Drittes Kapitel.

Phaedrus.8

[53] Um für die eigenartige Form der Darstellung, in der hier die Ideenlehre auftritt, das volle Verständnis zu gewinnen, muß man sich voraus völlig klar sein über Anlage und Absicht des ganzen Werks, das, so berückend und fast berauschend der erste Eindruck ist, sich bei näherer Betrachtung als ungewöhnlich schwierig und verwickelt herausstellt.

Den leichtesten Zugang gewinnt man zu dem Werke vom Gorgias her. Beide Schriften stellen sich scheinbar dasselbe Thema, die Kritik der Redekunst. Aber sie stellen es in ganz verschiedenem Sinne. Der Gorgias beurteilt die Kunst der Rede, wie sie damals im Schwange war, nicht an und für sich, sondern ausschließlich nach dem, was freilich als ihr hauptsächlicher Inhalt und Wert damals galt: nach ihrer praktischen, sittlich-politischen, nach PLATOS Auffassung vielmehr unsittlichen und staatsverderbenden Tendenz, und stellt ihr gegenüber die Philosophie, zwar auch in Hinsicht der Form, aber doch vorzugsweise nach ihrem sittlichen Inhalt, als Richtschnur des Lebens, und dem daraus fließenden Anspruch einer durch sie zu übenden reformatorischen Wirkung auf die Öffentlichkeit. Im Phaedrus dagegen wird, ausdrücklich unter Absehung vom Gegenstande, insbesondre vom ethischen Inhalt, die Kunst der Rede an und für sich oder der Form nach untersucht, und ihr tritt die Philosophie ebenfalls der Form nach, daher als Dialektik, wiewohl unter Voraussetzung des ethischen Inhalts, gegenüber. Wie aber im Gorgias die positive Absicht einer Grundlegung zur philosophischen Ethik schließlich beherrschend vorantritt, so erweist sich im Phaedrus die Entwicklung des Begriffs und der Aufgabe der formalen Philosophie oder Dialektik zuletzt als Hauptabsicht, die Kritik der Redekunst, wie dort der Materie, so hier der Form nach, als diesem Hauptzweck nur untergeordnet.

Die Begründung für diese Auffassung, die den Schlüssel zum Verständnis des Aufbaus des Dialogs gibt, liefert zunächst die Analyse seines zweiten Teils (von 259 E ab), welcher, nachdem die drei Reden des ersten das beweisende Material bereitgestellt haben, die vergleichende Gegenüberstellung der Rhetorik[53] und Dialektik oder vielmehr die völlige Auflösung der ersteren, sofern es sich um die Form der Rede handelt, in die letztere theoretisch durchführt. Da ist gleich im Eingang die Anknüpfung an den Gorgias unverkennbar. Es wird das Ergebnis der dortigen Verhandlung zwischen SOKRATES und dem Rhetor (459 D u. ff.) in Erinnerung gebracht und festgehalten, dann aber in einem wichtigen Stück eingeschränkt und ergänzt: allerdings ist die erste Voraussetzung für die Darstellungskunst, daß man im Besitze des Wissens um die Wahrheit des Gegenstandes sei, nämlich des »Gerechten, Guten, Schönen« (Phaedr. 260 A, wie Gorg. 459 D); aber auch, wer die Sache versteht, bedarf dann noch der Kunst der Überredung und hätte also diese, nachdem jene erste Vorbedingung erfüllt ist, noch vom Rhetor zu lernen (Phaedr. 260 D, genau entsprechend Gorg. 460 in.). Das will sagen: nicht nach dem Inhalt der Rede soll für jetzt weiter die Frage sein, das ist abgetan; es bleibt aber übrig die eigentümliche Untersuchung über die Form der Rede.

Wird nun damit die Rhetorik als eigne »Kunde«, welche etwa die Philosophie ergänze, anerkannt? Keineswegs, denn das Ergebnis der damit erst eingeleiteten Untersuchung über die Form der Rede ist, daß alles, was daran wissenschaftliche Kunde, nicht bloß Empirie und unwissenschaftliche Routine ist (260E, 270B, E; Gorg. 463B, 465A, 501 in.), vielmehr Sache der Philosophie bleibt, nämlich erstens die logisch-formale Beherrschung des Gegenstands, auf der vor allem die Kunst der Disposition beruht, sodann die psychologische Erkenntnis der möglichen Wirkungen der Rede auf den zu Ueberredenden, auf die Seele des Hörers. Dies beides zusammen ist die wahre, wissenschaftliche Grundlage der Darstellungskunst, beides aber hängt ganz und gar ab von der Dialektik. Was sonst die Rhetoren zu lehren pflegen, sind nur gewisse Handgriffe untergeordneter Art von bestenfalls propädeutischem Wert für die wahre Redekunde; sie verhalten sich zu dieser etwa wie die Arzneimittellehre (um nicht zu sagen Quacksalberei) zur Heilkunde (268 f.). Die wahre Kunst der Rede besteht vielmehr darin, daß man erstens Natur und Arten der Seele, zweitens die entsprechenden Arten der Rede kennt, und so die Rede je auf die Natur der Seele, auf die sie wirken soll, zu berechnen versteht (271 D, 273 D E, 277 B C). Das leistet allein das Studium der Dialektik. Dieses schwierige Studium aber wird ein Vernünftiger schließlich nicht, um mit Menschen[54] reden und verhandeln zu können, sondern den Göttern wohlgefällig zu sein in Worten und Werken, d.h. nicht um der im Gorgias gegeißelten praktischen Absichten der Rhetorik, sondern um der reinen, von jeder irdischen Zweckbestimmung losgelösten Theorie willen auf sich nehmen wollen. Dann wird ihm, falls ihm daran überhaupt noch gelegen ist, die Darstellungskunst als Nebenertrag von selbst zufallen (274 A). Stärker konnte es nicht ausgesprochen werden, daß es PLATO um die Redekunst zuletzt gar nicht zu tun ist, sondern daß die Prüfung ihres Wertes ihm nur die willkommene Anknüpfung bietet, um für sein tieferes, formalphilosophisches Bestreben von einer neuen Seite her Teilnahme zu wecken und Jünger zu werben. Er faßt die Athener bei ihrer in der Person des PHAEDRUS liebenswürdig dargestellten Schwäche, der Leidenschaft für die Rede, und will ihnen zeigen, daß, falls es ihnen nur damit rechter Ernst wäre, sie eben dadurch zur Philosophie, zunächst nach ihrer formalen Seite, d.h. zur Dialektik geführt werden müßten. Die wahre Kunst der logoi ist nicht die Redekunst, sondern die Denkkunst, die Logik.

Derselben Absicht dient auch, was hier noch ausgelassen wurde, die schrankenlose Erweiterung des Gebietes der Rede. Es soll sich nicht bloß handeln um die Rede vor Gericht und in öffentlicher Versammlung, auf die die damalige Redetechnik sich fast ganz beschränkte, sondern um jede Art Rede, private wie öffentliche, in Versen wie in Prosa. Die ganze Dichtung gehört dazu, nicht minder die Gesetzgebung, aber auch die philosophische Darstellung. Ferner, nicht bloß die geschriebene, sondern ebensowohl die gesprochene, die lebende, beseelte, auf wechselseitige Verständigung zielende Rede, die »recht eigentlich in des Lernenden Seele hineingeschrieben wird« (278A), gehört zum Thema; und eben diese stellt sich zuletzt heraus als die allein gewisse und vollkommene, weil allein wahrhaft belehrende, d.i. unwandelbar überzeugende, die im Aufnehmenden fortlebt und fortzeugt. Es wird also nicht bloß der kunstlosen, kunstwidrigen Rede die kunstgerechte, auf Dialektik und Psychologie gegründete Darstellung, sondern schließlich aller sonstigen, schriftlichen wie mündlichen Darstellung, als die allein der Sache, der einzig darstellenswerten Sache, nämlich der philosophischen Wahrheit angemessene Form der Mitteilung, die lebendige Gedankenentwicklung, Gedankenerzeugung im Unterreden, die »Dialektik« gegenübergestellt,[55] welche die Seele der veröffentlichten Gespräche PLATOS bildete, und als die Methode seiner philosophischen Unterweisung zugleich hier ein für allemal festgestellt wird.

