Vorwort zur ersten Ausgabe

[3] Dies Buch möchte allen denen in die Hände kommen, welchen es Bedürfnis ist, sich einen vollen Begriff davon zu verschaffen, was der Name PLATO der Menschheit bis dahin bedeutet hat und ferner bedeuten muß.

Nicht als ob alles, was PLATO denkwürdiges geäußert hat, in diesem Buche niedergelegt wäre. Aber es will den Leser in das Zentrum der platonischen Gedankenwelt versetzen, damit er fortan auch, was von ihren mehr peripherischen Gebieten ihm bekannt wird, auf dies Zentrum beziehen und so erst ganz im eignen Sinne PLATOS verstehen lerne.

Dies Zentrum ist und wird immer bleiben: die Lehre von den Ideen. Zwar sind nicht wenige heute der Meinung, daß das nicht der ewigste, vielleicht sogar der vergänglichste Teil der geistigen Hinterlassenschaft PLATOS sei. Sieht man auch von denen ganz ab, welchen die schriftstellerische Form alles, der Stoff nur dienend ist, so mögen doch auch, was diesen betrifft, manchem die ethischen und sozialpädagogischen Aufstellungen PLATOS für unsre Zeit wichtiger und anteilewürdiger erscheinen als das, was den Gegenstand dieser Darstellung fast ausschließlich bildet: die Dialektik. Am meisten aber möchte diese Begrenzung unsrer Aufgabe gegen die der Verteidigung bedürfen, welche überhaupt nicht dies oder jenes, sondern alles in allem, welche die volle Persönlichkeit PLATOS wie in einem eindrucksvollen Monument vor sich hingestellt sehen möchten; statt daß dies Buch nur Sache und immer wieder Sache bringt.

Aber nur aus der Sache und nur aus dem Zentrum der Sache ist das Verständnis einer Persönlichkeit wie die PLATOS zu gewinnen. Die Form aber – das sollte man aus PLATO selbst gelernt haben – ist nur zu begreifen und hat zuletzt nur Wert als Form ihres Inhalts. Will man, daß das Altertum uns lebe,[3] so ist der Sachgehalt der alten Kultur unbedingt in den Mittelpunkt zu stellen; so auch, was PLATO betrifft, allem voraus die Sache, die sein Name bedeutet, zu bewältigen. Auch seine schriftstellerische oder, geradezu gesagt, dichterische Eigenart ist nur von da aus, nimmer ohne das zu verstehen.

Also zum zentralen sachlichen Verständnis der Werke PLATOS möchte dies Buch eine Hilfe bieten. Nur eine Hilfe; der beste Teil der Arbeit verbleibt dem Leser. Als ein Studienwerk will dies Buch angesehen werden. Es setzt voraus, daß man zu jedem Kapitel die darin behandelten Schriften PLATOS liest, und hauptsächlich in eigner Arbeit sie sich zum Verständnis zu bringen sucht. Aber die tiefstliegenden, die eigentlich philosophischen Schwierigkeiten will das Buch besiegen helfen, damit nicht gerade der innerste Gehalt dieser Werke unbewältigt, wohl gar unbeachtet bleibt.

Erst in letzter Stunde – das heißt vor einem Jahr, während die Materie zu dem Buche größtenteils seit fünfzehn Jahren bereit lag – habe ich zu dieser Beschränkung mich entschlossen, aber seitdem mich mehr und mehr in der Überzeugung befestigt, daß sie geboten und heilsam war; nicht bloß im Interesse der Einheit der Darstellung, die bei jedem, wie immer angestellten Versuch einer Verquickung der philologischen mit der philosophischen Aufgabe gefährdet worden wäre; sondern namentlich aus diesem Grunde: mit der philologischen Arbeit, an der ich auch diese fünfzehn Jahre hindurch mich nach meinen Kräften beteiligt habe, würde ich in absehbarer Frist nicht zu einem mich befriedigenden Abschluß gelangt sein; was dagegen das eigentümliche Werk des Philosophen an PLATO sein mußte, das ließ sich zu einem gewissen Abschluß bringen, ich sage nicht, der mich (geschweige andre) durchaus befriedigte, aber vielleicht, der im jetzigen Stadium der Platoforschung gewagt werden, und eben in dem Sinne gewagt werden mußte, wie es hier geschehen ist.

