2. Die Idealzahlen.

[445] a) Die Genesis der Zahlen überhaupt und die Materie des Groß-und-Kleinen. – In derselben äußerlichen Scheidung, wie das Mathematische dem Sinnlichen, denkt sich ARISTOTELES wiederum die den Ideen gleichgesetzten (höheren) Zahlen den mathematischen Zahlen und Größen gegenüber. Dann ist vor allem nicht zu begreifen, woher die letzteren, ohne wiederum eigne Prinzipien, kommen (XIV 3, 1090 b 32 -1091 a 5; vgl. I 9, 991 b 27). Das Groß-und-Kleine soll den Stoff für die Ideenzahlen bilden, dasselbe aber soll auch wieder die Grundlage der mathematischen Zahlen sein. Auch das Eine, als formales Prinzip, müßte für beide einstehen, für die Idealzahl und die mathematische. Das alles will sich nicht reimen. Man tut damit der Mathematik Gewalt an (so schon 1090 b 28, vgl. auch De caelo III 1, 298 b 33 ff.; ebenda 7, 306 a 1 ff.), namentlich das Groß-und-Kleine »möchten schreien, wie sie hin- und hergezerrt werden« (1091 a 10). Wie die Sklaven, wenn sie nichts Vernünftiges mehr zu sagen wissen, macht man ein langes Gerede darum, wobei doch nichts herauskommt (1091 a 8, vgl. 1090 b 30).

Es ist sehr zu besorgen, daß dieser Tadel auf den ungehaltenen Tadler selbst zurückfällt, der mit derartiger Polemik ganze Bücher füllt und damit den Kern der Frage so offenbar verfehlt. Ihm bleibt das Verständnis völlig verschlossen für die genetische Absicht der platonischen Aufstellung. Er erklärt einmal rundweg: Es gibt überhaupt keine Genesis des Ewigen, denn nichts kann früher sein als was immer ist[445] (XIV 3, 1091 a 14 – 28). Also gäbe es gar nicht ein Früher dem Begriff nach?! Zwar berührt er selbst (l. 28) die Möglichkeit, daß man nur »der Theorie halber« wie von einem zeitlichen Werden der Zahlen rede. Aber er meint, wenn man zum Beispiel die Zahl hervorgehen lasse durch das »Gleichwerden des Ungleichen«, so nehme man doch damit an, daß die Ungleichheit vorher da war, ehe die Gleichheit entstand, also rede man doch von einem zeitlichen Werden. (Damit vergleiche man das Argument betreffs der Gewordenheit der Weltordnung, De caelo I 10, 279 b 32 ff.; auch das Mißverständnis über die Gewordenheit der Zeit, Phys. VIII 1, 251 b 17, hängt hiermit zusammen.) So auch Metaph. XIV 2 (1088 b 14 – 35:) Läßt man die Zahl aus einem stofflichen und einem formalen Prinzip erst hervorgehn, so möchte sie immerhin tatsächlich ewig sein, aber sie könnte ebensowohl nichtsein. – Hier (wie schon oben bei der Idee des Guten s. S. 432) fällt besonders auf, daß ARISTOTELES unter dem Immersein der Prinzipien eine unbegrenzte Dauer in der Zeit versteht (l. 23).

Dann greift er besonders die Annahme des Gegensatzes des Großen und Kleinen als der Materie der Idealzahlen an (XIV 1). Ein Gegensatz (wie man ihn auch fasse; über diese verschiedenen Fassungen s. o. S. 435 f.) könne überhaupt nicht Prinzip sein. Die Einheit allein würde als Prinzip nicht hinreichen, denn man meint offenbar das Maß (1087 b 33), dieses erfordert aber ein Andres als Gemessenes. Wenn man aber dies definiert als das Ungleiche oder die unbestimmte Zweiheit des Groß-und-Kleinen (1088 a 15 ff.), so sind das vielmehr abhängende Eigenschaften als Grundlagen der Zahl und Größe; das Mehr und Weniger ist das Mehr und Weniger der Zahl, das Größer und Kleiner das der Größe, ebenso wie Gerade und Ungerade, Glatt und Rauh, Gerade und Krumm Eigenschaften und nicht Grundlagen sind (vgl. Phys. III 5, 204 a 17). Überdies sind das Relativitäten, das Relative eignet sich aber am wenigsten zu einer »Natur« oder »Wesenheit«, weniger noch als das Quäle und Quantum; denn es ist nur eine abhängende Eigenschaft des Quäle und Quantum, nicht ihre Grundlage. Es fordert vielmehr selbst etwas Andres zur Unterlage, als daß es Unterlage sein könnte. Es ist weder potenziell noch aktuell Substanz (1088 b 2); es ist aber ganz etwas Unmögliches (heißt es hier nochmals, wie oben S. 421), etwas, das nicht Substanz ist, als Element der Substanz zu setzen und ihm eine Priorität vor dieser zuzuschreiben.[446]