Die volle Lebendigkeit des beabsichtigten Eindrucks erreicht man erst, wenn man noch diese direkte Beziehung der Schrift auf die eigene Person und Wirksamkeit PLATOS hinzunimmt. Von sich spricht PLATO im ganzen Schlußteil des Dialogs; jedes Wort beinahe ist hier Selbstbekenntnis. Es ist das ihm längst am Herzen liegende Thema vom Lehren und Lernen, auf das er zurück- und von dem er dann nicht mehr loskommt. SOKRATES spricht, aber SOKRATES hat niemandes Lehrer sein wollen, da er ja nichts zu wissen behauptete, das des Lehrens wert wäre; wer solches von ihm sage, erklärte er in der Apologie, der tue es zu seiner Verleumdung. Der SOKRATES unsres Dialogs dagegen setzt erstens den Besitz der Wissenschaft von eben den Objekten, von denen SOKRATES nichts zu wissen behauptete, vom »Guten, Schönen, Gerechten« (276 C, 277 D), er setzt zweitens die Möglichkeit und Notwendigkeit der Fortpflanzung solcher Wissenschaft durch Lehre bedingungslos voraus. Er spricht von einer langwierigen Schulung, einem Kurs der Dialektik (pollê pragmateia makra periodos, 273 E, 274 A). Die Schrift dient günstigsten Falls zur Erinnerung schon Wissender, sie ist nur ein flüchtiges Spiel, ähnlich dem Pflanzen der rasch aufblühenden und rasch wieder welkenden Blumengärtchen in Töpfen, wie man sie zur Adonisprozession zog, im Vergleich mit dem ernsten, langwierigen Wirken des echten Lehrers, welcher, dem Landmann gleich, der mit Kunst ins freie Feld den Samen streut und geduldig die Zeit der Ernte abwartet, so vermöge der höheren Säemannskunst der Dialektik in die geeigneten Seelen den Samen der Erkenntnis legt, daß er zu seiner Zeit darin aufgehe und, in andern und andern Seelen sich fort und fort erneuend, unsterbliche selige Früchte trage. Das sind die Reden, die »ich und du« als unsre echten Kinder anerkennen wollen; an den andern, nämlich den geschriebenen und veröffentlichten Werken, ist wenig gelegen, sie fallen ohne Wahl Verstehenden und Nichtverstehenden in die Hände und sind, ohne den Beistand ihres Erzeugers, ungerechten Angriffen wehrlos preisgegeben.

Es bedarf keines Beweises, daß PLATO so nicht im Namen des SOKRATES, der nichts geschrieben hinterließ und keine Schule hielt, sondern nur in selbsteigner Verantwortung, im Hinblick auf seine Lehrtätigkeit und seine Schriftstellertätigkeit reden kann;[56] aber auch, daß es sich dabei nicht um unbestimmte Ideale, sondern um bestehende Verhältnisse handelt. »Die Philosophie«, das besagt fortan: PLATO und sein Seminar. So schließt auch die Darlegung mit einer ganz persönlichen Widmung an einen Mann, der lebend und in bisher friedlichem Wettbewerb um Athens Jugend neben ihm steht: ISOKRATES. Auch in dieser ganz persönlichen Anwendung der entwickelten Theorie auf sein eignes Wirken in Athen ist der Phaedrus völlig das Gegenstück zum Gorgias. Auch ist seine dort bekannte politisch-reformatorische Absicht im Phaedrus, wenn sie auch dem Plane gemäß zurücktreten mußte, doch keineswegs vergessen; so klingt die Vergleichung mit der Wirksamkeit des Arztes (270 B) fast in jedem Wort an den Gorgias an (464 ff., 501, 504, 513, 521 u.s.w.). Aber zuletzt, ist die Abzweckung des philosophischen Studiums überhaupt keine irdische, sondern ewige; wie beide Schriften im wiederum nah verwandten, dem Gedankenkreis der Orphik entlehnten Gleichnissen ausführen (die jenseitigen Verheißungen, Gorg. 526 C, Phaedr. 249, 256).

Hat man sich so die Absicht des Ganzen aus dem zweiten, direkt entwickelnden Teil des Dialogs erst klar gemacht und kehrt dann zu den drei Reden des ersten zurück, so wird nunmehr auch hier vieles sofort verständlich. Daß diese Reden nur Musterbeispiele zu den nachfolgenden theoretischen Sätzen über die falsche und wahre Redekunst sein wollen, ist zweimal gesagt (262 C, 264 E). Denn daß sie nur durch glücklichen Zufall als solche zur Hand seien (262 C, 265 C), wird man doch nicht etwa ernst nehmen. Eben in der dritten Rede, die allein positiv und uneingeschränkt als Muster dient (die erste nur negativ, 264 E), sehen wir ja die Redekunst sich tatsächlich, entsprechend der nachher gestellten Forderung, zur Dialektik vertiefen und zuletzt sich über jeden begrenzten irdischen Zweck erheben zur reinen Höhe der Philosophie, die ihr Ziel allein im Ewigen sieht. Und da sie zugleich, wiewohl in mystisch visionärer Einkleidung, die Grundzüge der Psychologie und Dialektik selbst zum eigentlichen Thema hat, legt sie damit zum zweiten Teil, welcher Psychologie und Dialektik als die wissenschaftlichen Voraussetzungen der wahren Darstellungskunst erweisen soll, auch inhaltlich den Grund.

Das seltsame Thema der drei Reden aber: ob der schöne Knabe sich dem liebenden oder dem nüchternen Bewerber hingeben solle, erreicht schon hier ganz die tiefe Deutung, in die der zweite Teil ausklingt. Das auch schon in früheren Schriften[57] (Protagoras, Charmides, Gorgias) anklingende Motiv der Philosophie als Liebeskunst wird hier in aller Konsequenz durchgeführt: die Liebe des Schönen hienieden ist nur Wiedererinnerung an die überhimmlische Schau des ewigen Schönen, d.i. der Idee, Liebe nur die Befiederung der Seele, kraft deren sie sich vom Irdischen, Sinnlichen zum Ewigen, Göttlichen emporschwingt: »daher recht nur des Philosophen Geist beschwingt wird« (249 C). Die höchste Liebesgemeinschaft ist die Gemeinschaft in solchem Enthusiasmus, solcher Vergottung der Seele durch die Wiederbesinnung auf das Ewige, also Liebe in ihrer höchsten Form nichts andres als die Gemeinschaft in der reinen, keinem irdischen Zwecke sich dienstbar machenden Philosophie. Auf Philosophie als Gemeinschaft, auf das Sichverständigen in der Unterredung als die allein echte Form des Philosophierens führt aber auch die Schlußerörterung. Sie ruht ganz auf dem Motiv der Gemeinschaft, der durch Fortzeugung sich verewigenden (277 A, vgl. Gastm. 209 C) Gemeinschaft in wahrheitsuchender Forschung. Auch das ewige Schöne als der tiefste Gegenstand der Liebe bezeichnet nichts andres als den Inhalt der Dialektik. Es bedeutet zuletzt das Ewige selbst, nicht bloß ein Beispiel des Ewigen, die Idee, nicht bloß eine Idee; die Idee aber nach einer bestimmten Seite, der der Form, der »Gestalt«, was ja auch die nächste, wiewohl nicht erschöpfende Bedeutung der »Idee« ist. Es bedeutet die Einheit des Mannigfaltigen, zuletzt der geistigen, nur abbildlich auch der sinnlichen Anschauung, so daß die Schönheit der sinnlichen Gestalt zum bloßen Gleichnis der ewigen Gestalt, der Idee als Form, herabgesetzt wird.

Auch noch hier bewährt sich der Unterschied und zugleich die Beziehung des Phaedrus zum Gorgias. Da war die Idee wesentlich dem Inhalt nach verstanden als das Gute: Gerechtigkeit, Besonnenheit, praktische Vernunft. Und diese stehen allerdings auch im Phaedrus obenan (247 D, 250 BD, 254 B); aber das ewige Gute (Gerechtigkeit, Besonnenheit, praktische Vernunft) hat kein hell erkennbares irdisches Gleichnis, während das Schöne, d.h. nach unsrer Deutung das Formale der inneren Einstimmigkeit, sein sinnliches Gleichnis dem hellsten unsrer Sinne, dem Gesicht, darbietet in der schönen körperlichen Gestalt. Man kann über die Deutung dieser sonst nirgendwo bei PLATO wiederkehrenden Unterscheidung im Zweifel sein. Zu einem klaren Verständnis würde man gelangen, wenn man voraussetzte, daß das Objekt der Vernunft, das Unbedingte,[58] die unbedingte Einheit, als das letzte Ziel des reinen Denkens, freilich ganz unerreichbar über allem Sinnlichen liegt, aber die Methode der Vereinheitlichung, der Beziehung des Mannigfaltigen auf eine Einheit, und damit der Fortschritt vom Bedingten zu immer radikaleren Bedingungen, auch im Sinnlichen möglich ist, namentlich dem Triebe der künstlerischen Phantasie, der auch ein Trieb der Vereinheitlichung des Mannigfaltigen ist, von Haus aus zu Grunde liegt. Aber wenigstens muß man gestehen, daß dies hier im günstigsten Fall geahnt, nicht auch nur im Gleichnis bestimmt genug zum Ausdruck gekommen ist. Ja es scheint die Durchführung dieser Deutung auf ernste Hindernisse zu stoßen. Sonst nämlich sind gerade in dieser Darstellung des Phaedrus Idee und Erscheinung in schroffster Trennung einander entgegengesetzt, und so bleibt es eine unausgeglichene Schwierigkeit, wie das Schöne, obgleich als überhimmlische Idee »mit der Besonnenheit auf hehrem Sockel aufgestellt«, doch im Sinnlichen sein deutliches Gegenbild haben soll. In jedem Fall aber bleibt bestehen, daß die Liebe als Metapher des philosophischen Triebes und zwar der Gemeinschaft in diesem Triebe in genauer logischer Beziehung gedacht ist zum Schönen der Gestalt als Metapher der Idee und zwar in der Bedeutung der Form. Und so bildet auf alle Weise die Philosophie, und zwar der Form, nicht dem Stoff nach, das Thema auch dieser Rede von der Liebe und dem Schönen, während dasselbe direkt, ohne Gleichnis, zum Ausdruck kommt im Begriff der Dialektik und ihres Objektes, der Idee, wie der Schlußteil ihn entwickelt. So ist die innere Einheit beider Teile vollkommen, und die Komposition des ganzen Gesprächs, dem ersten Anschein entgegen, äußerst geschlossen, in ihrer vollendeten »Einheit in der Mannigfaltigkeit« selbst ein Paradigma des Schönen.

