nicht Vorher-Befindliches ist, wer hat (dann) Auge u.dgl. dharmas? Weil es so ist, wird man erkennen: vorher schon ist zu Anfang Befindliches. (IX. 2.)

Auge, Ohr, Nase, Zunge, Körper, Leben u.dgl. Sinne (indriya) heißen »Auge, Ohr u.dgl. Sinne«; Leid-annehmen (duḥkha-upādāna), Freude-annehmen (sukha-upādāna), Nicht Freude-, Nicht-Leid-annehmen, vorstellen (saṃjñā), denken (cetanā), sich erinnern (und) nachdenken (smṛti) und die anderen Gedanken (citta) und gedankenartigen (caitasika) Zustände (dharma) heißen »Leid, Freude u.dgl. dharmas«. Einige śāstra-Lehrer sagen: »Ehe Auge u.dgl. dharmas sind, muß ein zu Anfang Befindliches sein. Durch dieses zu Anfang Befindliche können Auge u.dgl. Sinne wachsen und groß werden. Wenn nicht ein zu Anfang Befindliches ist, durch wen können Leib (kāya) und Auge, [Ohr]1 u.dgl. Sinne entstehen und wachsen?«

Antwort:

Wenn ohne Augen u.dgl. Sinne, und Leid, Freude u.dgl. dharmas vorher ein zu Anfang Befindliches ist, durch was ist es denn zu erkennen? (IX. 3.)

Wenn ohne Auge, Ohr u.dgl. Sinne, Leid, Freude u.dgl. dharmas vorher ein zu Anfang Befindliches ist, durch was ist es zu lehren, durch was zu erkennen? Wie die äußeren dharmas Krug, Tuch usw. durch Auge u.dgl. Sinne erkannt werden können, die inneren dharmas durch Leid, Freude u.dgl. Sinne[59] (indriya) erkannt werden können. Wie im sūtra gelehrt wird: »Zu vernichten ist die Erscheinungs-Eigenschaft (rūpa-lakṣaa); (man) kann die Annehmens-Eigenschaft (upādāna-lakṣaa) annehmen; man kann die Bewußtseins-Eigenschaft (vijñāna-lakṣaa) wahrnehmen.« Ihr lehrt: ohne Auge, Ohr, Leid, Freude u.dgl. ist vorher ein zu Anfang Befindliches: wodurch ist zu erkennen, (was) gelehrt (wird): »Es ist dieser dharma«?

Frage: śāstra-Lehrer sagen: Ausgehender (und) eingehender Atem, Sehen, Augenrollen, Leben, Nachdenken, Überlegen, Leid, Freude, Haß, Liebe, Bewegen, Springen usw.: diese sind Eigenschaften (lakṣaa) des Selbstes (ātman). Wenn ātman nicht ist, wie ist Ausatmen, Einatmen u.dgl. Eigenschaften (lakṣaa)? Deshalb wird man erkennen:. ohne Auge, Ohr u.dgl. Sinne, Leid, Freude u.dgl. dharmas ist vorher (ein) zu Anfang Befindliches.

Antwort: Dieser ātman, wenn er ist, wäre innerhalb des Körpers wohnend, wie innerhalb der Mauer ein Pfeiler ist. Wenn außerhalb des Körpers wohnend, (wäre es) wie ein Mann, (der) eine Rüstung anlegt. Wenn er sich innerhalb des Körpers befindet, dann ist der Körper nicht (zu verletzen,)2 zu zerstören, weil der ātman sich immer innen befindet. Deshalb zu sagen: »Der ātman befindet sich innerhalb des Körpers« ist nur Wort (und) Sprechen: falsch (und) ohne Wesen. Wenn außerhalb des Körpers befindlich, so deckt er den Körper, wie eine Rüstung, der Leib wäre nicht sichtbar. Da der ātman fein und dicht deckt, kann man ihn (sc. den Leib) auch nicht (verletzen)3 und zerstören, aber tatsächlich sieht man jetzt den Körper zerfallen. Deshalb wird man erkennen: Ohne Leid (und) Freude u.dgl. sind vorher nicht die übrigen dharmas. Wenn man sagt: »Zur Zeit des Abschneidens des Arms befindet sich der ātman, sich zurückziehend, innen; er ist nicht abschneidbar«, so wäre auch zur Zeit des Kopfabschneidens ein Zurückziehen nach innen, (und) es wäre nicht Tod. Aber tatsächlich ist Tod. Deshalb erkennt man: »Ohne Leid, Freude u.dgl. ist ātman vorher« ist nur eine Lehrbehauptung, falsch, nicht tatsächlich.

