B. Leistung der Ideen für die Erklärung der Phänomene.

[428] Der zweite Haupteinwurf des ARISTOTELES gegen die Ideenlehre ist, daß sie um die »Ursachen des Sichtbaren«, die eigentliche Aufgabe der Wissenschaft, sich nicht kümmere. Das Wort (992 a 25): »Das haben wir beiseite gelassen« (eiakamen) ist vielleicht eine beabsichtigte Anspielung auf das bekannte, leicht mißzuverstehende Wort im Staat, 530 C: »Die Erscheinungen am Himmel werden wir beiseite lassen« (eiasomen).

Keine der vier Arten der »Ursache«, die ARISTOTELES seinerseits aufstellt, sei in der Ideenlehre zu ihrem Recht gekommen. Die Bewegursache sei ganz vergessen; die Form wolle zwar die Idee vertreten, aber so, wie sie sie zum Ausdruck bringe, sei es falsch, denn über ihr Verhältnis zu den Sinnendingen mache man nur leere Redensarten, mit dem »Teilhaben« sei gar nichts gesagt. Die Zweckursache sei ebenfalls in keiner Weise berührt (auch nicht in der Idee des Guten? – darauf wird zurückzukommen sein); vielmehr sei durch PLATOS Einfluß jetzt die Mathematik die ganze Philosophie geworden, während[428] sie doch angeblich nur dienendes Mittel sein solle. (Hierbei mag an die von PLATO stets betonte Unterordnung der Mathematik unter die Dialektik gedacht sein.) So bestimme man auch die Materialursache einseitig mathematisch. (Auch das wird im nächsten Abschnitt zur Sprache kommen; vorläufig s. o. S. 413 f.)

Der Haupttadel aber bleibt: die Ideenlehre erkläre nicht die Veränderung. Die Materie soll den Grund der Veränderlichkeit enthalten; nun sollen doch die Ideen selbst erst hervorgehen durch Bestimmung des Bestimmungslosen, also müßten auch sie an der Veränderlichkeit teilnehmen. Wenn nicht, woher käme überhaupt die Veränderung? Ohne diese wäre aber die ganze Naturwissenschaft aufgehoben. – Ebenso 991 a 9: Die Idee trägt zur Erklärung der Phänomene nichts bei. Sie enthält in sich keinerlei Prinzip der Veränderung oder des Wechsels. Sie verhilft nicht zur Erkenntnis der Phänomene, sie drückt nicht ihr Wesen aus, denn sonst müßte sie in ihnen sein. Sie hilft also nichts zum Sein der Sinnendinge, wie wenn sie sich etwa zu diesen verhalten sollte wie das Weiß zu dem Weißen.

Diese Einwände sind, wie wir meinen, schon durch den Phaedo zur Genüge beantwortet. Nach diesem gehören Qualitätsbegriffe entschieden zu den Ideen. Und gerade das »Darinsein« der Ideen in den Sinnendingen (eneinai, engignesthai) wurde bestimmt behauptet (103 B, 105 B C) und ausführlich begründet.

Daß aber ARISTOTELES eben diese fundamentale Darlegung der platonischen Grundlehre nicht im mindesten begriffen hat, bestätigt sein ständig wiederkehrender Vorwurf: die Vorstellung der Idee als Urbild und das Teilhaben der Erscheinungen an ihr sei nichts als ein leeres Gerede, bestenfalls eine poetische Metapher (991 a 22; vgl. 987 b 10-14); die Teilhabe sei im Grunde die »Nachahmung« der Pythagoreer, PLATO habe bloß den Namen geändert; was sie aber eigentlich sei, habe er »Andern zu untersuchen überlassen« (hierüber s. o. S. 239). – Ebenso (heißt es an ersterer Stelle weiter) sei eine leere Metapher jenes Werktätige (ergazomenon, PLATOS Demiurg), welches »auf die Ideen hinblicke« (Tim. 28 A u. ff.). Es könne ganz wohl Eins dem Andern ähnlich sein und werden, ohne ihm nachgebildet zu sein; es mag den SOKRATES geben oder nicht, so kann es Einen geben so wie er. Auch würde Eins und dasselbe, z.B. der Mensch, mehrere Urbilder zugleich haben, z.B. das Lebendige und das Zweibeinige, außer dem »Menschen an sich« Und zu den Ideen selbst müßte es wieder Muster geben, wenn sie etwa[429] Arten einer Gattung sind. So würde Dasselbe zugleich Urbild und Abbild sein. – Nach dem Phaedo zwar sollte die Idee Grund sowohl des Seins als des Werdens sein. Aber die Ideen könnten sein, ohne daß darum die Erscheinungen wären, wenn nicht noch etwas Andres als Ursache der Veränderung hinzukommt. Und Vieles wird, wovon keine Ideen angenommen werden, also muß wohl überhaupt Sein und Werden möglich sein, ohne daß Ideen sind. – Dieser Einwand ist ganz besonders kurzsichtig. Denn daß PLATO alles Werden und alle Veränderung näher oder entfernter auf die Idee zurückführt, geht gerade aus dem Phaedo unzweideutig hervor.

