1. Die Grundlegung des Substanzbegriffs (Metaph. IV 3 und 4).

[404] Die Grundlegung zur Substanzlehre im vierten Buche der Metaphysik enthält vielleicht die größte Annäherung an den Weg der Kritik, die bei ARISTOTELES zu finden ist. Sie geht aus von den Erfordernissen des Urteils. Die Bestimmtheit des Sinns der Aussage (S ist P) fordert die Einheit, die Identität 1. des Prädikats, 2. des Subjekts.

Soll die Aussage überhaupt etwas bedeuten (sêmainein), soll sich dabei etwas verstehen lassen, so muß erstlich das Prädikatswort bedeuten, daß das Subjekt das und das Bestimmte (hôrismenon, 1006 a 25, todi, 30) sei. Es muß der Sinn des Prädikats ein bestimmter sein, sonst ist es gar kein Satz, der einen Sinn hat (ouk an eiê logos, 1006 b 6); sonst ist (heißt es in ganz platonischem Anklang) alle »Unterredung« (Verständigung) dahin. Denn man kann gar nicht denken, ohne Eines zu denken, formuliert er vortrefflich (l. 10), und begründet damit die eine der beiden Bedeutungen, welche das Prinzip der Identität für ihn hat.

Zweitens würde die Leugnung des Identitätssatzes gänzlich aufheben das ti ên einai, das heißt die Bedeutung eines Begriffs, Wesensbestimmung eines Existierenden zu sein (die Angabe dessen, was es ist, solange es ist); zum Beispiel den Begriff Mensch, sofern er Existierendes nach seinem Wesen (nach dem, was es ist, solange es eben dies, Mensch, ist), kurz, nach seinen unaufheblichen Bestimmungen bezeichnet (welches nun auch diese sein mögen; denn das bedarf natürlich erst der Feststellung). Es handelt sich somit in diesem zweiten Teil der Betrachtung (von 1007 a 21 an) nicht mehr um die Eindeutigkeit des Prädikats, sondern um die Eindeutigkeit der Beziehung jedes Prädikats, in letzter Instanz wenigstens, auf ein solches Subjekt, dem die und die Prädikate wesentlich, unaufheblich zukommen. Nämlich, es kann zwar wohl eine Bestimmung von einem Subjekt zutreffend ausgesagt werden, die nicht ihm, als solchem, wesentlich zukommt; zum Beispiel dem Menschen das Prädikat weiß. Aber dann weist doch diese Bestimmung notwendig zurück auf irgend eine andre, die dem Subjekt seinem Wesen nach zukommt; zum Beispiel der Mensch hat nicht wesentlich weiße Farbe, wohl aber wesentlich Farbe; der Begriff der weißen Farbe aber schließt den der Farbe überhaupt ein. Wäre das nicht, sollten alle Prädikate ins Unendliche[405] als nichtwesentliche gelten, so fehlte der Aussage überhaupt der sichere, identische Bezug, es bliebe in dem Begriff dessen, wovon die Aussage gelten soll, also in dem Sinn der Aussage selbst, auch wenn der Sinn des Prädikats noch so eindeutig bestimmt wäre, eine Unbestimmtheit zurück.

Diese Betrachtung ist unbestreitbar richtig. Es ist auch zutreffend, daß der letzte Sinn der Verknüpfung (symplokê) des Subjekts und Prädikats im Urteil dieser ist: die notwendige Zurückbeziehung jeder variablen Bestimmung auf letzte invariable. Das ist ganz zutreffend aus den Gesetzen des Urteilens gefolgert. Aber doch ist leicht zu sehen, wo sich hier der Dogmatismus unvermerkt einschleicht und von da ab unausrottbar festsetzt. Das gemeine Denken nimmt einen Begriff wie »Mensch« für gegeben. Die Identität des Worts vertritt ihm das identisch bestimmte Subjekt, es täuscht hinweg über die Schwere des Problems: auszumachen, was, ja ob überhaupt etwas unwandelbar Identisches in einem solchen Begriff gedacht ist. Die Wissenschaft zerstört überall diese falsche Sicherheit über die Dingsubjekte. Sie begreift je mehr und mehr, daß gerade das letzte, genau gedachte Subjekt der Veränderung – Materie, materielle Elemente, Atome, Massenpunkte oder wie sonst sie heißen mögen – nur Ansätze, nicht letzte Grundlagen, nur versuchte, nicht endgültige Bestimmungen sind. Das Gesetz der Substanzialität erkennt wahrlich auch sie an und möchte es erfüllen, aber sie weiß, daß sie mit keinem ihrer Ansätze das erreicht, was die gemeine Denkweise einfach für gegeben nimmt, die absoluten Subjekte der Veränderung.