Es ist das Verständnis des Idealismus, welches unsrem Zeitalter, man muß es sagen, so gut wie abhanden gekommen ist, und welches ihm wiederzuerringen, wie ich mit wenigen glaube, eine absolute Notwendigkeit ist. Zwar sollte man denken, es müßte schon längst ihm wiedererrungen sein durch die erstaunliche Arbeit, die man seit einem Menschenalter daran gewandt hat, KANT zu verstehen. Aber es müssen wohl ganz besondere Schwierigkeiten sein, die es verschulden, daß[4] man über ihn zu irgendwelcher Einigung, trotz so heißen Bemühens, ersichtlich nicht gelangt ist. Es mag zuletzt die hochkomplizierte historische Bedingtheit KANTS sein, welche ein reines und ganzes Verständnis seiner philosophischen Leistung zu einer so schweren Sache macht. In PLATO ist der Idealismus urwüchsig, gleichsam autochthon. Aus der schlichten sokratischen Entdeckung des Begriffs wächst er hervor mit einer inneren Notwendigkeit, der kein philosophisch gerichtetes Denken sich leicht entziehen kann. Und auf keiner Stufe verhärtet er sich zur scholastischen Formel, bis zuletzt verbleibt er in lebendigster Beweglichkeit. Darin liegt der unauslöschliche Reiz, darin der unvergängliche didaktische Wert des Platostudiums. Die Einführung in PLATO ist die Erziehung zur Philosophie; erwächst doch bei ihm zuerst ihr ganzer Begriff. Die Philosophie aber, nach diesem ihrem strengsten historischen Begriff, ist keine andre als: der Idealismus. Also ist es nicht Hineintragung eines fremden, unhistorischen Gesichtspunkts in eine doch historisch gemeinte Betrachtung, wenn die entwickelnde Darlegung der Ideenlehre PLATOS sich gestaltet zu einer Einführung in den Idealismus. PLATOS Ideenlehre, das ist die Geburt des Idealismus in der Geschichte der Menschheit; welchen richtigeren Eingang zum Idealismus könnte es also geben als durch das Nacherleben dieser seiner Geburt in der Entwicklung der Philosophie PLATOS?

Die Notwendigkeit einer genetisch von Werk zu Werk fortschreitenden Darstellung ergab sich eben hieraus. Zwar ist die Reihenfolge der platonischen Schriften immer noch viel umstritten, und nicht wenig ist der Abschluß dieses Buches durch die Sorge aufgehalten worden, ob auch die von mir angenommene Folge der Schriften fest genug begründet sei, um einer Darstellung der zentralen Lehre PLATOS zur Grundlage zu dienen. Diese Reihenfolge ergab sich mir, ebenfalls schon vor fünfzehn Jahren, aus der genauen, durchgehenden Vergleichung des gesamten Sachinhalts der platonischen Werke, wobei alle sonstigen Kriterien nur hilfsweise zur nachträglichen Kontrolle verwendet wurden. Manche meiner Annahmen sind seither durch Forschungen andrer bestätigt worden, einige sind bis heute angefochten worden, werden es vielleicht noch lange bleiben. Ich kann nur sagen: ich war in jedem Augenblick bereit, meine Hypothesen abzuändern; aber noch jedesmal, wo eigne oder fremde Forschungsergebnisse die Aufforderung zu[5] einer Änderung zu enthalten schienen, fand sich bei näherer Prüfung die anfängliche Annahme besser begründet, nicht selten in unerwarteter Weise von neuer Seite bestätigt. Den vollständigen Beweis der Richtigkeit der somit hier zugrunde gelegten Reihenfolge der Schriften konnte freilich das Buch selbst nicht liefern, nachdem einmal die Ausscheidung alles bloß Philologischen beschlossen war. Soweit jedoch der Beweis auf der Inhaltsvergleichung allein beruht, ist er größtenteils, direkt oder indirekt, dem Buche zu entnehmen. Es mag aber auch für die chronologische Forschung selbst nicht ohne Wert sein, daß hier einmal die sachlichen Kriterien allein verwendet und von allem anderen, namentlich soweit es irgend dem Streit unterliegt, so gut wie ganz abgesehen worden ist. Im übrigen bieten manches zur Ergänzung die im Eingang des Registers genannten früheren Arbeiten, andres wurde für künftige Erörterung zurückgestellt.

Schließlich aber ist die sachliche Deutung des Inhalts der Schriften von ihrer zeitlichen Datierung nicht derart abhängig, daß, wer über die letztere andre Ansichten hegt, dadurch gehindert würde, sich die erstere anzueignen. Was nun diese Deutung betrifft, so war ich bestrebt, sie so streng als nur möglich aus den platonischen Texten allein herzuleiten; während die herrschende Darstellung der platonischen Grundlehre besonders durch die Auffassung und das Urteil des ARISTOTELES stark und, wie ich glaube, verhängnisvoll beeinflußt ist. Das machte die beiden letzten, der Vergleichung von ARISTOTELES und PLATO gewidmeten Kapitel notwendig. Zwar sind der Grundansicht: daß die Ideen Gesetze, nicht Dinge bedeuten, schon ältere Forscher nahe gekommen; so allen voraus ZELLER in einigen Stellen der »Platonischen Studien« (S. 259, 261). Aber gerade dieser einflußreiche Forscher hat sich später durch die gegenteilige Meinung des ARISTOTELES mehr und mehr gefangen nehmen lassen. Es schien zu unglaublich, daß ein Philosoph dieses Ranges, der zwanzig Jahre zu den Füßen PLATOS gesessen hat, diesen in seiner Kernlehre gänzlich falsch verstanden haben sollte. Erst die Wiedergeburt des kantischen Idealismus hat zugleich für den Idealismus PLATOS volles Verständnis gezeitigt. Ich stehe nicht an, HERMANN COHEN als den zu nennen, der uns, wie für KANT, so für PLATO die Augen geöffnet hat. Befangenheit in den Begriffen einer bestimmten philosophischen Schule wird man mir deshalb nicht vorwerfen können; man wird nicht leicht[6] übersehen, daß in der Deutung des Einzelnen wir mehrfach, nicht bloß in Nebensachen, zu verschiedenen Schlüssen gelangen. Aber den Begriff des Idealismus haben wir gemein, und die Grundansicht, daß der Idealismus, der von den Ideen PLATOS, und nicht etwa BERKELEYS, benannt ist, auch in PLATOS Ideenlehre seine erste, ursprünglichste, fast muß man sagen unmißverständlichste Ausprägung gefunden hat. Ich habe an den Leser hier nur die Bitte: er lese so unbefangen, wie er vermag, PLATO selbst und diese Darstellung; er entschlage sich dabei womöglich jeder Erinnerung an das, was in den Büchern steht, sei es über den Idealismus PLATOS oder KANTS oder vollends seiner schlimmen Nachfolger von heute.