Den Hauptgrund, weswegen man auf dies verkehrte Prinzip verfiel, glaubt ARISTOTELES (1088 b 36 ff.) in den durch PARMENIDES angeregten Schwierigkeiten zu erkennen, denen man viel zu viel Gewicht beigemessen habe. Man glaubte gegen PARMENIDES erweisen zu müssen, daß das Nichtseiende doch gewissermaßen sei (s. PLATO im Sophisten), da ohne diese Voraussetzung die Vielheit und das Werden nicht zu erklären sei. Dabei habe man sich jedoch nicht deutlich gemacht, um welchen Begriff des Seins und entsprechend des Nichtseins es sich eigentlich handle, denn die Bedeutungen beider gliedern sich gemäß den Kategorieen, und außerdem gibt es noch das Nichtseiende im Sinne des Falschen und in dem des potenziell Seienden. Nur das Letztere ist Voraussetzung des Werdens. Die Potenz gibt es nun zwar in jeder Kategorie, aber sie ist keinesfalls trennbar von den Substanzen (1089 b 28). Der Hauptsinn der weiteren, dunklen und schwierigen Erörterung scheint (nach dem Schluß, 1089 b 32 – 1090 a 2) dieser zu sein: Aus dem Groß-und-Kleinen könnte allenfalls die Quantität, aber keinesfalls die Substanz, auch nicht die Vielheit der Substanzen hergeleitet werden.

Gewiß kann man nicht aus einer bloßen abhängigen Bestimmung der Substanz, zumal der abhängigsten von allen, der Relation, die Substanz herleiten. Aber es ist nur das durchgehende Mißverständnis des ARISTOTELES und die für ihn einmal unübersteigliche Schranke seiner metaphysischen Denkweise, daß er sich durchaus nicht in eine Ansicht versetzen kann, die überhaupt nicht Dinge und Bestimmtheiten von Dingen zu Grunde legt, sondern den Gegenstand der Erkenntnis erst aufbauen will aus den eignen Grundlagen des Denkens, zuletzt aus der Grundbeziehung des A zum x in der Gleichung der Erkenntnis, dem Urteil. In dieser Gleichung gewinnt allerdings das x erst seinen näheren Sinn durch die Beziehung auf die Bestimmungen selbst, es wird zum Beispiel das x zum Ungleichen oder zum Relativen und so fort, sofern seine Bestimmung im Begriff des Gleichen oder des bestimmten Terminus der Relation und so fort zu vollziehen ist. Aber es bleibt immer der Gegensatz des zu Bestimmenden, in sich Unbestimmten, und seiner Bestimmung durch die Erkenntnis. Es kann also nicht die Unbestimmtheit als bloßes, abhängiges Prädikat des schon bestimmten Seins gedacht werden, so wie ARISTOTELES seine Potenzialitäten dem aktuellen Sein inhärieren läßt. Es ist nichts als der unverbesserliche Dogmatismus des ARISTOTELES,[447] dein immer das, was bestimmt erkannt werden soll, voraus schon an sich, wenn auch noch nicht für uns (oder richtiger für uns nur potenziell) als bestimmt gilt. Solcher Dogmatismus kann freilich des Problemausdrucks des Gegenstands (den wir der Analogie nach das x der Gleichung der Erkenntnis nannten) entraten, vielmehr er vermag ihm überhaupt keinen Sinn abzugewinnen, und indem er dann den gemeinten Sinn sich von seinen Voraussetzungen aus zurechtzulegen sucht, kann er gar nicht anders als ihn verfehlen. Aber so hört überhaupt der Gegenstand auf Problem zu sein, Erkenntnis wird Tautologie. Es gibt keine Genesis der Erkenntnis mehr, keine Entwicklung, kein Leben, sie scheint da zu stehen, ein für alle Mal fertig, tot.

b) Eine weitere Reihe von Einwänden betrifft die besonderen Annahmen über die Bildung der Zahlen aus der Materie, der unbestimmten Zweiheit oder dem Groß-und-Kleinen.