Bezieht sich nun der Phaedrus, wie bewiesen, in seiner ganzen Anlage (überdies in einer Reihe von Einzelheiten, die man anderwärts zusammengestellt findet) auf den Gorgias zurück, so folgt daraus, daß er nach diesem, allerdings noch nicht, daß er unmittelbar nach ihm verfaßt ist. Das Erstere bestätigt sogleich eine Reihe von Umständen, die einzeln vorzuführen nach dem heutigen Stande der Frage kaum mehr nötig ist. Es genügt auch für den Leser der vorigen Kapitel allgemein zu sagen, daß der Phaedrus nach Inhalt und Form, und so auch hinsichtlich der sprachlichen und stilistischen Mittel, über die ganze Reihe[59] der bisher betrachteten Schriften unwidersprechlich weit hinausgeht; so daß es begreiflich ist, wenn manche neuere Forscher ihn selbst um Jahrzehnte vom Gorgias abrücken zu müssen geglaubt haben. Dagegen spricht nun aber eine Reihe andrer, nicht minder gewichtiger Gründe, welche, wie ich glaube, nötigen, den Phaedrus dem Theaetet, dem Phaedo, dem Gastmahl, dem Staat, ja dem Euthydem und dem Kratylus voranzustellen.

Zweifellos enthält der Phaedrus eine Fülle philosophischer Lehren, die, wenn auch in mythisch-dichterischer Einkleidung, über das ganze Problemgebiet der bisherigen, der Sokratik nächststehenden Schriften hinausgehen. Nur weniges davon ist im Meno und Gorgias, und auch da nur in der mehr verhüllenden als enthüllenden Sprache der Mystik, vorangedeutet, das meiste kehrt erst in Schriften zweifellos jüngeren Datums als alle bisher von uns betrachteten wieder. Dies läßt nur eine von zwei Erklärungen zu: entweder ist der Phaedrus jünger auch als diese andern Schriften, in welchen den seinen ähnliche Lehren und zwar nicht in mythischer sondern lehrhafter Form, offen und ohne Geheimnis dargelegt sind; und sie werden, trotz der eigentümlichen Art der Einführung, die sie als hier erstmals enthüllte Mysterien erscheinen läßt, tatsächlich als schon bekannt vorausgesetzt; oder man hat unbefangen das anzunehmen, was diese Art der Einführung sagen zu wollen scheint: daß diese Lehren bis dahin nicht, oder eben auch nur in der Hülle des Mysteriums, vielleicht in minder durchsichtiger als hier, vorgetragen worden waren; in welchem Falle jene andern Schriften, namentlich sofern sie dieselben Gedanken in offener Darlegung, ohne dies überaus schwierige und leicht irreführende Metaphernspiel enthalten, dem Phaedrus zeitlich nachzusetzen wären. Bekanntlich hat sich SCHLEIERMACHER für das Letztere entschieden; und wenn er dadurch freilich zu einer jedenfalls unhaltbaren chronologischen Ansetzung verleitet wurde, so dürfte doch die rein tatsächliche Beobachtung, die von dieser falschen Folgerung an sich völlig trennbar ist, einer genauen Prüfung immer noch standhalten. Er glaubte im Phaedrus ein »Programm« der platonischen Philosophie zu erkennen, in dem doppelten Sinne einer programmatischen Skizze seiner philosophischen Lehre, ihrem Inhalt nach, und einer programmatischen Erklärung seiner beabsichtigten Lehrweise, man darf etwas weitergehend sagen: seiner Schulführung. In beiden Hinsichten glaube ich, daß SCHLEIERMACHER im Recht bleibt, mehr sogar als er selbst deutlich gesehen oder ausgesprochen[60] hat. Nur darin irrte er, daß er deshalb glaubte den Phaedrus ganz an den Anfang des platonischen Wirkens setzen zu müssen. Er bezeichnet gleichwohl einen Anfang, nämlich den Anfang des ganz eigenen, über die Sokratik selbständig hinausgehenden Wirkens und Forschens des Philosophen.

Darauf führt zunächt eine formale Erwägung. Der Phaedrus fordert Beweis und Wissenschaft so bestimmt wie nur irgend eine andre Schrift PLATOS. Aber er gibt von Beweis und Wissenschaft so gut wie nichts. Er erarbeitet die behaupteten Sätze nicht, sondern spricht sie als ihm feststehend nur einfach aus, deduziert sie allenfalls aus andern ihm feststehenden, sonst aber keineswegs allgemein geltenden, jedenfalls von ihm weiter gar nicht begründeten Vordersätzen; und er widerlegt nicht die entgegenstehenden Meinungen, sondern weist sie kurz und beinahe ungeduldig ab, einfach mit Berufung auf seine Sätze, als seien diese jeder Anfechtung entzogen. Das möchte noch hingehen, obwohl es auch dann nicht ohne Schwierigkeit wäre, wenn die Beweise der fraglichen Sätze in andern, vorausgegangenen Schriften vorgelegen hätten. Auch sahen wir, daß wenigstens die Beweisführung des Gorgias in einem Falle deutlich vorausgesetzt wird. Aber gerade hinsichtlich alles dessen, was über die sokratischen Lehren hinausgeht, der Ideenlehre vor allem und der mit dieser eng verknüpften, zugleich ins Kosmische hinübergreifenden Psychologie fehlt es an jeder geringsten Andeutung, daß es sich auch hier um anderwärts bereits Bewiesenes handelt, vielmehr wird jeder unbefangen den Eindruck erhalten, daß man es vielmehr mit solchem zu tun habe, was zum ersten Mal hier ausgesprochen wird.

Es ist doch etwas allzu Natürliches, ja kaum Vermeidliches, wenn ein Schriftsteller zu verschiedenen Malen dieselben Gegenstände abhandelt, daß er ein zweites und gar drittes, viertes Mal irgendwie an seine früheren Darlegungen erinnert. Sollte einer glauben, daß PLATO durch die Dialogform daran verhindert gewesen sei, so wäre er auf die nicht wenigen Stellen in platonischen Dialogen zu verweisen, die ganz offenkundig auf frühere Darlegungen hindeuten wollen. Dies geschieht z.B. hinsichtlich der Ideenlehre und der mit dieser eng zusammenhängenden Lehre von der Wiedererinnerung ganz direkt im Phaedo (72 E, 100 B), hinsichtlich der ersteren wiederum im Staat (507 A). Im Phaedrus selbst finden sich solche Andeutungen, aber nur in Beziehung auf den Gorgias und vielleicht auf den[61] Meno; dagegen sprechen sich die über die Sokratik hinausgehenden philosophischen Thesen, wie namentlich die dritte Rede sie in blendender Fülle auftreten läßt, durchaus als Enthüllungen bisher ungekannter ja unerhört neuer, mehr intuitiv geschauter als rational erarbeiteter Wahrheiten aus. Besonders die Grundlehre von den Ideen, die im Phaedo und Staat als bereits oft behandelt ja abgedroschen bezeichnet wird, führt sich hier mit den merkwürdigen Worten ein (247 C): »Den überhimmlischen Ort hat noch keiner der Dichter hienieden besungen noch wird ihn je einer besingen nach Würdigkeit; es verhält sich aber damit so – man muß doch einmal wagen, was wahr ist, zu sagen, zumal es jetzt eben um die Wahrheit zu tun ist.« So kann PLATO nicht sprechen, wenn das, was auf diese feierliche Art angekündigt wird, dem Leser längst bekannt und vielmals offen und direkt von PLATO schon behandelt war, wie es der Fall wäre, wenn der Kratylus, der Phaedo, das Gastmahl, nach den weitergehenden Thesen sogar der Staat, jedenfalls die mittleren Bücher (V – VII) dem Phaedrus bereits vorausgegangen wären. Denn nicht etwa bloß die dichterische Einkleidung (wie man nach dem ersten Satz etwa noch deuten könnte), sondern ausdrücklich die hier ausgesprochene »Wahrheit« selbst wird (durch den zweiten Satz) als neu und unerhört bezeichnet. Wie sollte man das verstehen, wenn die ausführlichen Darstellungen der Ideenlehre im Phaedo, Gastmahl und Staat bereits vorausgegangen waren?

