1. Das Mathematische an und für sich.

[442] Die Einwände gegen die »Trennung« des Mathematischen vom Sinnlichen gehen ganz parallel denen gegen die Trennung der Allgemeinbegriffe überhaupt; sie sind nur ein Beispiel, und zwar das Hauptbeispiel dafür. Natürlich sollen sie ganz besonders die Zahlen als Ideen treffen, was für ARISTOTELES heißt: als Substanzen für sich.

a) Im Bereiche des Sinnlichen jedenfalls existieren die mathematischen Objekte (als selbständige Substanzen) nicht (Metaph. III 2, 998 a 7 – 19); sonst würden aus gleichem Grunde die Ideen (l. 12), oder würden alle Kräfte oder Wesenheiten (XIII 2, 1076 b 2), nämlich als selbständige Substanzen, im Sinnlichen existieren; das heißt, die mathematischen Bestimmungen dürfen ebenso wie alle andern Allgemeinbegriffe nur als Abstraktionen angesehen werden, denen als Konkretes die Sinnendinge zu Grunde liegen. Sollte namentlich der geometrische Raum als besondere Substanz im Sinnlichen existieren, so würden zwei Körper, der geometrische und der sinnliche, denselben Raum einnehmen, das Unbewegte im Bewegten sein; es wäre noch ein Himmel außer dem wirklichen, und gar an derselben Stelle; und was dergleichen absurde Konsequenzen mehr sind. Soll wohl gar nicht bloß der geometrische Körper, sondern ebenso die Fläche, die Linie und schließlich der Punkt Substanzen für sich darstellen, so wäre der Körper teilbar in Flächen, die Fläche in Linien, die Linie in Punkte, es würden also (bei wirklich ausgeführter Teilung) dieselben Flächen, Linien und schließlich Punkte doppelt existieren, was doch namentlich für die Letzteren unmöglich ist. Also ist die substanzielle Teilung, also überhaupt die ganze Voraussetzung der Substanzialität dieser Gebilde unhaltbar. (Vgl. 1090 b 5 – 13: Bloße Grenzen können nicht Substanzen sein.) – Hiermit ist nun gegen PLATO insofern nichts bewiesen, als dieser die mathematischen Bestimmungen keinesfalls als andre Dinge in den Sinnendingen behauptet hat. Sondern er hat nach ARISTOTELES Meinung sie vom Sinnlichen getrennt, aber sie eben doch dinglich gesetzt. Und da würde wenigstens das letzte Argument ihn gleichfalls treffen.

b) Gegen diese Trennung nun gilt vor allem der Einwand (XIII 2, 1076 b 11-39) der unnützen Häufung (sôreusis, l. 29) der Annahmen. Es würde nicht nur außer den sinnlichen Körpern, Flächen, Linien, Punkten der reine Körper, die reine Fläche, die[442] reine Linie, der reine Punkt zu setzen sein, sondern, da der reine Körper wiederum Fläche, Linie und Punkt in sich schlösse, so wären diese als logische Voraussetzungen des Körpers an sich nochmals an sich zu setzen, ferner noch eine Linie an sich und ein Punkt an sich als Voraussetzung der Fläche an sich, und schließlich noch ein Punkt an sich als Voraussetzung der Linie an sich. Es existierten also vier Punkte an sich, drei Linien an sich und zwei Flächen an sich. Welche von diesen sollen nun die Objekte der Mathematik sein? – Das Argument verdient in aller seiner Torheit vorgeführt zu werden als einer der krassesten Belege für die Naivität, in der sich ARISTOTELES das Ansichsein der Ideen deutlich zu machen versucht hat. – Die Unsinnigkeit der Konsequenz steigert sich noch, wenn man dieselbe Betrachtung auf die Zahlen (l. 36 ff.) und auf die allgemeinen Axiome der Größenlehre (1077 a 9 – 14 nach BONITZ Deutung) ausdehnt. Ferner müßten mit demselben Rechte die Objekte der Astronomie, Optik, Harmonik an sich gesetzt werden, wobei besonders schwierig wäre, daß auch das Bewegte an sich sein würde, da doch den an sich seienden Ideen stets die Veränderlichkeit abgesprochen wurde. ARISTOTELES bezieht sich hier auf die schon in den Aporieen angestellte ähnliche Betrachtung (997 b 12 – 34), die bereits oben Berücksichtigung gefunden hat.