Sehr sophistisch ist das Dilemma (XIII 8, 1083 b 23 – 36): Soll jede Einheit aus dem Groß-und-Kleinen durch Gleichwerden hervorgehn, oder die einen aus dem Großen, die andern aus dem Kleinen? Wenn (selbstverständlich) das Erstere, wie ist dann, fragt ARISTOTELES weiter, die Zweiheit begrifflich Eines (vgl. 992 a 1), da sie doch aus einem Doppelten und Gegensätzlichen hervorgeht? (Darauf ist sehr leicht zu antworten: Jede Bestimmtheit setzt eine Grenze zwischen dem Mehr und Weniger.) Oder wenn begrifflich Eins, wie unterscheidet sie sich dann von der Einheit? Und wenn diese, als ihre Voraussetzung, früher, mithin früher geworden ist, woraus soll sie geworden sein, da die unbestimmte Zweiheit ja immer Zweiheit hervorbringen soll? (Ähnlich 991 b 31: Jede der Einheiten in der Zwei müßte aus einer früheren Zweiheit hervorgegangen sein, was unmöglich.) – Alle diese Schwierigkeiten sind für den nicht vorhanden, der nicht unter den platonischen Zahlen Dinge und unter ihrer Erzeugung eine Entstehung wie von Dingen versteht. Ganz unverdeckt aber wendet ARISTOTELES (XIV 5, 1092 a 22 – b 8) auf die behauptete Genesis der Zahlen seine Begriffe der zeitlichen Entstehung von Dingen an, und findet, sehr begreiflich, keine der Arten dieser Entstehung auf sie anwendbar.

Die Sache wird natürlich nicht besser, wenn man an die Stelle der unbestimmten Zweiheit den allgemeineren Begriff der Mannigfaltigkeit[448] (plêthos) setzt (XIII 9, 1085 b 5-34). Namentlich bleibt auch so schwierig, wie die Einheiten entstehen sollen aus der Einheit an sich und der Mannigfaltigkeit. Übrigens, meint ARISTOTELES, lasse man so am Ende nur die Zahl aus der Zahl hervorgehn, denn Mannigfaltigkeit sei schon Zahl. (Ähnlich 1087 b 23, 990 b 19 von der Zweiheit des Groß-und-Kleinen.) – In diesem Argument vernachlässigt ARISTOTELES ganz die ausdrücklich von PLATO aufgestellte und stets festgehaltene Unterscheidung der unbestimmten Mannigfaltigkeit (»Mannigfaltigkeit ohne Einheit«) von der bestimmten. Noch wunderlicher ist es, wenn er weiterhin zweifelt, ob die unendliche Mannigfaltigkeit gemeint sei oder eine endliche. Wie kann Einer das Prinzip, aus welchem, durch die Eins, erst alle Zahl hervorgehn soll, selbst als Zahl verstehen!

Gegen die Einheit als erzeugendes, formales Prinzip richtet sich das Argument (XIII 8, 1084 b 3 – 1085 a 6): Dem Begriff nach sei vielmehr die Zahl, dagegen die Eins, als Teil der Zahl, nur stofflich das Frühere. Denn die Zahl zwar, als Ganzes, sei aktuell Eines, die Einheiten aber, aus denen sie besteht, nur potenziell. Er erklärt sich den Fehler daraus, daß man zugleich den mathematischen und den logischen Gesichtspunkt habe festhalten wollen; mathematisch sei allerdings der Punkt (und so die Eins) das Erste, logisch aber nicht. Beide Gesichtspunkte zu vereinigen gehe nicht an. – Aber Bestimmen heißt Einheit Setzen, also gibt es gewiß kein fundamentaleres Prinzip der Bestimmung als die Einheit. Diese ist insofern freilich nicht die numerische; es soll aber wohl auch nach PLATO die numerische Einheit erst in und mit der bestimmten Vielheit hervorgehn.

