Hinsichtlich der Autorschaft des dem Cuṅ-lun zugrunde liegenden indischen Originales wäre zunächst festzustellen, ob nicht etwa schon innere Indizien eine bestimmte Form der Beantwortung jener Frage nahelegten. Vor allem läßt sich ein Vergleich mit dem ältesten Kommentar, der Akutobhayā des Nāgārjuna, ohne weiteres anstellen, indem die tibetische Übersetzung desselben sich im Tanjur erhalten hat und jetzt auch in einer deutschen Übertragung vorliegt. Hier sind denn der Übereinstimmungen so viele und so auffallende, daß man eine Beeinflussung nach der einen oder anderen Seite wohl nicht bezweifeln kann. Es genügt, zu diesem Zwecke den Kommentar zur Eingangsstrophe in den beiden Versionen zu vergleichen. Wenn wir in Betracht ziehen, daß die älteren chinesischen Übersetzer vielfach durchaus selbständig verfahren sind, daß zumal Kumārajīva wiederholt, so namentlich in seiner Übertragung des dem Nāgārjuna zugeschriebenen Kommentars zur Śatasāhasrikā-prajñāpāramitā, den Text vollkommen frei bearbeitet hat, wird man unter allen Umständen die Möglichkeit offen halten müssen, daß das chinesische Mādhyamika-śāstra eine von Kumārajīva selbst angefertigte mehr oder weniger freie Version des ältesten Kommentars des Nāgārjuna ist, als welche ich es auch schon gelegentlich bezeichnet habe.1
Immerhin ist zu beachten, daß in der gleichfalls von Kumārajīvä übersetzten Lebensbeschreibung des Nāgārjuna2 die Akutobhayā als ein von Nāgārjuna verfaßter Kommentar zu den Mādhyamika-kārikās ausdrücklich namhaft gemacht wird3, und zwar[9] in einer Weise, die vermuten läßt, daß Kumārajīva diesen Kommentar nicht selbst gesehen hat und ihn jedenfalls nicht als identisch mit dem von ihm übertragenen Cuṅ-lun betrachtet. Und hiermit gewinnt denn die entgegenstehende Auffassung, daß nämlich das Original des Cuṅ-lun nicht der Kommentar des Nāgārjuna, sondern irgendeines anderen Bearbeiters gewesen ist, an Wahrscheinlichkeit.
Als solchen nennt nun die von Shih-săṅ-zhui verfaßte ältere der zwei Vorreden zum Cuṅ-lun, die übrigens auch schon in dem um 520 n. Chr. von Saṅ-yiu verfaßten Katalog des Tripiṭaka enthalten ist4, einen Brahmanen5 »Pin-lo-chié«. Denn dieses ist die ursprüngliche und allen älteren Ausgaben gemeinsame Lesart, und nicht die zuerst von der Tokio-Ausgabe adoptierte und aus dieser in die neue Kioto-Ausgabe übergegangene Lesung »Pin-chié-lo« mit Umstellung des zweiten und dritten Schriftzeichens.6
Diese letztere »modifizierte« Lesart würde nun ohne weiteres »Piṅgala« als den Namen des indischen Verfassers erschließen, lassen, wie ihn denn auch Suzuki im Journ. Buddh. Text Soc., vol. VI, part 4, p. 29, wiedergegeben hat7, da sie aber tatsächlich nur eine Konjektur der Herausgeber der Tokio-Ausgabe von 1881[10] darstellt, wird man gegenüber dem übereinstimmenden Zeugnis der älteren Ausgaben ihr keinen besonderen Wert zuschreiben dürfen.
Man wird vielmehr, wie schon Takakusu JRAS. 1903, p. 182, bemerkt hat, die dem transkribierten indischen Namen »Pin-lo-chié« beigefügte chinesische Wiedergabe »Tsiṅ-mu«, d.h. der »Blauäugige«, für die Rekonstruktion des ursprünglichen Namens in Betracht ziehen müssen. Takakusu hat nun schon a.a.O. darauf hingewiesen, daß ssk. piṅgala nicht »blau«, sondern »tawny«, d.i. »rötlichbraun« bedeutet, und die Vermutung ausgesprochen, daß »the ›Blue-eyed‹ is a name of Candrakīrti, the actual author of the Sanskrit vṛtti who is otherwise styled as Ārya Deva«. Daß allerdings Professor Takakusu heute noch an dieser Auffassung festhält, ist nicht eben wahrscheinlich, indem die wenn auch nicht sehr bedeutenden Fortschritte, welche die buddhistische Forschung in den letzten Jahren gemacht hat, doch wenigstens soviel mit Bestimmtheit haben erkennen lassen, daß Candrakīrti nicht mit Āryadeva identisch ist und keinesfalls der Verfasser eines Kommentars sein kann, der um Jahrhunderte älter ist als der von Candrakīrti verfaßte Kommentar Prasannapadā. Auch darf ich wohl beifügen, daß mir Professor Takakusu schon 1904 brieflich bemerkte, daß er die von ihm aufgestellte Hypothese keineswegs für so gesichert halte, als es nach der zitierten Äußerung scheinen könnte.