Etwas schärfer ist dasselbe Argument an einer andern Stelle (De gen. et corr. II 9, 335 b 9 – 24) gefaßt. Hier führt ARISTOTELES aus, daß von der bewegenden Ursache zwar alle früheren Philosophen »geträumt«, aber keiner sie bestimmt zu nennen gewußt habe. PLATO im Phaedo habe zwar das Werden und Vergehen durch die Idee erklären wollen. Aber wie kommt es denn, daß, während die Ideen immer sind und auch das der Teilhabe Fähige (das methektikon, die Materie) immer ist, sie doch nicht immer, sondern nur dann und dann das (konkrete) Sein erzeugen? Weshalb bedarf es zum Gesundwerden des Arztes und nicht bloß der Idee der Gesundheit, zur Aneignung von Wissenschaft des Wissenden und nicht bloß »der« Wissenschaft an sich, die ja immer da ist?

Man erkennt die Absicht des Arguments: die wahren Ursachen seien die Dinge, nicht das Gesetz. Aber die Wissenschaft fährt fort die Ursache im Gesetz zu suchen. Dieses muß allerdings die Zeitrelationen des Geschehens mitumspannen. Es würde, wie schon gesagt, ein verständlicher Einwand sein, daß Letztere bei PLATO nicht zureichend berücksichtigt seien. Aber abgesehen davon, daß dasselbe in weitem Umfang auch von ARISTOTELES gilt – – es fehlten hier zu einer zulänglichen Durchführung vielfach noch die allerelementarsten Vorbedingungen – so waren Ansätze auch dazu bei PLATO vielfach zu erkennen. Die Perioden der Gestirnbewegungen haben dahin den Weg gewiesen; gerade ihre Entdeckung aber hat, wie gezeigt, von einer platonischen Aufgabenstellung ihren Ausgang genommen.

Allgemein wäre auch hier zu sagen: Alle diese Einwände würden, wenn sie überhaupt zuträfen, ebenso viel gegen das wissenschaftliche Gesetz beweisen. Die Ewigkeit des Gesetzes hindert nicht, daß der zeitliche Eintritt des Geschehens dadurch[430] bestimmt ist; natürlich unter Hinzunahme empirischer Data, die aber nicht den Grund des Geschehens enthalten, sondern nur den Fall der Anwendung des Gesetzes in concreto liefern. Die gegebene empirische Lage, oder auch der bisherige Lauf des Geschehens, enthält keinen Grund, warum in dem und dem Zeitpunkt die und die Veränderung erfolgt. Das hat nicht HUME zuerst entdeckt, sondern es ist die Voraussetzung, von der PLATO (im Phaedo, s. o. S. 151, 163) und von der die rationale Wissenschaft immer ausgegangen ist. Sondern der Grund ist das Gesetz. Gegen den unausrottbaren Dogmatismus der Dinge als Ursachen, gegen den tief eingewurzelten Einfluß speziell dieses aristotelischen Irrtums war auch nach PLATO und GALILEI noch ein HUME am Platze; hätte er nur, über die richtige Negation hinaus, auch die alles klärende positive Antwort gefunden. Dann hätte er freilich nicht mehr glauben können, eine Entdeckung gemacht zu haben.

Dieselbe Verständnislosigkeit für die Methodenbedeutung der Idee beweist die Kritik, die an der Idee des Guten im ersten Buche der Nikomachischen Ethik (Kap. 4) geübt wird. Sie wird eingeleitet durch das berühmte Wort: Zur Rettung der Wahrheit müsse man, zumal als Philosoph, bereit sein, selbst die eignen Meinungen aufzugeben; und so auch die des Freundes. Sind also beide mir freund, PLATO und die Wahrheit, so ist es Gewissenspflicht (hosion), der Wahrheit den Vorzug zu geben. Leider wird dies schöne Bekenntnis durch die folgende Kritik bedenklich abgeschwächt; denn diese läßt von tieferer Wahrheitsliebe so wenig wie von freundschaftlicher Gesinnung erkennen. Die Einwände sind, von Nebensächlichem abgesehen, folgende.