Weiter: Sollen die Zahlen an sich existieren, so ist der Frage nicht auszuweichen, ob sie endlich sind oder unendlich (1083 b 37 – 1084 b 2). Darüber aber habe man nichts mit ernster Absicht des Beweisens aufgestellt (XII 8, 1073 a 17 – 22). Eine aktuell unendliche Zahl ist nun unmöglich; sollte sie z, B. gerade oder ungerade sein? Und wenn die Zahlen Ideen sein sollen, wovon sollten sie, als unendlich, die Ideen sein? Das ist nach den eignen Prinzipien dieser Lehre nicht zu verstehen (weil die Idee vielmehr das Prinzip dieser Begrenzung sein soll). Ist aber die Reihe der Zahlen endlich, wie weit will man denn gehen? Wenn nur bis zur Zehn, wie Einige wollen (vgl. XII 8, a. a. O; Phys. III 6, 206 b 27 – 33), so ist man freilich rasch mit den Ideen zu Ende; das würde schon für die Tierarten nicht ausreichen. Überdies wäre es seltsam, wenn es von der Zehn[449] eine Idee geben sollte, von der Elf und allen folgenden Zahlen nicht; und dergleichen mehr. – Auch hier hätte sich ARISTOTELES aus dem Sinne der platonischen Aufstellungen die Antwort leicht geben können, wenn er diesen Sinn überhaupt begriffen hätte. Die schließlichen Grundbegriffe können allerdings nur in geschlossener Zahl gedacht werden, den Ableitungen aber aus diesen ist keine Schranke gezogen. Daß der Begriff Bestimmtheit besagt, hindert nicht, daß der Begriffe unendlich viele sind. Die Bestimmung geht eben darum ins Unendliche, weil sie Bestimmung des Unbestimmten ist.

c) Aber den ganzen Begriff der Idealzahlen glaubt ARISTOTELES als hinfällig zu erweisen (XIII 6 – 8). Man gebrauche mathematische Begriffe nicht im mathematischen Sinn (1080 b 28), wenn man von Großen rede, die sich nicht wieder in Größen teilen, oder von Einheiten, die sich nicht zur Zweiheit und so fort addieren. Übrigens zieht er hier mit größter Genauigkeit alle Denkbarkeiten in Betracht: daß die Zahlen und ihre Einheiten allgemein addierbar, oder allgemein nicht addierbar angenommen würden, oder die Einheiten jeder Zahl unter sich addierbar, aber nicht addierbar mit denen jeder andern Zahl. Die zweite Einteilung (1080 a 37 ff.), ob man die Zahlen von den Sinnendingen trennbar annimmt oder nicht, kommt für uns nicht in Betracht, da das Letztere nur die Lehre der Pythagoreer angeht, während für PLATO und dessen Schule ihm das Erstere für ausgemacht gilt.

α Die Einheiten seien alle gleichartig (homoioi, 1081 a 10), durch nichts von einander unterschieden (1080 a 22), also in einer Reihe stehend (ephexês l. 20), mithin allgemein addierbar (symblêtai). Dann ist es einfach die mathematische Zahl, von der man redet, und es gibt keine andre. Sie kann aber dann nicht zugleich für alles das einstehen, was die Idee leisten soll. Die Ideen sollten doch begrifflich verschieden sein. Und da auch nichts Andres aus der Eins und der unbestimmten Zweiheit sich erzeugen würde als die mathematische Zahl, so könnte es auch nicht außerdem die Ideen geben.