Ferner: Wenn (einer) sagt: »(Ist der) Körper groß, dann (ist) ātman groß; ist der Körper klein, so ist ātman klein. Wie wenn das Licht groß ist, dann die Helle groß ist, wenn das Licht klein[60] ist, dann die Helle klein ist. So eben folgt ātman dem Körper«: nicht wäre er ewig, wenn er dem Körper folgte. (Wenn) der Körper nicht ist, dann ist [auch]4 ātman nicht: wie, wenn das Licht vergeht, die Helle vergeht. Wenn ātman nicht ewig ist, dann ist es mit Auge, Ohr, Leid, Freude u.dgl. ebenso. Deshalb wird man erkennen: Ohne Auge, Ohr u.dgl. ist vorher nicht ātman besonders. Ferner: Wie Verrückte (und) Kranke Freisein nicht erreichen (und) tun, was man nicht tun soll. Wenn ātman ist, so werden alle diese zu Herrschern. Wie (kann man da) sagen: »Sie erreichen nicht Freiheit«? Wenn Verrückte (und) Kranke nicht den ātman belästigen, dann würde ohne ātman besonders sein, was (sie) tun. So auf verschiedene Weise gesucht, ist ohne Auge, Ohr u.dgl. Sinne, Leid, Freude u.dgl. dharmas vorher nicht ein zu Anfang Befindliches. Wenn trotzdem gesagt wird: »Ohne Auge, Ohr u.dgl. Sinne, Leid, Freude u.dgl. dharmas ist [vorher]5 ein zu Anfang Befindliches«, so ist diese Sache nicht (richtig). Weshalb? [Wenn diese (zuträfe):]6

Wenn ohne Auge, Ohr u.dgl. trotzdem ein zu Anfang Befindliches ist, so würde auch ohne ein zu Anfang Befindliches trotzdem Auge, Ohr u.dgl. sein. (IX. 4.)

Wenn das zu Anfang Befindliche, ohne Auge, Ohr u.dgl. Sinne, Leid, Freude u.dgl. dharmas vorher seiend, jetzt Auge, Ohr u.dgl. Sinne, Leid, Freude u.dgl. dharmas hat, so würden sie auch ohne zu Anfang Befindliches doch sein.

Frage: Zwei Sachen gegenseitig zu trennen, ist möglich, nur lasse das zu Anfang Befindliche sein.

Antwort:

Durch den dharma wird der Mensch erkannt, durch den Menschen wird der dharma erkannt. Wie ist ohne dharma der Mensch? Wie ist ohne Menschen der dharma? (IX. 5.)

dharma ist Auge, Ohr, Leid, Freude u.dgl., Mensch ist dieses vorher Befindliche. Ihr sagt: »Weil dharma ist, wird der Mensch erkannt; weil der Mensch ist, wird der dharma erkannt.« Wie[61] ist jetzt ohne Auge, Ohr u.dgl. dharmas der Mensch? Wie sind ohne Menschen Auge, Ohr u.dgl. dharmas? Ferner:

Alle Sinne (indriya), wie Auge u.dgl., sind tatsächlich nicht mit einem zu Anfang Befindlichen. Auge, Ohr u.dgl. Sinne werden vielmehr durch Verschiedenheit der lakṣaṇas (Merkmale) unterschieden. (IX. 6.)

Auge, Ohr u.dgl. Sinne, Leid, Freude u.dgl. dharmas sind tatsächlich nicht mit vorher Befindlichem. Abhängig vom Auge, sich beziehend auf rūpa, entsteht visuelles Bewußtsein (cakṣu-vijñāna). Durch des Zusammenseins Ursachen und Bedingungen (hetu-pratyaya) erkennt man Auge, Ohr u.dgl. Sinne, (aber) nicht wegen des vorher Befindlichen erkennt man (sie). Deshalb ist im śloka gelehrt: »Alle Sinne, wie Auge, [Ohr]7 u.dgl., sind tatsächlich nicht mit vorher Befindlichem. Auge, Ohr u.dgl. Sinne können jeder selbst unterschieden (werden).«

Frage:

Wenn (vor) Auge u.dgl. Sinnen nicht ein vorher Befindliches ist, wie kann das Auge usw., jeder einzelne Sinn die Sinnesbereiche (gocara) erkennen? (IX. 7.)

Wenn (vor) allen Sinnen, wie Auge, Ohr u.dgl., dharmas, wie Leid, Freude u.dgl., nicht ein vorher Befindliches ist, wie kann jetzt jeder einzelne Sinn die Sinnesbereiche (gocara) erkennen? Auge, Ohr u.dgl. Sinne würden nicht ohne Überlegung erkennen, aber tatsächlich erkennen sie die Sinnesbereiche (gocara). (Falls) man ohne Auge, Ohr u.dgl. Sinne erkennt, dann wiederum kann man die gocaras erkennen.