Allerdings ist man berechtigt nun umgekehrt von uns eine Erklärung dafür zu fordern, daß PLATO seine Thesen so beweislos hinstellen durfte. Aber diese Erklärung liegt sehr nahe, der Dialog selbst gibt sie an die Hand. Durch die Fiktion der Eingebung, der enthusiastischen Vision hat sich PLATO das Recht sichern wollen, für dies eine Mal »ohne gründliche Untersuchung und lehrhafte Fassung« (wie es 277 E geradezu heißt) seine Thesen nur eindringlich überredend vorzutragen. Und warum das? Weil es der Absicht gerade dieser Schrift entspricht, die von der Darstellung und Überlieferung, nicht vom Finden der Wahrheit handelt, aber freilich sie voraussetzen muß, um von ihrer Darstellung deutlich reden und ein »Paradigma« geben zu können. Auch die übertreibende Verurteilung aller schriftlichen Darstellung philosophischer Lehren hilft mit, ihn zu entschuldigen wegen der formalen Haltung gerade dieser Schritt, wegen der (nach 276 B) wie zu festlichem[62] Gepränge ausgestellten, nicht zum wahren Fortschritt der Wissenschaft dialektisch entwickelten Philosopheme. Die Schrift ist eine Epideixis, ein Schau- und Probestück auch in diesem inhaltlichen Sinne, d.h. sie ist wirklich, wie SCHLEIERMACHER es empfand, ein »Programm«, eine Ankündigung. Zu dieser Annahme paßt alles, paßt namentlich dieser ganz eigentümliche, von dem sonstigen Verfahren PLATOS völlig abweichende formale Charakter des Dialogs, dies bloße Hinstellen philosophischer Thesen, ohne irgend etwas, das nach den strengen, von PLATO stets und auch gerade hier gestellten Forderungen als zulängliche Begründung gelten könnte; ihre Vorführung zugleich als etwas unerhört Neues, geradezu als Offenbarung, als Vision. Man wird diesem Argument eine starke Beweiskraft schwerlich, absprechen können.

Indessen enthebt uns das nicht der Verpflichtung, darzutun, wie die Thesen selbst, die auf diese eigentümliche Art eingeführt werden, nach dem uns bisher bekannten Entwicklungsgange PLATOS in diesem Zeitpunkt möglich waren, und sich, so sicher der Phaedrus eine neue Wendung bezeichnet, doch so kontinuierlich an diese bisherige Entwicklung anschließen, wie überhaupt auch in den genialsten Denkern die Entwicklung der Gedanken kontinuierlich zu sein pflegt. Ließe sich das nicht beweisen, so würde jenes formale Argument allerdings nicht hinreichen, die Zweifel über die zeitliche Stellung des Phaedrus endgültig zu beschwichtigen.

Dies führt uns zur sachlichen Untersuchung des philosophischen Inhalts des Dialogs.

Der greifbarste Fortschritt des Phaedrus über die bisherigen Schriften, was den philosophischen Lehrgehalt betrifft, liegt, wie schon gesagt, darin, daß die formale Philosophie unter Absehung vom materialen d.h. in dieser Zeit fast ausschließlich ethischen Inhalt derselben, als eine eigene wissenschaftliche »Kunde«, unter dem Titel der »Dialektik«, bestimmt herausgehoben und als Grundlage der Philosophie überhaupt, oder in andrer Wendung als ihr höchster Gipfel, zum ersten Mal deutlich bezeichnet wird. Es ist die Entdeckung der Logik, als nicht bloß selbständiger, sondern schlechthin grundlegender philosophischer Disziplin. Zwar war ja PLATOS Interesse von Anfang an auch auf die Form der Wissenschaft gerichtet, aber nirgends bisher war diese als eigenes Objekt einer im höchsten Sinne wissenschaftlichen Reflexion, als selbst eine Wissenschaft, und, da die Form, die Methode eben das ist, was die Wissenschaft zur[63] Wissenschaft macht, als notwendig erste, grundlegende Wissenschaft ausgezeichnet worden, wie es hier geschieht. Es bedarf allgemein der Betonung, daß für PLATO wie nur je für DESCARTES oder KANT der Gesichtspunkt der »Methode« der oberste Gesichtspunkt der Philosophie und Wissenschaft überhaupt ist. Nächst einer schwächeren Andeutung im Meno (74 D) ist es aber der Phaedrus, der den Begriff und Namen der Methode zuerst anwendet (270 DE, auch 263 B ; man beachte die Beziehung der Methode zur »Kunde«, worunter im Phaedrus durchweg, wie im Gorgias, Wissenschaft verstanden wird, mit dem Gegensatz: Empirie, Routine, die dem »Gange des Blinden« verglichen wird).

Der weltgeschichtliche Name der Methode PLATOS aber ist »Dialektik«. Zwar hatten die allgemeinen Erfordernisse der sokratischen »Unterredung«, und das hieß für PLATO: der wissenschaftlichen Erörterung, schon in den bisherigen Schriften fort und fort den Gegenstand eingehender Verhandlungen gebildet; auch war wenigstens das Adverb »dialektisch« ein einziges Mal im Meno (75 D) schon gebraucht worden; es bezeichnete aber dort nichts mehr als die notwendige Rücksicht auf die freie Beistimmung des Mitunterredners, als ein immer schon von SOKRATES betontes Erfordernis der auf Wahrheitsfindung gerichteten Wechselrede. Das war sachlich nicht neu, und auch terminologisch, nachdem von den Regeln des »Unterredens« immer schon die Rede war, kaum eine Neuerung zu nennen. Dagegen werden im Phaedrus erst die beiden Grundelemente des Verfahrens, Synthesis und Analysis nach heutiger Ausdrucksweise, wesentlich so festgelegt, wie sie PLATO fortan unverändert festgehalten hat; und dann heißt es weiter: die, welche im Stande sind so zu verfahren, nenne ich – ob recht oder nicht, Gott weiß es – ich nenne sie aber, bis auf weiteres, Dialektiker; welche Benennung der Mitunterredner noch besonders gutheißen muß (266 BC). Und so wird dann weiterhin (276 E) die Dialektik, dialektikê technê, als nunmehr verstandener Begriff, in der vollen Prägnanz seiner platonischen Bedeutung eingeführt. Die so verstandene Dialektik ist die eigentümliche Schule des Philosophen, es ist die Philosophie selbst, der Form nach. Auf Vorbilder des Verfahrens deutet die erstere Stelle hin; es kann nur an den Eleaten ZENO gedacht werden, den ARISTOTELES als Urheber der Dialektik nennt, und der in der gleichen führenden Rolle bei PLATO im Parmenides auftritt, aber schon im Phaedrus selbst (261 D) als typischer Vertreter der schriftstellerischen[64] Gattung der philosophischen Abhandlung mit derselben Schrift genannt wird, an die später der Parmenides seine dialektischen Übungen anknüpft.