β Sind dagegen die Einheiten durchaus ungleichartig, mithin nicht addierbar, so würde auch nicht eine Zweiheit, Dreiheit und so fort daraus entstehen können; denn, wie man sich auch diese Entstehung denken mag, so müßten die in der Zweiheit, Dreiheit u.s.f. zusammengefaßten Einheiten zugleich (ohne einen Vorrang der einen vor der andern) hervorgehn. Denn, wenn[450] nicht, so wäre die erste Einheit z.B. der Zwei voraus da vor der andern, folglich vor der Zweiheit selbst, da diese ja erst mit dem Hinzukommen der andern Einheit fertig wird. Also wäre die Zweiheit nicht mehr ein ursprünglich erzeugter Begriff, was er doch sein sollte. – Ferner, es soll das Erste die Eins sein, das Zweite die Zwei u.s.f. Aber das Zweite wäre vielmehr die erste Einheit der Zwei, mit der also eigentlich die Zweiheit schon gegeben wäre, während mit der andern Einheit der der These nach ursprünglichen Zweiheit es schon drei Einheiten, also die Dreiheit schon da wäre, die doch erst hernach kommen soll, und so fort. Es läßt sich eben doch nicht wegbringen (will er sagen), daß die Einheiten sich nach den Gesetzen der Zahl verhalten, d.h. sich gleichartig aneinanderreihen müssen, wenn man auch, der Theorie zuliebe, gern das Gegenteil annehmen möchte. Einheiten sind eben als solche gleichartig und addierbar, es gibt keinen andern Begriff der Einheit, will ARISTOTELES sagen. Das wird dann noch weiter ausgeführt (1081 b 10 ff.). Mag man die Einheiten unterschiedslos setzen oder wodurch immer unterschieden, eine Zahl wird daraus nur durch Addition, z.B. 2 aus 1 + 1, 3 durch Zusatz einer weiteren Einheit, und so fort. Man kann es also gar nicht ausschließen, daß die Zweiheit ein Teil der Dreiheit, diese ein Teil der Vierheit wird und so fort. Oder soll 4 etwa aus 2 + 2 entstehen, so müßte man zwei Zweiheiten in ihr setzen, außer der Zweiheit an sich, und so fort. Das alles sind unhaltbare Fiktionen (1081 b 30). Ferner 992 a 2 – 10: Die Einheiten wären gar nichts Gleichartiges mehr, das Wort »Eins« wäre unendlich vieldeutig gebraucht.

γ So möchte die dritte Annahme noch am erträglichsten scheinen: die Einheiten jeder Idealzahl seien unter sich gleichartig und addierbar, dagegen ungleichartig und unaddierbar zu den Einheiten jeder andern Idealzahl. Aber der Grundfehler bleibt derselbe: daß die Idealzahlen hinsichtlich ihrer Ableitung von einander gedacht werden wie die richtigen Zahlen, und daß doch die Gleichartigkeit und Addierbarkeit der Einheiten, welche die unerläßliche Voraussetzung dieser Ableitung wäre, nicht stattfinden soll.

Zunächst läßt sich die Gleichartigkeit der Teile innerhalb jeder Idealzahl nicht aufrechterhalten, wenn doch diesen Teilen auch wieder ihre besondere begriffliche Bedeutung zukommen, wenn z.B. die Vierheit aus zwei Zweiheiten, die auch wiederum Ideen vertreten, bestehen soll. (Dies scheint der Sinn des[451] dunkel gefaßten Arguments 1082 a 1 – 14, s. BONITZ.) Ferner (l. 15 – 26): die Zweiheit soll etwas für sich sein außer den zwei Einheiten. Wie besteht sie dann doch aus diesen, oder wie sind sie in ihr geeint? Bei gleichartigen Einheiten kann die Zweiheit nichts außer den zwei Einheiten sein. – Sodann (a 26 – b 1): mögen immerhin die zwei Zweiheiten in der Vierheit zugleich sein, so ist doch die Vier an sich früher als die beiden Vieren in der Acht an sich, die ja durch jene erst erzeugt, also später sein soll. Dasselbe gilt von den beiden Zweiheiten in der Vierheit, im Verhältnis zur ursprünglichen Zweiheit, und schließlich von den Einheiten in der Zweiheit gegenüber der ursprünglichen Einheit. So werden schließlich alle Einheiten in den Idealzahlen Ideen sein, die Idealzahlen also aus Ideen zusammengesetzte Ideen. Dann müßte aber auch das, wovon sie die Ideen sein sollen, in entsprechender Weise zusammengesetzt sein, zum Beispiel, wenn es die Ideen von Tiergattungen sein sollten, wäre eine Gattung aus mehreren andern zusammengesetzt. (Vgl. 1084 a 21 ff.: Wenn z.B. die Dreiheit die Idee des Menschen, die Vierheit die des Pferdes verträte, so wäre die Menschheit ein Teil der Pferdheit.)