Antwort: Wenn (es) so (ist), dann ist entweder in jedem einzelnen Sinn einzeln der Erkenner, oder ein Erkenner wohnt in den Sinnen (indriya). Alles beide ist fehlerhaft. Weshalb?

Der Sehende eben ist der Hörende, der Hörende ist der Aufnehmende; solche Sinne eben wären vorher befindlich. (IX. 8.)

Wenn der Sehende eben der Hörende ist, und der Hörer8 eben der Aufnehmende ist, dann wäre ein ātman. So würden Auge u.dgl. Sinne früher sein (als) der vorher Befindliche. Visuelle Erscheinung (rūpa), Ton (śabda), Geruch (gandha) usw. sind nicht wirklich der Erkenner. Vielleicht würde er durch das[62] Auge den Ton hören, wie ein Mensch in9 sechs Richtungen seinem Willen und Denken nach sieht und hört. Wenn Hörer (und) Seher einer sind, dann sieht und hört er durch das Auge u.dgl. Sinne seinem Willen nach. Nur ist diese Sache nicht richtig.

Wenn Sehen (und) Hören jedes verschieden, der Wahrnehmer auch für sich verschieden, so wäre auch zur Sehenszeit Hören, so wären dann viele Selbste (ātman). (IX. 9.)

Wenn Seher, Hörer, Wahrnehmer (vedaka): jeder ein anderer (wäre), dann10 wäre zur Zeit des Sehens auch Hören. Weshalb? Weil ohne Seher der Hörende ist. So wäre in Geruch, Geschmack, Tastsinn (eig. »Leib«) das Selbst (ātman) zu gleicher (eig. »einer«) Zeit handelnd. Wenn so, dann ist der Mensch einer, aber ātmans viele. Weil alle Sinne zu einer Zeit die Sinnesbereiche (gocara) erkennen.11 Aber tatsächlich ist es nicht so. Deshalb würden der Seher, Hörer, Aufnehmer (vedaka) nicht zusammen tätig sein. Ferner:

Auge, Ohr u.dgl. Sinne, Leid, Freude u.dgl. dharmas: die Großen (d.i. die Elemente), durch die sie entstehen, jene Großen auch sind nicht (mit) ātman. (IX. 10.)

Wenn jemand sagt: »Ohne Auge, Ohr u.dgl. Sinne, Leid, Freude u.dgl. dharmas ist besonders das vorher Befindliche«, so ist diese Sache früher schon widerlegt. Jetzt die vier Großen auch, von welchen Auge, Ohr usw. abhängig sind: in diesen12 Großen auch ist nicht das vorher Befindliche.

Frage: Wenn Auge, Ohr u.dgl. Sinne, Leid, Freude u.dgl. dharmas nicht mit vorher Befindlichem sind, (so) ist es möglich. Auge, Ohr u.dgl. Sinne, Leid, Freude u.dgl. dharmas würden (doch) sein.

Antwort:

Wenn Auge, Ohr u.dgl. Sinne, Leid, Freude u.dgl. dharmas nicht mit vorher Befindlichem sind, dann wären auch Auge usw. nicht. (IX. 11.)[63]

Wenn Auge, Ohr, Leid, Freude u.dgl. dharmas nicht mit vorher Befindlichem sind, wer hat diese Auge, Ohr usw.? Wovon abhängig ist (ihr) Sein? Deshalb sind auch Auge, (Ohr)13 usw. nicht. Ferner:

(Vor) Auge usw. ist nicht ein vorher Befindliches, jetzt, später auch ferner nicht; da es in den drei Zeiten nicht ist, sind nicht Seins- (und) Nichtseins-Unterscheidungen (kalpanā). (IX. 12.)

Mit Überlegung gesucht ist ein vorher Befindliches vor den Sinnen nicht; jetzt, später auch nicht. Wenn es in den drei Zeiten (eig. Welten) nicht ist, dann ist Nicht-Entstehen, das nirvāna. Es wäre nicht schwer (erreichbar). Wenn nicht das vorher Befindliche ist, wie ist Auge, [Ohr]14 usw.? So vergeht das Gerede (prapañcana) von Frage und Antwort; da das Gerede (prapañcana) aufhört, sind alle dharmas eben leer.

1

Fehlt TE.

2

Nach TE. zu tilgen.

3

Nach TE. zu tilgen.

4

Nach TE. zu tilgen.

5

Nach TE. zu tilgen.

6

Nach TE. zu tilgen.

7

Fehlt TE.

8

KE.: »Seher- (und -) Hörer«.

9

Nach KE.

10

KE.: »wenn«.

11

Nach TE. besser: »Alle Sinne erkennen zu einer Zeit die Sinnesbereiche«.

12

TE. ergänzt »vier«.

13

Zusatz der TE.

14

Fehlt TE.

Quelle:
Die mittlere Lehre des Nāgārjuna. Heidelberg 1912, S. 58-64.
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