Eben darum mußte ich so viel als möglich PLATO selbst zu Worte kommen lassen. Um aber nicht bloß für Philologen geschrieben zu haben – für andre heißt es ja heute wieder: graeca sunt, non leguntur -, mußte ich mich entschließen, ihn deutsch reden zu lassen. Ich bin mir sehr bewußt, daß schon damit die Subjektivität beginnt; aber entgeht man ihr, wenn man die Texte in der Ursprache hinsetzt, und dann zu deutsch seine Schlüsse daraus zieht? – Der Terminologie ist besondere Aufmerksamkeit zugewandtworden. Zu den möglichst entsprechenden Terminis der heutigen philosophischen Kunstsprache ist, wo es nützlich schien, das griechische Wort in Klammern beigesetzt; in einzelnen Fällen habe ich es nicht gescheut, die Termini der Ursprache, wie Logos, Eidos, Doxa, geradezu in unsre Sprache herüberzunehmen. Genaue Auskunft über alles Terminologische gibt das Register, welches überhaupt dem Philologen wenigstens einen guten Teil dessen bieten will, was der Text, weil er nicht bloß für Philologen bestimmt war, nicht bieten durfte. Ich glaube ohne Überhebung sagen zu dürfen, daß manche Artikel des Registers Abhandlungen ersetzen.

Schließlich noch ein Wort über die Benutzung der Literatur. Sie ist äußerst sparsam zitiert und auch indirekt nicht in weitem Umfang berücksichtigt. Daß ich sie kenne und aus ihr gelernt habe, dafür brauche ich wohl nicht erst meine früheren Arbeiten als Zeugen anzurufen; Kenner werden es ohne das überall herausspüren. Die Absicht jener Sparsamkeit aber wird man ja wohl nicht verkennen; es sollte der Leser möglichst unmittelbar zu PLATO selbst geführt und mit den mancherlei Meinungen über PLATO nicht mehr als dringend notwendig behelligt werden. Ich habe geschwankt, ob ich eine Literaturübersicht vorausschicken[7] oder anhängen solle; ich habe davon abgesehen, weil es an Hilfsmitteln zu ihrer Auffindung nicht fehlt, eine umfassende Übersicht eher verwirrt, eine beschränkte leicht zu subjektiv ausfallen oder wenigstens scheinen konnte.


Zur zweiten Auflage

Im August 1921.

Der Fortgang meiner Platoforschung seit dem ersten Erscheinen dieses Buches hat mich in wesentlichen Stücken zu neuen Auffassungen geführt. Diese in die alte Darstellung hinein zu verweben erschien mir nicht richtig. Es wäre ein Gemisch entstanden, in dem weder das Alte noch das Neue sich rein hätte ausprägen können. So entschloß ich mich an den zwölf Kapiteln des Buches (von einer erweiterten Darstellung des »Sophisten« abgesehen) nichts Wesentliches zu ändern, das Neue in strenger Absonderung in einem »Metakritischen Anhang« und einer nicht großen Zahl von Anmerkungen vorzutragen. Von der Art und Richtung meiner neuen Auffassungen gibt der Eingang des Anhangs Rechenschaft. Eine umfassende Neudarstellung des ganzen PLATO gedenke ich, wenn Zeit und Kraft bleibt, noch zu liefern. Für mich steht schon seit langem die Arbeit an PLATO in genauem Zusammenhang mit der an meiner eigenen Philosophie. Ich vermöchte nicht zu sagen, ob mehr das tiefere Durchdenken der Systemtragen mir zum reineren Verständnis PLATOS geholfen hat, oder umgekehrt. Mein Glaube aber ist, daß dies das Schicksal nicht bloß meiner, sondern der Philosophie ist.

Und nun denn – in medias res![8]

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921.
Lizenz:

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