Überhaupt ist es eine leere, der Theorie zuliebe erzwungene Fiktion, Einheit und Einheit von einander verschieden zu setzen. Als Einheiten unterscheiden sie sich weder quantitativ noch qualitativ (1082 b 2 – 11, vgl. 991 b 21 – 27). Eins und Eins sind nun einmal immer Zwei, sogar wenn man die Begriffe auf Ungleichartiges anwendet wie Gut und Schlecht, Mensch und Pferd. Bei den Platonikern dagegen sollen nicht einmal die reinen Einheiten sich addieren (1082 b 11 – 19). Soll etwa Drei nicht mehr als Zwei sein? Wenn mehr, so ist ein Teil der Drei = Zwei, es findet also Gleichheit statt, gegen die Voraussetzung. Sollen aber die Zahlen Ideen bedeuten, so muß man die Ungleichartigkeit behaupten, die Ideen bedeuten ja eben begriffliche Verschiedenheiten. Somit entspricht freilich die Annahme der Ungleichartigkeit der allgemeinen Voraussetzung, aber sie ist in sich unhaltbar und macht damit die Voraussetzung unhaltbar (1082 b 19 – 37).

Was sollte überhaupt der Unterschied der Einheiten und der Zahlen sein? Zahlen unterscheiden sich als solche der Quantität nach, aber die Einheiten als Einheiten können sich nicht quantitativ unterscheiden, sonst wären auch die aus gleich vielen Einheiten gebildeten Zahlen quantitativ verschieden.[452] Sollten die früheren Einheiten kleiner sein, die folgenden größer und größer werden, oder umgekehrt? Das alles wäre unlogisch. Aber auch eine qualitative Verschiedenheit läßt sich nicht denken. Die Einheit ist qualitätslos, die Zweiheit nur Grund der Vervielfältigung. Sollte es anders sein, so hätte man das gleich zu Anfang sagen, man hätte erklären müssen, worin die Verschiedenheit der Einheiten bestehe, und vor allem, weshalb eine solche notwendig stattfinde (1083 a 15 – 17).

Zu der ganzen subtilen Kritik macht BONITZ (im Kommentar zur Metaphysik, S. 533) die sehr begründete Anmerkung, daß ARISTOTELES nicht aus den gewöhnlichen Begriffen der Einheit und der Zahl hätte argumentieren dürfen, wenn doch PLATO diese schon in seiner ersten Annahme (der Ungleichartigkeit der Einheiten) abgelehnt hatte. Er hätte sich begnügen sollen, meint BONITZ, einfach den innern Widerspruch dieser Annahme ungleichartiger Einheiten nachzuweisen. Indessen, so richtig das Erstere ist, so dürfte die letzte Bemerkung wohl nicht ins Schwarze treffen. Hat PLATO ein so wesentliches Merkmal der Zahl wie die Gleichartigkeit und also Addierbarkeit der Einheiten von seinen Idealzahlen verneint, so handelt es sich um eine Erweiterung des Begriffs der Zahl, deren Recht zu prüfen war. Es hätte gefragt werden müssen, ob es eine ebenso gesetzmäßige Erzeugung von Begriffen wie die der Zahlen aus der Einheit auch im nichtquantitativen Gebiet, ob es eine ebenso gesetzmäßige Erzeugung auch der Qualitäten gibt; und ob diese der Erzeugung der Zahl etwa nicht bloß parallel geht, sondern ein einheitlicher Gesetzesgrund existiert, aus dem beide gleichermaßen und in notwendiger Korrelation zu einander hervorgehen. Da ARISTOTELES an eine solche Möglichkeit auch nicht im entferntesten denkt, so ist seine ganze, unter seinen falschen Voraussetzungen gewiß überaus gründlich durchgeführte Widerlegung nichts als ein einziges großes Mißverständnis des Fragepunkts, eine ignoratio elenchi. Zu einiger Entschuldigung gereicht ihm, daß PLATO selbst den großen und neuen Gedanken, mit dem er rang, vielleicht nicht bis zu dem Grade der Deutlichkeit sich entwickelt hatte, der genügt hätte, alle Zweifel zu zerstreuen, und daß er, und mehr noch die Schüler, in der weiteren Ausführung seiner Idee sich auf Gedankenspiele einließ, in denen ein so geübter Beweiskünstler wie ARISTOTELES nicht ohne Grund den »apodeiktischen Ernst« vermissen konnte.[453]