Es ist somit ein völlig sicherer Schluß (den auch längst ÜBERWEG und andere gezogen haben): da die Ausdrücke Dialektik, Dialektiker in ihrer bestimmten platonischen Bedeutung, als ein für allemal gültige Bezeichnungen des logischen Verfahrens der Synthesis und Analysis, hier so ersichtlich als neu eingeführt werden, so kann keine Schrift dem Phaedrus vorangegangen sein, welche diese Ausdrücke in gleich bestimmter Bedeutung anwendet und als schon bekannt voraussetzt. Dies gilt aber erstlich vom Euthydem, der den Terminus »Dialektiker« in weitestgehender Bedeutung, fast schon im Sinne der Wissenschaftslehre des Staats, und zwar ohne ein Wort der Erklärung, offenbar als den Lesern ohne weiteres verständlich, gebraucht (290 C); was, da der Euthydem übrigens nach Form und Inhalt unmöglich in eine späte Periode PLATOS gesetzt werden kann, für die chronologische Entscheidung in Hinsicht des Phaedrus von besonderem Gewicht ist. Dasselbe würde von einer Stelle des Kratylus (390 C) an sich nicht ebenso zwingend gelten; da aber der Kratylus mit dem Euthydem zahlreiche Berührungen aufweist und ungefähr derselben Zeit wie dieser angehören muß, aber ihm nachfolgt, so wird, wer den Schluß für den Euthydem gelten läßt, kein Bedenken hegen, ihn auch auf den Kratylus auszudehnen. Ein gleiches gilt drittens für das Gastmahl, dessen tiefste Motive sich erst erschließen, wenn man das Wort von der dämonischen dialektos (202-203), welche, als Mittleres zwischen Göttlichem und Menschlichem, das heißt nach der durchgehenden Metaphorik dieses Dialogs wie schon des Phaedrus: zwischen Idee und Erfahrung, zugleich die Vermittlung unter diesen beiden herstellt, und so bewirkt, daß das Ganze in sich selbst (zur Einheit) verknüpft ist, von der platonischen Dialektik versteht, deren Name und genauer Begriff also in diesem Wort als bekannt vorausgesetzt wird.9 Immerhin ist das eine Frage der Interpretation; wenn einer es vorzieht, sich nichts Besondres bei dem Worte zu denken, kann man ihn am Ende nicht zwingen. Daß aber, viertens, auch der Staat den[65] Begriff der Dialektik nicht etwa erstmals einführt, sondern als längst festgestellt voraussetzt, wird sich sogleich erweisen.

Mit dem Begriff der Dialektik nämlich wird im Phaedrus, wie wir sahen, der der Philosophie fast eins. Nur wer des dialektischen Verfahrens mächtig ist, wird fortan gewürdigt Philosoph zu heißen (276 ff., 278 D). Damit ist dieser Terminus endgültig seiner bisherigen Unbestimmtheit enthoben. Diese Beschränkung des Ehrentitels des Philosophen auf den dialektisch Geschulten, auf den, dem die Bedeutung, der Idee aufgegangen ist, mithin im Grunde auf PLATO und wen er anerkennt, wird nun aber im Eingang des Mittelstücks des Staats (474-480) wiederholt und gegen schon erfolgte Angriffe verteidigt. Notwendig bezogen sich doch diese Angriffe auf eine frühere Äußerung PLATOS. Es liegt aber keine andere Äußerung vor, welche geradezu die Beherrschung des dialektischen Verfahrens (276 E), des Verfahrens der Ideen (277 B) zur Vorbedingung des Anspruchs auf den Titel des Philosophen macht, außer dem Phaedrus. Zwischen den Zeilen mag man dasselbe im Phaedo lesen, aber eine ausdrückliche Erklärung in diesem Sinne, die die Angriffe hätte herausfordern können, gegen welche jene umfängliche Darlegung im Staat sich wehrt, findet sich weder dort noch sonst irgendwo, sondern allein im Phaedrus. Übrigens wird man schon nach der Art, wie dieser prägnante Begriff des Philosophen im Phaedrus besonders eingeführt, im Phaedo dagegen von Anfang an als ganz geläufig vorausgesetzt wird, unbefangen schließen, daß von diesen beiden Schriften eher der Phaedrus die frühere sei. Und dies bestätigt sich durch die fernere Beobachtung, daß im Phaedrus die Kunde der logoi noch nach dem Vulgärsinn des Ausdrucks, wie im Gorgias, die Redekunst, im Phaedo dagegen (90 B u. ff.) die Denk- oder Vernunftkunst, geradezu die Logik bedeutet; ein Gebrauch von logos, der selbst bei PLATO nicht häufig und sonst nur in Schriften später Entstehung zu finden ist. Der Ausdruck vertritt hier völlig, was im Phaedrus Dialektik hieß, welcher Terminus sich dagegen im Phaedo nicht findet. Hier haben wir eher einen Hinausschritt über den Phaedrus als ein Zurückbleiben hinter ihm zu erkennen.

Was nun aber den Inhalt der Dialektik betrifft, so scheint der Phaedrus, abgesehen von der ausdrücklicheren Formulierung, über die bisher betrachteten Schriften fast nicht hinauszugehen. Er setzt nichts von allem dem voraus, was im Theaetet, Phaedo,[66] Gastmahl und Staat, in unermeßlicher Erweiterung und Vertiefung der logischen Funde des SOKRATES und der sokratisierenden Schriften PLATOS, errungen wird. Wohl aber läßt sich vielleicht verteidigen, daß einiges davon sich im Phaedrus von weitem vorbereitet oder noch in der Unklarheit der ersten Konzeption ankündigt.

Im Mittelpunkt steht durchaus der Begriff, die Definition. Schon die zweite Rede drückt diese alte sokratische Forderung gut zusammenfassend aus (237 C). In Hinsicht jedes Gegenstands ist ein Anfang, wenn man sich recht beraten will: zu wissen, was die Sache ist, über die man Rates pflegt (vgl. etwa Lach. 185 B); gleich darauf: das Wesen (ousia). Man muß in gegenseitiger Vereinbarung (homologia), durch die man allein mit einander, und entsprechend auch mit sich selbst, einig wird, den Begriff, die Definition (horon), festsetzen davon, wie beschaffen (hoion) die Sache ist, welche Kraft, Bedeutung oder Funktion (dynamis) ihr zukommt, um in Hinsicht und Beziehung darauf die Untersuchung zu führen; wo jeder einzelne Ausdruck in den Erörterungen der bisherigen Dialoge genaue Parallelen findet. Dann 238 D: »Was es also ist«, haben wir definiert (ho tynchanei on, was es gerade ist, eine bei PLATO beliebte, den Sinn nicht ändernde Umschreibung für ho estin, die auch schon im Meno vorkam); im Hinblick darauf wollen wir nun das Weitere erörtern. Und 239 D: Nachdem wir das als einen Hauptpunkt definiert haben, wollen wir zu einem andern Punkt übergehen. So wird 245 E Wesen und Begriff (ousia, logos), dann, gleichbedeutend, die Natur (physis) der Seele festgesetzt. Und nach 249 B unterscheidet es allgemein den Menschen vom Tier, »dem Begriff nach Ausgesagtes (kat' eidos legomenon) zu verstehen, welches aus den vielen Einzelwahrnehmungen, durch deren gedankliche Zusammennehmung zur Einheit, hervorgeht«; eine Übersetzung, die freilich das Etymologiespiel nicht wiedergibt, in welchem das Verstehen, xynienai, als »Zusammengehen« in die Einheit des Bewußtseins gedeutet wird.

Bis hierher ist, gegenüber der oftmaligen Hervorhebung der Zusammenfassung des Mannigfaltigen in der Einheit des Begriffs in den bisherigen Schriften, besonders im Meno, irgend etwas Neues weder der Sache noch dem Ausdruck nach zu finden. Eben dies aber wird dann, ohne weitere Vermittlung, gleichgesetzt der Wiedererinnerung an das dereinst im übersinnlichen Reich geschaute wahrhafte Sein. Was auch in dieser überschwänglichen Bezeichnung noch Tieferes sich bergen mag[67] – davon wird bald zu reden sein – zunächst doch scheint dabei, jener schlichten Gleichsetzung zufolge, an gar nichts weiter gedacht werden zu sollen, als an das längst Bekannte: die Definition. Auch erscheint in der nachher folgenden nüchternen Erklärung der hochfliegenden Metaphern der dritten Rede (265 f.) nichts andres als dies. Da soll, während übrigens dieser ganze »mythische Hymnus« beinahe als bloßer Scherz preisgegeben wird (265 C), von allem nur das stehen bleiben, was eben hier als die beiden wesentlich zusammengehörenden Bestandteile des dialektischen Verfahrens definiert wird: erstens, daß man »in eine Sicht (Idee) zusammenschaue das vielfältig Zerstreute, damit man durch Definition klar mache, wovon allemal man unterrichten will; so wie wir soeben definiert haben, was der Eros ist« (ho estin, so, außer 238 D, auch 262 B; was ein jedes ist von dem was ist); darauf beruht das Einleuchtende und mit sich selbst Übereinstimmende der (vernünftigen) Rede; alles überaus ähnlich der ersten Stelle, 237 C. Der andre Bestandteil des Verfahrens ist der Gegensatz des Vereinigens, die Scheidung, Zerlegung in die Arten, »nach der natürlichen Gliederung des Gegenstands«; wodurch der eine »gemeinsame« Begriff zunächst in zwei zerlegt wird, dann etwa jeder wieder in zwei, und so fort (wie es in der Zusammenfassung 277 B heißt) »bis zum Unzerleglichen«. Vgl. 263 B: Man muß das »methodisch auseinanderhalten« und einen »Charakter«, ein sicheres Unterscheidungsmerkmal jeder der beiden Arten zu erfassen suchen. Diese beiden Bestandteile des Verfahrens werden dann festgelegt in den Terminis Vereinigung (synagôgê) und Auseinanderhaltung, Sonderung (diareisis), und als ihr Gemeinsames hervorgehoben, was in der Tat beide unauflöslich zusammenhält: daß man fähig sei, was die Natur dazu hat, in Einheit und Vielheit aufzufassen. So dann auch in der Rekapitulation 273 D: Man muß imstande sein, nach Begriffen (eidê) das »Was es ist« auseinanderzuhalten und jedes Einzelne für sich in (gedanklicher) Einheit zu begreifen; gleichbedeutend 277 B: ein jedes »an sich zu definieren« und, nachdem man es definiert, wiederum nach Arten zu zerlegen bis zum Unzerleglichen.