Ich möchte also doch eher annehmen, daß das durch »blau« wiederzugebende Ideogramm »tsiṅ« an Stelle von ssk. piṅgala steht, und zwar auf Grund eines Mißverständnisses und ungenügender Kenntnis des Sanskrit auf seiten des chinesischen Verfassers der Vorrede, in welcher wir zuerst die Angabe finden8 – eines Versehens, das um so erklärlicher ist, als gerade die Farbebezeichnungen sehr leicht Umdeutungen bei der Übertragung aus[11] einer Sprache in die andere unterliegen, falls der Übersetzer nicht die durch den zu übersetzenden Ausdruck ursprünglich bezeichnete Farbe vor Augen gehabt hat. Und dann dürfte es auch keine Schwierigkeit machen, in dem zweiten Bestandteil »mu«, d.h. »Auge«, die Wiedergabe von ssk. akṣa(n) zu erkennen, so daß als Name des Kommentators sich »Piṅgalākṣa« ergäbe, eine Form, die auch sonst als Eigenname belegt ist9, und die man ohne weiteres als Äquivalent für die chinesische Transkription gelten lassen könnte, wenn man annähme, daß dieser eine prakritisierte Form10 »piṅgalakkha« zu Grund gelegen habe. Daß hierbei der Vokal der zweiten Silbe unterdrückt worden ist, kann nicht weiter befremden, da dieser Vorgang für die ältere chinesische Transkription geradezu charakteristisch ist und selbst der in seiner Wiedergabe der Sanskritformen viel exaktere Hhüen-cwāṅ, der über zwei Jahrhunderte später lebte, unbetonte Vokale in der Regel nicht zum Ausdruck bringt.
Gegen diese Rekonstruktion des Autors als »Pingalākṣa« läßt sich nun allerdings ein gewichtiger Einwand erheben, der jenachdem, wie man die in Tibet erhaltene geschichtliche Tradition einschätzt, geradezu entscheidend sein könnte. Er besteht darin, daß dieser Name als derjenige eines buddhistischen Gelehrten und Schriftstellers in den doch immerhin umfangreichen und im allgemeinen auch zuverlässigen Berichten tibetischer Geschichtsschreiber über die Geschichte des Buddhismus in Indien vollkommen unbekannt ist. Es möchte daher vielleicht doch einer anderen Interpretation der Vorzug zu geben sein, die sich nicht nur vom phonetischen und überhaupt sprachlichen Gesichtspunkt aus mindestens ebensosehr empfiehlt, sondern die auch in der historischen Überlieferung, wenn auch nicht gerade der indisch-tibetischen, eine Stütze findet, die jener anderen fehlt.
Bei der Unbestimmtheit der chinesischen Transkriptionsmethode vertritt nämlich der erste Charakter in »pin-lo-chié« neben ssk. phiṇ- (in »kapphiṇa«), piṇ- (in »piṇḍada«), piṅ- (in »piṅgala«?) auch vim-(in »vimba«)11, so daß jene Umschreibung[12] auch auf ssk. vimalākṣa zurückgeführt werden kann. Es ist dies der Name eines śramaṇa aus Kubhā (Kabul), der in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts n. Chr. als Lehrer des Vinaya in Kwēi-tsz' (Kuce oder Kharacar)12 wirkte und Lehrer des Kumārajīva war, bis der letztere 383 n. Chr. nach der Zerstörung von Kharacar durch Lü-kwān, den Oberkommandierenden unter der älteren Tshin-Dynastie, sich nach China begeben mußte. Übrigens kam auch Vimalākṣa 406 n. Chr. dahin und übersetzte zwei Sanskrittexte ins Chinesische, deren einer – Nanjio Nr. 1144 – sich im chinesischen Tripiṭaka erhalten hat.13 Es wäre durchaus verständlich, daß jener Vimalākṣa den älteren Kommentar des Nāgārjuna zu den Mādhyamika-kārikās frei bearbeitet und in dieser von ihm modifizierten Fassung seinem Schüler Kumārajīva mitgeteilt hätte. So würde sich ungezwungen erklären, daß gerade eine von Nāgārjunas Akutobhayā nicht sehr erheblich abweichende Fassung des Mādhyamika-śāstra von Kumārajīva ins Chinesische übertragen worden ist, während die Autorschaft des Nāgārjuna hinter der seines Bearbeiters Vimalākṣa zurücktrat. Allerdings läßt sich in ähnlicher Weise, wie bei der vorhin versuchten Deutung des Verfassernamens als »Piṅgalākṣa«, auch hier entgegenhalten, daß »tsiṅ« nicht »fleckenlos« (vimala), sondern »blau« bedeutet, und ferner, daß der Verfasser als »brāhmaṇa« bezeichnet wird. Aber schließlich sind die historisch-biographischen Angaben in den Vorreden zu den chinesischen Übersetzungen buddhistischer Texte, zumal da sie nicht von den Übersetzern selbst verfaßt, sondern später beigefügt wurden, keineswegs so zuverlässig, daß man nicht auch mit erheblicheren Irrtümern und falschen Angaben rechnen müßte.