d) Wäre aber auch der Begriff der Idealzahlen in sich möglich, so versteht man doch nicht, inwiefern die Zahlen Ursachen der Wesenheiten und des Seins sein können (1092 b 8 – 26, vgl. 991 b 9 – 21). Etwa so, wie die Endpunkte die geometrische Gestalt definieren, oder wie die Harmonieverhältnisse sich durch Zahlproportionen ausdrücken? Aber wie könnten auf die erstere Weise Qualitäten wie Weiß, Süß, Warm definiert werden? Eine Zahlproportion aber kann zwar wohl eine Definition liefern, zum Beispiel eine stoffliche Zusammensetzung wird definiert durch das Verhältnis, in dem die Stoffe sich mischen; aber dann ist erstens das Zahlverhältnis die Wesenheit, nicht die Zahl; diese ist höchstens die Materie (l. 18); und sie fordert überdies stets noch das Andre, dessen Zahl sie ist; sie bedeutet etwa so und so viel Teile des und des Stoffs und dergleichen. Auch so wäre die reine Zahl nicht einmal die stoffliche Ursache, viel weniger die formale oder die bewegende oder Endursache.

Als einziger Versuch einer bestimmteren Durchführung der Theorie lag ihre Anwendung auf die Ableitung der geometrischen Grundbegriffe vor. ARISTOTELES unterläßt nicht auch diese noch einer besonderen Kritik zu unterziehen (XIII 9, 1085 a 7 – b 4, vgl. I 9, 992 a 10 – 24 und b 13 – 18). Man ließ den drei Dimensionen des Raumes drei Arten des Groß-und-Kleinen entsprechen: das Lang und Kurz, Breit und Schmal, Tief und Flach (vgl. PLATO im Staat, 528 DE, im Staatsmann, 299 E, und in den Gesetzen, 819 E, wozu RITTERS Kommentar). Aber so ständen die Dimensionen abgelöst neben einander, es gäbe keinen stetigen Übergang von der Länge zur Fläche und von dieser zum Körper, da zwischen den Arten des Groß-und-Kleinen doch kein solcher angenommen werden dürfte, denn sie sollten dem Begriff nach verschieden sein (1085 a 9 – 19; 992 a 10 – 19). Ferner, wie wollte man Winkel, Gestalten usw. ableiten? Übrigens verhält es sich hier ganz wie bei den Zahlen: alles Genannte, Länge, Breite und Tiefe, sind Bestimmungen der räumlichen Ausdehnung (deren Begriff also schon zu Grunde liegen muß), und erzeugen nicht die Ausdehnung (1085 a 19 – 23). Den Punkt wollte PLATO, wie gesagt, gar nicht als eignen Begriff gelten lassen, sondern erklärte ihn als die Linie in ihrem unteilbaren Ursprung. Aber als Grenze ist er doch ein selbständiger Begriff, so gut wie Linie und Fläche, wendet ARISTOTELES ein (992 a 19 – 24).

Andre wollten den Raum erzeugen aus dem Punkt, der etwas[454] wie die Einheit sei, und einem zweiten, der Mannigfaltigkeit entsprechenden, mithin stofflichen Prinzip. Das entspräche eher der Forderung eines einheitlichen Grundbegriffs des Raumes, vorbeigehend den Begriffen der räumlichen Dimensionen. Aber aus einer einheitlichen Materie wäre der Unterschied der drei Dimensionen, aus je einer besonderen für jede von diesen ihr stetiger Zusammenhang nicht zu erklären, wie vorher (1085 a 32 – b 4.)

Diese Bedenken würden sich befriedigend nur beantworten lassen durch eine wirklich genetische Darstellung der Raumgesetze aus den Gesetzen nicht sowohl der Zahl als der Mannigfaltigkeit überhaupt, wie die neuere Mathematik sie ins Auge faßt und wie sie, denke ich, auch geleistet werden kann. Daß PLATO sie nicht geleistet hat, ist gewiß zuzugeben. Daß sie aber überhaupt nicht zu leisten sei, daß die Forderung dieser Herleitung nicht zu Recht bestehe, folgt daraus keinesfalls. Also würde die Widerlegung, auch wenn sie übrigens zuträfe, zwar die Durchführung, aber nicht das Prinzip treffen.