Dies alles war der Sache nach in den vorausgegangenen Schriften schon erreicht. Der Begriff als »Einheit des Mannigfaltigen« war stark hervorgehoben und instruktiv, aus dem Gesichtspunkt der »Methode«, erläutert im Meno, die Einteilung mit nicht minder bestimmtem logischen Bewußtsein gehandhabt[68] im Gorgias. An den letzteren werden wir besonders erinnert, wenn fort und fort durch jene beiden zusammengehörigen Verfahrungsweisen das wissenschaftliche vom unwissenschaftlichen Vorgehen geschieden wird unter den dort so nachdrücklich eingeführten Terminis der technê (wissenschaftlichen Kunde) und empeiria (rohen, unwissenschaftlichen Erfahrung) oder atechnos tribê (kunstlosen, unwissenschaftlichen Routine), ein Gegensatz, dem nirgends außer in diesen beiden Schriften eine so maßgebliche Rolle zufällt. So zuerst 260 E, wo die absichtliche Anknüpfung an den Gorgias schwerlich geleugnet werden kann; dann wiederum 270 B, wonach Sache der »Kunde« besonders die Erkenntnis der Natur des Gegenstands (physis) oder des Wesens seiner Natur (ousia tês physeôs 270 C), oder der Kraft (dynamis) des Wirkens und des Leidens (vgl. 245 C), oder des Grundes (aitia) ist (alles 270-271). Ein »Verfahren« ohne das gleicht dem Gange eines Blinden (270 E). Auch die durchgehende Entgegensetzung von Wahrheit und Schein (260 AC, 262 A u. ff., 267 A, 272 D ff., 274 C, 275 A, vgl. 247 D, 248 B) erinnert, zumal in Verbindung mit der von Lehren und Überreden (277 C E), auffallend an den Gorgias. Für technê, Kunde, tritt dann auch, wie im Meno und übrigens schon im Protagoras, epistêmê, Wissenschaft ein, so 276 A C E, mit besonderem Nachdruck aber 247 C, wo als erstes Objekt der übersinnlichen Schau der Vernunft genannt wird: das Geschlecht der wahren Wissenschaft, welches nach 247 D die Wissenschaft der reinen Begriffe ist und sich deckt mit dem »Felde der Wahrheit« im Unterschied von dem der Meinung oder des Scheins: die bekannte große Unterscheidung, die der Meno zuerst aufstellte.

Die Gleichsetzung aber der Begriffserkenntnis mit der Wiederbesinnung an die dereinstige Schau des Übersinnlichen weist ja nicht bloß durch dies Wort, Wiederbesinnung, sondern überdies durch den völligen Gleichlaut des Sätzchens: »Das aber ist die Wiederbesinnung« (249 C) mit Meno 98 A wie mit Fingern auf diesen Dialog. Dies Motiv beherrscht dann die ganze große Rede, es ist aber auch den nachfolgenden unbildlichen Erklärungen nicht fremd. In der angeblich ägyptischen Sage von der Erfindung der Schreibkunst heißt es (275 A): sie fördert nicht das Erinnern, sondern eher das Vergessen, indem sie die Menschen gewöhnt, von außen mittels fremder Typen, statt von innen durch sich selbst erinnert zu werden. Die Schrift kann nur den schon Wissenden erinnern (275 D, 276 D, 278 in.);[69] die »wahre« Rede ist die, die in des Lernenden Seele hineingeschrieben wird, fortan fähig sich selbst zu verteidigen (276 A E). Das ist zugleich – wie im Meno – der wahre Begriff des Lehrens: das Erwecken der Erkenntnis im eigenen Bewußtsein des Lernenden. Schwerlich will die »Wiedererinnerung« in der großen Rede etwas andres besagen.

Ist aber hiermit nun die platonische Idee endlich erreicht? Oder stehen wir immer noch beim sokratischen Begriff?

Die Terminologie gibt keine ganz sichere Entscheidung. Die »eine Idee« an den beiden schon mitgeteilten Stellen (265 D und 273 D) besagt nicht mehr als das »eine Eidos« (265E) oder das »Eine« schlechtweg (249 C, 266 B). Durch mia idea wird auch sonst (so namentlich im Theaetet, 184 D, 203 C E, 204 A, 205 C – E) schlechtweg die begriffliche Einheit bezeichnet. Das Wort »Idee« will sehr oft nur allgemein das bezeichnen, was wir mit der Ableitungssilbe -heit ausdrücken, also sagt »in eine Idee zusammenschauen«, »in einer Idee begreifen«, abgesehen von dem Vergleich des Sehens, nicht mehr als kurzweg: in einer Einheit oder in Einem. Es heißt: unter einem Gesichtspunkt des Denkens vereinigen. Das ist doch Sache des Begriffs. Außer diesen zwei Stellen aber wird das Wort Idee im Phaedrus in einer Unbestimmtheit gebraucht, die sehr auffallen müßte, wenn der Phaedrus nach dem Phaedo und Staat verfaßt sein sollte, wo das Wort zur Festigkeit eines Terminus entschieden durchdrungen ist. So kann idea 237 D, 238 A nichts andres bedeuten als (psychische) Funktion, ganz wie eidos 253 C; genauer etwa sind es Gestaltungen, Arten, nicht der Seele, sondern ihres Funktionierens. Ähnlich heißt 246 A idea der Seele ihre Qualität oder Funktionsweise, hier ausdrücklich geschieden von ihrem Wesen, ihrem Begriff, ihrer Natur, was doch nach der später feststehenden Terminologie ihre »Idee« wäre (245 E). Alle diese Stellen beziehen sich auf das, was sonst Gestaltungen, eidê, oder Teile, merê, nämlich Teilfunktionen der Seele genannt wird. Endlich 253 B heißt idea etwa Eigenart, Besonderheit. An keiner dieser Stellen würde die Wiedergabe durch »Idee« den Sinn treffen.

Von sonstigen Bezeichnungen des Begriffs ist das »was es ist« (ti estin, ho estin, ho ti estin, ho tynchanei on) schon im Meno geläufig, die Ausdrücke Wesen (ousia), Begriff (logos), Natur (physis), Kraft oder Bedeutung (dynamis) im Protagoras, Laches, Gorgias. Das »es selbst« (auto) zum Substantivum abstractum gesetzt (250 E vgl. 247 D) kennt schon der Protagoras. Der Meno hat[70] auch schon die besondere vom Theaetet an häufige Verbindung »an sich selbst« (auto kath' hauto, an sich selbst was es ist die Tugend, Men. 100 B), die im Phaedrus nur in der einzigen Wendung »ein jedes an sich (oder für sich, hier kat' auto, nicht, wie sonst stets, reflexivisch kath' hauto) definieren« (277 B) vorkommt. Das »es selbst« bleibt dann übrigens auch oft weg; im Phaedrus überwiegend (247 D, 250 BD); was beweist, daß der Zusatz auto nur den Ton, nicht den Sinn ändert. Es handelt sich bei der Schönheit, Gerechtigkeit u.s.f., gleichviel ob das »es selbst« hinzutritt oder nicht, um den Sinn der Prädikation als schön, als gerecht, und um nichts mehr.

Neu dagegen tritt im Phaedrus die Bezeichnung auf: das »wahrhaft«, eigentlich: »seinhaft«, ontôs oder tô onti, Gute, Schöne, Gerechte (260 A), zusammenfassend: die wahrhaft seiende Wesenheit, Erkenntnis, 247 CD, das wahrhaft Seiende 249 C. Aber wenigstens on, onta, das was ist, singularisch oder pluralisch, von Begriffsinhalten (nicht Existenzen) verstanden (so Phaedr. 247 D, 248 AB), begegnete auch schon, wenngleich spärlich, in früheren Dialogen, und so liegt auch hier die Neuerung zunächst nur in der Emphase des Ausdrucks, die, auch wenn sie sich zur dreifachen Tautologie des »seinhaft seienden Seins« überstürzt, doch damit schließlich nichts mehr sagt, als mit dem einfachen »Sein« (on) oder »was es ist« (ho estin) oder »Wesen« (ousia) zur Genüge ausgedrückt ist: das Sein der Prädikation.