1. Das Gute wird unter verschiedenen Kategorieen gedacht, also ist sein Begriff überhaupt kein einheitlicher. – Bedeutet die Idee, auch die des Guten, eine Methode der Erkenntnis und nicht einen für sich zu erkennenden Gegenstand, so sind darauf die aristotelischen Kategorieen unanwendbar, die sich ja durchaus nur auf Dinge beziehen sollen. Die Einheit des Begriffs des Guten bedeutet dann die Einheit einer Methode, nämlich der teleologischen Methode. Übrigens beweist ARISTOTELES wirklich nicht, daß das Prädikat »gut« in seinen verschiedenen Anwendungen unter verschiedene Kategorieen fällt, sondern die Subjekte, von denen es ausgesagt wird. So aber wäre zum Beispiel auch der Begriff der Veränderung kein einheitlicher, der sich, nach ARISTOTELES selbst, den Kategorieen gemäß gliedert.[431]

2. Alles, dem das Prädikat »gut« beigelegt wird, müßte unter eine einzige Wissenschaft fallen, was tatsächlich nicht zutrifft, da z.B. alle praktischen Disziplinen auf ein Gutes (nämlich je ein besonderes) zielen. – Dies beantwortet sich ganz entsprechend dem vorigen Argument: Die Methode der Teleologie kann sich sehr wohl auf viele, dem Gegenstand nach weit verschiedene Disziplinen erstrecken; sie erstreckt sich tatsächlich auf die von ARISTOTELES genannten, überhaupt auf alle praktischen Disziplinen. Nur darum trifft es zu, daß sie alle auf ein Gutes zielen. Dieser Einwand wird, wie der vorige, nur daraus verständlich, daß sich ARISTOTELES unter dem Guten, allen Warnungen zum Trotz, ein Ding denkt.

3. Was denkt man sich überhaupt unter der Idee, dem »An sich« bei jedem Begriff (auto hekaston)? Zum Beispiel der Mensch an sich und der Mensch (schlechtweg, er meint den gegebenen einzelnen) fallen unter denselben Begriff (Mensch), sie sind, sofern Mensch, nicht verschieden. – Hier wird besonders handgreiflich, daß ARISTOTELES die Idee durchaus für einen ferneren, zu definierenden Gegenstand ansieht, da sie doch den Inhalt der Definition bedeuten sollte. – Soll der Unterschied (fährt er fort) in dem Merkmal der Ewigkeit liegen, so ist ein ewiges Gutes darum nicht mehr gut; so wie ein langdauerndes (!) Weiß darum nicht mehr weiß ist als was nur einen Tag währt. – Also die Ewigkeit der Idee eine längere und immer längere Zeitdauer! Aber das ist freilich unvermeidlich, wenn die Idee ein Ding ist. Nur, wie will er sich dann mit Tim. 37 E (oben S. 363 f.) abfinden?

4. Es wird darauf die Schwierigkeit eines einheitlichen Begriffs des Guten, den man doch auch nicht völlig entbehren kann, erörtert, aber eine Entscheidung nicht gegeben. Dann erst kommt das eigentlich durchschlagende Bedenken zum Vorschein (1096 b 32): Wenn man auch den einheitlichen, gemeinsamen Begriff des Guten, als etwas Getrenntes für sich, annimmt, so bezeichnet er nichts mehr, was für den Menschen tunlich oder erreichbar ist, und danach sucht man gerade. (Man beachte das Zurückscheuen vor der unendlichen Aufgabe.) Zwar lautet es sehr überredend, daß die Idee das Musterbild abgebe, wonach man das Gute, wo immer es in der Erfahrung begegnet, erkennen könne. Aber das findet leider nicht seine Bestätigung in den Wissenschaften (nämlich den praktischen). Jede von diesen sucht (auf dem ihr eigentümlichen Wege) vielmehr[432] ein eigentümliches Gutes, nach der Erkenntnis des Guten fragt keine. Es ist aber doch nicht wahrscheinlich, daß sie alle eine so mächtige Hilfe weder kennen noch überhaupt danach suchen sollten. Was sollte in der Tat dem Weber oder Zimmermann für sein Handwerk die Kenntnis der Idee des Guten nützen, oder wie sollte, wer sie geschaut hat (tetheamenos), darum ein tüchtigerer Arzt oder Offizier sein? Die Heilkunde fragt nicht einmal nach der Gesundheit so im Allgemeinen, sondern nach der des Menschen, ja des einzelnen, denn den einzelnen gilt es zu behandeln. »Damit genug hiervon.« – Es ist in der Tat genug, die völlige Verständnisunfähigkeit für die wissenschaftliche Tendenz der Ideenlehre zu beweisen. Solche Reden sind ja des lauten Beifalls des flachsten Routinismus für alle Zeiten sicher. Aber sie werden den wissenschaftlichen Radikalismus, in dem PLATO die Frage nach dem Guten aufgeworfen hat, so lange nicht in Vergessenheit bringen, als im Menschen noch ein Funke jener Kraft lebt, »Wahrheit zu lieben und all sein Tun auf sie« als Endzweck, nicht sie auf den Endzweck seines beschränkten Tuns, »zu beziehen« (Phileb. 58 D, vgl. Staat 505 D)

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 428-433.
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