Da nun der geometrische Raum sich nicht aus den als Zahlen gedachten Ideen ergibt, er aber doch, gleich diesen, sowohl vom Sinnlichen als vom Mathematischen, das eine Mittelstellung zwischen jenen und diesem einnehmen sollte, unterschieden wird, so müßte er noch ein Viertes neben diesen allen (den Ideen, dem Mathematischen und dem Sinnlichen) sein (992 b 13 – 18).

e) Als letzter Fragepunkt bleibt übrig, wie die als Zahlen gefaßten Ideen sich zum Guten verhalten (XIV 4 – 5, 1091 a 30 – 1092 a 17, und Kap. 6). Das Eine an sich soll zugleich das Gute an sich sein (1091 b 14). Nun ist es zwar ganz richtig, das letzte, sich selbst genügende, unvergängliche Prinzip zugleich als das Gute anzunehmen, denn nur darum erhält es sich und ist sich selbst genug, weil es gut ist (l. 15 – 20). Aber es als das Eine zu setzen und dieses als das letzte Element der Zahl, hat doch seine große Schwierigkeit. Es wäre dann z.B. alles numerisch Eine an und für sich etwas Gutes, und so an Gutem freilich kein Mangel (b 25). Und alle Ideen wären an und für sich etwas Gutes. Da hätte man dann die Wahl, entweder nur vom Guten Ideen zu setzen, dann gäbe es keine von den Substanzen, oder, wenn auch von diesen, so wären z.B. alle Tiere und Pflanzen gut, nicht nur die Ideen, sondern auch, was daran teilhat. Dagegen müßte dann das dem Einem entgegengesetzte Prinzip (das Mannigfaltige oder wie man es sonst definieren mag)[455] das Schlechte vertreten. Dann hätte überhaupt alles an Schlechtigkeit teil außer dem an sich Einen; die Zahlen sogar an noch reinerer Schlechtigkeit als die Raumgrößen. Das Schlechte wäre der Ort oder, wenn man die aristotelische Korrektur des Begriffs der Materie annimmt, die Potenz des Guten. Da nun andrerseits das Gute doch notwendig unter den Prinzipien seine Stelle finden muß, so müssen wohl die Prinzipien in jener Lehre unrichtig angesetzt sein.

Kap. 6: Man gibt als Grund des Guten das bestimmte Zahlverhältnis an. (So in der Tat PLATO im Philebus.) Aber das bloße zahlengemäße Verhältnis begründet als solches nicht die Güte einer Sache. Alles, was man im Einzelnen als Beleg anführt, beruht in der Tat nur auf nichts beweisenden, spielerischen Analogieen (1093 a 1 – b 6). Übrigens würde z.B. die Harmonie aus den Idealzahlen nicht einmal hervorgehen, da bei diesen die nach gewöhnlichen Zahlbegriffen gleichen Zahlen qualitativ verschieden sein sollen (1093 b 21 – 24).

Es ist auch hier anzuerkennen, daß die Einwände auf wirkliche Fehler oder Mängel in der Durchführung der fraglichen Theorie hinweisen. Es ist schwierig genug bei PLATO (auch im Philebus), wie die bloße Zahlbestimmtheit oder das zahlenmäßige Verhältnis, ohne daß ein Unterschied angegeben würde, zugleich Grund des Seins und des Guten sein soll, welches Beides doch keinesfalls ganz zusammenfällt. Daß aber Beides seinen gemeinsamen letzten Grund im Gesetz, im gesetzmäßigen Bestand hat, ist darum nicht weniger wahr, und wird von ARISTOTELES sogar in dieser Polemik selbst indirekt bestätigt, wenn er (1091b 17 – 18) den Begriff des Guten mit dem der Erhaltung (sôtêria) in engem Zusammenhang denkt. PLATO aber fanden wir bereits im Staat auf dem Wege, sowohl den Zusammenhang als den Unterschied der Begriffe des Seins und des Sollens zu entdecken als Zusammenhang und Unterschied fundamentaler Methoden der Erkenntnis, fundamentaler Arten, den Gegenstand zu setzen. Das ist es, was die aristotelische Kritik, hier wie durchweg, verfehlt.

Und so wird durch diese ganze Polemik, die bis heute das Arsenal aller Angriffe auf PLATO ist, das Grundprinzip der Ideenlehre, welches das Prinzip des Idealismus überhaupt ist, in keiner Weise erschüttert. Es ist geblieben und wird bleiben: das methodische Prinzip der Wissenschaft.[456]

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 445-457.
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