Immerhin wird von diesem Sein doch etwas Neues behauptet, was jedenfalls auch diese doppelte und dreifache Betonung hervorzuheben bezweckt. Es soll der Begriff von allem Sinnlichen rein abgelöst, es soll die Denksetzung, rein nach dem darin gesetzten Inhalt, ohne jede fremdartige Beimischung, im Gedanken festgehalten werden. Es ist nämlich möglich von Begriffen zu reden, ohne daß man dabei diese strenge Absonderung vollzieht. Ich kann gegebene, sinnliche Gegenstände z.B. zählen, auch wohl, indem ich dieselbe Zahlung wechselnd auf andere Gegenstände anwende, mir dabei der Einerleiheit dieses meines Tuns, des Zählens, bewußt sein, ohne daß ich dahin komme mir klar zu machen, daß ich von gegebenen Gegenständen auch ganz abstrahieren und die Eins selbst, d.h. die einfache Setzung als Eins, die Einheit, und so die Zweiheit, Dreiheit und so fort, als bestimmte Vereinigung, Ineinssetzung von Einheitssetzungen, ins Auge fassen und daraus die Gesetze der Zahl vollkommen rein ableiten kann, bevor noch[71] von irgend welcher Anwendung oder Anwendbarkeit auf gegebene Gegenstände die Rede ist. Dieser Unterschied war bisher von PLATO, so nahe er bisweilen daran streifte, doch in ganzer Bestimmtheit und Deutlichkeit noch nicht aufgezeigt worden. Ohne Zweifel aber ist es genau dies, was ihm nun zur vollen Klarheit gekommen ist, und was er ausdrücken will mit der durch bloße Vernunft, durch ungemischte d.i. von aller Sinnlichkeit unberührte Erkenntnis erfaßlichen, farb- und gestaltlosen, unberührbaren, wahrhaft seienden Wesenheit (247 C), mit der Erkenntnis, die am Werden nicht teilhat, nicht irgendwo ist, eine andre in einem Andern von dem was wir jetzt seiend nennen, sondern als wahrhafte Erkenntnis nur in dem ist, d.h. ihr Objekt hat, was wahrhaft ist (247 DE). Dies ist jetzt begriffen als das schlechthin Ursprüngliche der Erkenntnis, welche Ursprünglichkeit ausgedrückt wird durch die übersinnliche Schau, deren nur die vom Körper ganz freie Seele an sich fähig war, die dagegen jetzt ihr nur abgeleitet, als schwacher Abglanz jener ursprünglichen Schau möglich ist: durch »Wiedererinnerung« an das, was dereinst unsre Seele erschaute, als sie hinausblickte über das, wovon wir jetzt sagen es sei, und emportauchte in das wahrhafte Sein (249 C). Das sind die »unversehrten, einfachen, wandellosen, seligen Gesichte«, die wir dort »in reinem Glanze«, selber noch rein und unversehrt, nicht eingekerkert in diesen »Kerker«, den »Körper«, gleich der Schnecke im Gehäuse, geschaut haben (250 BC). Wie viel oder wenig von dieser, zum Teil an den orphischen Vorstellungskreis sich anlehnenden Symbolik sonstwie ernst zu nehmen sein mag, der rein logische Sinn von dem allen kann, wenn man die nachfolgenden unbildlichen Erklärungen vor Augen hat, schlechterdings in nichts andrem gesucht werden als in der reinen Ablösung des im Denken und ursprünglich durchs Denken gesetzten Inhalts, z.B. Einheit, Identität, und dadurch Sein. Es wird dadurch der Begriff nicht bloß als Instrument der Bearbeitung anderweitig, wodurch auch immer, gegebener Vorstellungen und darin gegebener Objekte, sondern als reine eigne Schöpfung des Denkens, und nur dadurch eignes Objekt einer eignen, vielmehr der einzigen reinen Art von Wissenschaft oder Erkenntnis bekräftigt.

Eben darin erkennen wir nun auch den Grund, weshalb hier zuerst, nicht früher, Dialektik als eigne Wissenschaft, nicht mehr bloß immanente Methode anderweitiger[72] Wissenschaft, sei es Ethik oder Mathematik oder gar bloßer empirischer Kunde, ausgezeichnet wird; welche Wissenschaft nun notwendig als höchste, alle andern an Wahrheits-, an Wissenschaftswert überragend gedacht wird.

Das ist zugleich die tiefe Verwandtschaft der platonischen Ideenlehre, im nun erreichten Stadium, mit der Philosophie der Eleaten. Sie waren die eigentlichen Entdecker des reinen Begriffs und des reinen Operierens mit Begriffen. Und wenn PLATO beides wiederentdeckt hat, so geschah es ohne Frage unter einer starken Einwirkung der eleatischen Lehre. Gekannt hat wohl PLATO sie von seinen ersten philosophischen Studien an, die wir alles Recht haben in die Zeit seines Umgangs mit SOKRATES, wenn nicht diesem schon voraus zu setzen. Eleatische Spuren dürfen wir erkennen im Protagoras, in der Betonung der unwandelbaren Beharrung der Wahrheit, deren Erkenntnis die Erscheinung mit ihrem beständigen Selbstwiderspruch um ihre Geltung bringt (Prot. 356 D E); im Laches, Charmides und Meno, in der unterschiedslosen Beziehung der Erkenntnis auf Vergangenes, Gegenwärtiges und Künftiges, und ihrer Zurückführung auf einen von der Zeit unabhängigen Grund im Bewußtsein. Aber in einem bestimmten Zeitpunkt muß diese Lehre ihn erst mit ganzer Gewalt gepackt haben; nämlich da, als er begriff, daß die reine Durchführung der von SOKRATES überkommenen Methode der Begriffe auf das reine »Sein« der Eleaten führt, und als damit wohl erst die ganze Absicht dieser seltsamen Lehre, und andrerseits der letzte Sinn des sokratischen Suchens nach dem Begriff ihm deutlich wurde; wie denn in der Tat diese Lehre kaum von einem andern Punkte aus zu verstehen, jedenfalls von PLATO stets, auch wo er sie bestreitet und einschränkt, von dieser Seite aus gesehen worden ist.

Und da kann es uns in unsrer ganzen Auffassung des Phaedrus und seiner Stellung zu den vorhergehenden wie nachfolgenden Schriften nur befestigen, wenn wir beobachten, daß tatsächlich nirgends bei PLATO so tiefe Spuren einer starken positiven Einwirkung des Eleatismus sich erkennen lassen wie eben hier. Nirgends nähert sich PLATO in solchem Grade der vollen, eleatischen Negierung des Werdens und damit der ganzen Sinnenwelt, wie hier in der Entgegensetzung des »wahrhaft Seienden« – dieser Ausdruck »das Seiende« ist ja vor allem eleatisch – gegen das was »wir« jetzt seiend[73] »nennen«, wovon »wir« jetzt »sagen« es sei (247 E, 249 C). Hier ist selbst die Ausdrucksweise: die Unterscheidung des bloß von »uns« (Menschen) so genannten vom wahren Sein, und so die ganze, durchgehende Entgegensetzung der beiden Gebiete der Wahrheit und des Scheins, als des Jenseits und Diesseits, Droben und Hienieden, voller Anklänge an das Gedicht des PARMENIDES. Selbst die wundervolle Wagenfahrt in die Gefilde der Wahrheit kann der phantastischen Einleitung des parmenideischen Gedichts überbietend nachgedichtet sein (wie wohl schon jemand vermutet hat). Die Zusammenstellung der Prädikate »unversehrte, einfache, wandellose« Gesichte (250 C) scheint eine direkte Reminiszenz oder gewollte Hindeutung auf dasselbe Gedicht zu sein. Nimmt man dazu die ausdrückliche Nennung der Schrift des ZENO (261 D) und die sehr wahrscheinliche Anspielung auf denselben als Führer im Verfahren mit reinen Begriffen (266 B, s. o. S. 64), so wird man sagen müssen, daß in keinem zweiten Werk PLATOS sich der positive Einfluß des Eleatismus so mächtig beweist. Die aristotelische Charakteristik der Eleaten (de gen. et corr. 18, 325 a 13), daß sie »über die sinnliche Wahrnehmung hinwegschritten und an ihr vorbeisahen, weil man dem Vernunftgrund folgen müsse«, paßt haarscharf auf den Phaedrus, wo es ganz ähnlich heißt: »hinwegsehend über das, wovon wir jetzt sagen, es sei«. Schon der Theaetet dagegen kündigt, neben dem Ausdruck der höchsten Verehrung für PARMENIDES (183 A), doch zugleich die Kritik an, die dann später, im Parmenides und Sophisten, in sehr einschneidender Weise an den Eleaten geübt wird.