1 | »Der ältere Vedānta«, p. 33, n. 1. |
2 | Nanjio, Nr. 1461; TE. XXIV, 9, 113a. |
3 | Wassiljeff, der diese Lebensbeschreibung in seinem »Buddhismus« (p. 212ff.) übersetzt hat, erwähnt die »Furchtlose« allerdings nicht unter den Werken des Nāgārjuna; es ist dies aber wohl darauf zurückzuführen, daß ihm eine der chinesischen Ausgaben vorlag und der in diesen vorliegende Text nicht ganz vollständig und, wie u.a. aus der Angabe, der śloka setze sich aus 42 Silben zusammen (statt 32 entsprechend der richtigen Angabe des koreanischen, in TE. wieder abgedruckten Textes), hervorgeht, auch einigermaßen korrumpiert ist. Eine entsprechende Bezeichnung der Akutobhayā als eines Werkes des Nāgārjuna findet sich in dem Texte Fu-fā-tsāṅ-yin-yuen-ciṅ (Nanjio, Nr. 1340), TE. XXIV, 9, 108a. |
4 | Nach einer in den älteren chinesischen (der Südl. Suṅ- und Yuen-Dynastie) und der koreanischen Ausgabe von 1010 n. Chr. allerdings fehlenden Notiz der Miṅ-Ausgabe, die auch in die japanischen Ausgaben übergegangen ist, wirkte Shih-săṅ-zhui unter der Yāo-Tshin-Dynastie (384–417 n. Chr.) und war also Zeitgenosse des Kumārajīva. |
5 | Nicht »brahmacārin«, wie Journ. Roy. As. Soc. 1903, p. 182, angegeben ist. Vermutlich soll der immerhin befremdende Ausdruck »fan chi« nur bezeichnen, daß seine Arbeit in Sanskrit (fan) abgefaßt war. |
6 | An der parallelen Stelle im Katalog des Saṅ-yiu (TE. XXXVIII, 1, 32 a) ist die ältere Lesart beibehalten, ebenso im Fān-i-miṅ-i-tsi (Nanjio, Nr. 1640), TE. XXXVI, 11, 10a. |
7 | In seinem Werke »Outlines of Mahāyāna Buddhism« (1907), p. 173, bezeichnet Suzuki »Piṅgalaka« als Urheber des von Kumārajīva übersetzten Kommentars. |
8 | Sie ist in den späteren Katalogen des chinesischen Tripiṭaka öfters wiederholt worden, so im Khāi-yuen-lu (Nanjio, Nr. 1485, TE. XXXVIII, 4, 101b; Nanjio Nr. 1486, TE. XXXVIII, 5, 83b), im Kataloge der Chiṅ-Yuen-Dynastie (1295–1308) (TE. XXXVIII, 7, 38a), im Kataloge der C'-Yuen-Dynastie (Nanjio, Nr. 1312; TE. XXXVIII, 8, 74a). |
9 | Vgl. PWb. kürz. Fassung, s.v. |
10 | Nach den bahnbrechenden Forschungen von Prof. Leumann läge es allerdings näher, eine »nordarische« Lehnform anzusetzen. |
11 | Vgl. St. Julien, Méthode pour déchiffrer et transcrire les mots sanscrits etc., Nr. 1426–1429. |
12 | Vgl. Eitel, Handbook of Buddhism (1870), p. 56a: »an ancient kingdom and city in Eastern Turkestan, N. of the Bosteng lake at the foot of the Thien shang.« |
13 | Vgl. Tā-Thāṅ-nēi-tien-lu (Nanjio Nr. 1483, TE. XXXVIII, 2, 56 b); Nanjio, App. II, 44. |
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