Um sie zu erreichen, müßte (um von den vielen Fragen, die hier aufzuwerfen wären, wenigstens eine zu berühren) eine absolute Bestimmung des Orts und Zeitpunkts möglich sein. Nach den gesetzmäßigen Bedingungen der Orts- und Zeitbestimmung aber sind ins Unendliche nur relative Bestimmungen möglich, absolute ausgeschlossen. Erwägt man auch nur dies, so muß die Zuversicht stark auffallen, mit der ARISTOTELES stets behauptet, das Verfahren der wissenschaftlichen Erkenntnis, so hier in der Bestimmung des wahren Bezugspunkts oder Subjekts der Aussage, könne nicht ins Unendliche gehn, weil sonst nichts bestimmt wäre, weil keine Einheit daraus würde (1007 b 1. 10). Formal zwar ist er auch damit ganz im Recht. Gewiß, das Verfahren dürfte nicht ins Unendliche gehn, wenn absolute Erkenntnis erreicht werden sollte. Allein [406] es geht tatsächlich ins Unendliche, absolute Erkenntniß wird also nicht erreicht. ARISTOTELES aber schließt von dem logischen Bedürfnis der Erkenntnis auf eine absolut logische Beschaffenheit des Gegenstands, nicht eines letzten, uns unerreichbaren Gegenstands »an sich« – für den dürfte man die Voraussetzung eben darum ruhig gelten lassen, weil man ihn nicht kennt – sondern des gegebenen Gegenstands unsrer empirischen Erkenntnis. Oder richtiger, für ARISTOTELES bedarf es hier gar keiner Schlußfolgerung, sondern, weil er von Anfang an das Denken vom Sein schlechthin abhängig denkt, setzt sich ihm die Aussage, die vom Denken zunächst gemeint und richtig war, selbstredend und ohne jedes Bedürfnis einer weiteren Begründung um in eine Aussage über das Sein, das gegebene Sein der Erfahrungsobjekte.

Hier ist nun ein Punkt erreicht, wo die Wahl zwischen der kritischen und der dogmatischen Ansicht der Erkenntnis nicht länger Meinungssache, sondern jedem, für den die Jahrhunderte wissenschaftlicher Arbeit seit dem Beginn der neuen Zeit nicht vergeblich gewesen sind, unweigerlich und endgültig entschieden ist. Das besagt es, daß der Substanzsatz, gleich den übrigen Fundamentalsätzen der Erkenntnis, ein synthetischer, nicht analytischer Satz ist: daß er bedeutet ein Gesetz des Verfahrens, den Gegenstand in der Erfahrung erst aufzubauen, das Gesetz eines Prozesses der Erkenntnis, der in der Tat ein unendlicher, abschlußloser ist. Gegenstand ist, was wir als Eines, Identisches setzen; der Gegenstand als Substanz: was wir als identischen Bezugspunkt unsrer Aussagen, mit jederzeit nur relativer, nicht absoluter Gültigkeit, ansetzen. ARISTOTELES dagegen setzt zuversichtlich voraus, daß der Gegenstand gegeben ist. Wie wir ihn notwendig denken, so ist er. Allerdings: was notwendig für unsre Erkenntnis, das gilt eben damit für den Gegenstand, als Gegenstand unsrer Erkenntnis. Das heißt aber nicht, daß der Gegenstand an sich, in abschließender Bestimmtheit, so sein muß, wie unsre Erkenntnis ihn setzt. Sondern, er »ist« so, das kann nur heißen: er ist für uns, auf der je erreichten Stufe, unter den jeweiligen Voraussetzungen unsrer Erkenntnis, so zu bestimmen, er bleibt aber dabei, und zwar ohne Ende, weiter bestimmbar.

Das hat KANT, in einem der aufklärendsten Kapitel der Kritik der reinen Vernunft (dem vom »Interesse der Vernunft« bei dem Widerstreite der Antinomieen), als den gesunden Sinn[407] des Empirismus erkannt Dies Kapitel ist voller Keulenschläge auf ARISTOTELES, die umso wuchtiger fallen, weil er weder sagt, noch denkt, daß es ARISTOTELES ist, dem er das Urteil spricht, sondern in der erhabenen Gelassenheit, die ihm so eigen ist, nur schlicht und klar die Sache sprechen läßt.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 404-408.
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