c) Einige weitere Argumente fußen auf den allgemeinen Voraussetzungen der aristotelischen Philosophie über die Bedingungen selbständiger Existenz. Die Grundbedingung ist die Form (Entelechie), die stets wenigstens als ein Analogen von Beseelung gedacht wird. Diese fehlt den mathematischen Objekten (1077 a 20 – 24), damit fehlt ihnen aber überhaupt ein Prinzip der Einheit, des »Zusammenbleibens« Allgemein ist das Unvollkommnere zwar dem Werden nach früher, aber dem Sein nach später als das Vollkommnere (l. 14 – 20), also Körper an sich früher als Fläche und Linie. So ist auch nur der Körper der Beseelung fähig, nicht die Fläche und Linie. Also könnte allenfalls jener Substanz sein, aber keinesfalls diese. Nicht einmal als Materie kann die bloße Fläche oder Linie oder der Punkt angesehen werden, da auch kein substanzfähiges Ding daraus werden könnte. Also kommt diesen eine Priorität nur dem Begriff nach zu, die nicht substanzielle Priorität ist oder beweist; z.B. das Weiß ist nicht substanziell vor dem weißen Ding, sondern existiert nur zugleich mit ihm, obwohl es ein abstrahierbares Merkmal ist. Das wird dann noch bestätigt durch die oben[443] (S. 422) schon vorgeführte allgemeine Erwägung über die bloß abstraktive Bedeutung der wissenschaftlichen Allgemeinbegriffe.

Diese Kritik mag, möglichen und verbreiteten Mißverständnissen der platonischen Lehre gegenüber, ihren Wert haben; PLATO selbst wird dadurch so wenig getroffen wie durch die ganze, die Dinghaftigkeit der Ideen voraussetzende Polemik gegen die Ideenlehre. ARISTOTELES selbst ist allerdings irgend ein Bedenken, ob wirklich PLATO die Ideen und das Mathematische als getrennte einzelne Substanzen gedacht habe, wie wiederholt bemerkt, niemals aufgestoßen. Er sieht, was das Mathematische betrifft, eben hierin den Unterschied der Lehre PLATOS von der der Pythagoreer, mit der sie sonst, seiner Meinung nach, gänzlich identisch wäre. Die Pythagoreer hatten sich der verhängnisvollen Trennung des Mathematischen vom Sinnlichen noch nicht schuldig gemacht (1090 a 20 ff.; 31), obgleich sie sonst Fehler genug machten. PLATO vollzog diese Trennung, weil ihm nur so die mathematische Wissenschaft möglich schien (l. 27). Aber wenn schon jene darin schwer irrten, daß sie aus bloß mathematischen Begriffen die Sinnendinge konstruieren wollten, und so allerdings scheinen konnten von einem andern Himmel und andern Körpern zu reden als den sinnlichen, was doch ihre wirkliche Meinung nicht war, so trennte PLATO das Mathematische vollends vom Sinnlichen, damit doch die reinen Grundsätze der Mathematik, die sich dem Bewußtsein so einschmeicheln (sainei tên psychên, l. 37), auch Objekte haben, von denen sie gelten.

d) Gegen beide gemeinsam richtet sich der (öfter wiederholte) Einwand, daß bloß mathematische Begriffe zur Erklärung aller nicht-mathematischen Eigenschaften der sinnlichen Objekte nichts beitragen (1090 b 16 – 25). So auch I 8: die mathematischen Prinzipien enthalten besonders keinen Erklärungsgrund für die Veränderung; und wenn die Ausdehnung der Körper auch durch sie gedeckt würde, was übrigens ARISTOTELES nicht etwa zugibt (XIII 8, 1083 b 8 – 19), so jedenfalls nicht die Qualität.

Allgemein: denkt man sich das Mathematische vom Sinnlichen getrennt und nicht bloß als von diesem zu abstrahierende Bestimmung, so könnte die Ausdehnung existieren ohne die Zahl, die Seele und die sinnlichen Körper ohne den Raum. So episodisch aber (d.h. ohne inneren, zwingenden Zusammenhang), gleich einer schlechten Tragödie (19 – 20), ist das Sein nicht. (Derselbe Vorwurf XII 10, 1075 b 37). Es müsse, will er sagen, die Substanz schlechthin zu Grunde liegen, nur so entbehre[444] das Sein nicht der Einheit deren es bedarf, denn es will nicht mit einer schlechten Verfassung sich begnügen, und »Nichts Gutes ist Vielherrschaft: Einer sei Herr!« nach dem Dichter. Daß man den Begriff des Einen an die Spitze stellt, gibt den Dingen keine Einheit, denn diese Einheit stände dann für sich und wäre nicht die der Dinge, auch wenn man sonst Alles gelten ließe (I 9, 992 b 9 – 13). – Unsre Antwort auf dies Argument des Monismus darf sich kurz fassen. Der Idealismus sucht auch die Einheit des Gegenstands, aber er fühlt die Verpflichtung sie zu begründen in der Einheit der Methode des Denkens. Eine abseits dieser Begründung behauptete Einheit könnte nur erschlichen werden. In dieser Erschleichung besteht das Wesen des Dogmatismus. Bei ARISTOTELES ist sie noch ganz naiv; heute ist sie, in gleicher Naivität wenigstens, nicht mehr möglich.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 442-445.
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