Es fordert aber dieser Punkt deswegen unsre schärfste Aufmerksamkeit, weil es eben der Punkt ist, von welchem der Anstoß, den ARISTOTELES und seit ihm alle Welt an der Ideenlehre nahm, verständlich wird: PLATOS Idee unterscheide sich vom sokratischen Begriff durch nichts als durch die Sonderung (chôrismos) von den Sinnendingen. Zwar die Abstraktion sei berechtigt – wenigstens im Mathematischen, nicht ebenso im Physischen (Phys. B 2); PLATO aber mache die reinen Formen zu selbständigen, und gar einzelnen – Dingen. Dies Letztere ist nun sicher falsch; also beruht dies ganze Urteil auf einer falsch gestellten Alternative. Es ist jeder Zweifel darüber ausgeschlossen, daß PLATOS Ideen von Anfang an bis zuletzt, und wenn je, dann im Phaedrus, Methoden besagen und nicht Dinge; Denkeinheiten,[74] reine Setzungen des Denkens und nicht äußere, wenn auch übersinnliche »Gegenstände«. Aber allerdings ist es richtig, daß PLATO in seiner »Idee« eine Absonderung, Ablösung des Begriffs vom Sinnlichen vollzog, die dem SOKRATES, wenn auch nicht der Sache nach ganz fremd, doch jedenfalls nicht so in methodischer Schärfe bewußt war. Diese eben ist es, die in so ursprünglicher und freilich hyperbolischer Weise nirgends zum Ausdruck kommt wie im Phaedrus. Gewiß will PLATO nicht bloß die Abstrahierbarkeit der Begriffe ausdrücken; dabei hätte er sogar Empirist bleiben können. Sondern das ist die Meinung: der reine Begriff ist das Ursprüngliche, der empirische das Abgeleitete. Das besagt die Terminologie des Urbilds und Abbilds, die, obgleich schon im »Musterbild« des Gorgias vorbereitet, doch in voller Entwicklung zum ersten Mal hier auftritt (Gleichnis, Bild und Abgebildetes, 250 AB, das Gleichnamige 250 E, die Nachahmung 251 A; vgl. 253 B). Bekanntlich hat an diese Terminologie ganz besonders die aristotelische Kritik sich geheftet, und hat PLATO selbst nicht unterlassen, auf ihre Gefahren (im Parmenides) aufmerksam zu machen; nach welcher Verwahrung er sie übrigens (im Timaeus) wiederum zu verwenden kein Bedenken trug. Gewiß konnte diese Terminologie irreleiten, mußte geradezu den irreleiten, dem für die Metaphernsprache PLATOS nun einmal das Organ abging; der zwar historisch wohl wußte, daß PLATO gern von Metaphern Gebrauch machte, aber darum doch nie sich zu der Untersuchung Zeit ließ, was wohl den Metaphern als ernste Meinung zu Grunde liegen mochte; sondern entweder unbesehen alles für bare Münze nahm, oder in der Flucht zur Metapher wenigstens nur das Eingeständnis sah, daß man wissenschaftlich, »mit dem Ernst des Beweisens«, über die Sache nichts zu sagen gewußt habe; wie es ARISTOTELES stets auch in den Fällen sich erlaubt, wo PLATO die ganz nüchterne Erklärung der gebrauchten Metaphern zu geben nicht unterlassen hatte.

Darüber wird noch mit ARISTOTELES abzurechnen sein. Aber das darf allerdings nicht verdunkelt werden, daß sich PLATO dem gefährlichen Spielen mit Metaphern zum wenigsten hier im Phaedrus allzu sorglos überlassen hat. Er gesteht es ja ein, daß diesmal der dichterische Trieb ihn fortgerissen hat; und es soll dann das Ganze nachher nur ein Scherz gewesen sein (265 BC). Aber die auch hier nicht fehlende nüchterne Erklärung fällt doch allzu mager aus; sie läßt gerade das Auffallendste und Bedeutungsvollste unaufgehellt; und so konnten sich an diese[75] enthusiastischen Redewendungen immer wieder die Mißverständnisse anklammern.

Schwerlich läßt sich behaupten, daß nur die Laune oder das unverantwortliche Genie der Darstellung daran schuld sei. Sondern der formale Mangel einer deutlichen Abgrenzung dessen, was als philosophische Lehre und was bloß als dichterisches Spiel gelten soll, ja auch der nicht reinen und klaren Durchführung der Gleichnissprache selbst in dieser Rede, ist wirklich die Folge einer gewissen Unabgeklärtheit der Gedanken, die in so ungewöhnlicher Art hier zur Darstellung kommen. Und hier nun zeigt sich für das ganze Schicksal des Verständnisses der Ideenlehre die Entscheidung wichtig: ob man sich den Phaedrus im Anfang oder vielmehr auf der Höhe der Entwicklung dieser Lehre geschrieben zu denken hat. Oftmals erneute Prüfung hat mich zu der Überzeugung gebracht und bei ihr festgehalten, daß, auch innerlich, nur das Erstere annehmbar ist. Nicht nur die nahen Berührungen mit dem Meno und Gorgias sind hier beweisend, sondern ungleich durchschlagender beweist es die genaue Vergleichung des Phaedrus mit den Schriften, die man sich nicht anders als im Zentrum der platonischen Entwicklung stehend denken kann, nämlich den in andrer Beziehung oben schon genannten: Theaetet, Phaedo, Gastmahl und Staat. Zum Zweck dieser Vergleichung muß allerdings hier Einiges vorausgenommen werden, was seine volle Rechtfertigung erst in den nächsten drei Kapiteln finden kann. Die Reihenfolge der vier Schriften unter sich wolle man hier nur als durch sachliche Gesichtspunkte bestimmt ansehen. Daß sie die chronologisch richtige ist, hoffe ich zu beweisen, es ist aber für die jetzige Entscheidung nicht von ausschlaggebender Bedeutung.

Die großen neuen Leistungen der genannten vier Dialoge sind in Kürze diese: erstens die Zurückleitung aller möglichen Begriffe auf eine begrenzte Zahl von Grundbegriffen, Kategorien. Diese wird zuerst angebahnt im Theaetet, um später im Parmenides und im Sophisten weiter durchgeführt zu werden. Zweitens die Zurückführung aller gültigen Sätze der Wissenschaft auf letztbegründende Sätze: Grundsätze oder Prinzipien; für diese ist der klassische Ort der letzte Teil des Phaedo. Endlich drittens die Begründung aller besonderen Wissenschaften in einem Systemzusammenhang, in welchem sie in bestimmter Ordnung, nach ihrer wechselseitigen Abhängigkeit und Verwandtschaft, sich zuletzt zurückführen auf eine gemeinsame Grundwissenschaft,[76] die Wissenschaft von der Methode, Dialektik. Diese höchste Ansicht ist es, die zuerst das Gastmahl in einfachen, klaren Grundlinien entwirft, dann der Staat ausführlich entwickelt.

Offenbar gehören diese drei Dinge zwingend zusammen, sie fordern sich gegenseitig. In ihrem Verein aber bedeuten sie den mächtigsten Fortschritt, die unvergänglichste Leistung der platonischen Dialektik. Es sind darin zum ersten Mal die Fundamente der Wissenschaft in formaler Hinsicht gelegt. Das will etwas ganz andres besagen als die bloße Betonung des Begriffs als des allgemeinen Werkzeugs der Erkenntnis. Nun wird gewiß die Entdeckung des rein im Denken gesetzten Seins, deren erste deutlichere Spur wir im Phaedrus finden, der Ausgangspunkt auch für diese ferneren Errungenschaften gewesen sein. Auch mag in dem beglückten Augenblick, als diese Entdeckung ihm aufging, damit zugleich schon eine erste Ahnung jener viel weiter gehenden Aufgaben in PLATO geweckt worden sein. Auch noch den Ausdruck solcher Vorahnung mag eine feinere Empfindung zwischen den Zeilen des Phaedrus herausspüren. Daß aber in klarer Erkenntnis alle jene Schritte oder nur ein einziger von ihnen dem Schreiber des Phaedrus bereits vor dem geistigen Auge gestanden hätte, davon bekenne ich auch bei dem weitesten Entgegenkommen irgendwie probehaltige Beweise nicht finden zu können; vielmehr will sich, sobald man den Maßstab der voll entwickelten Dialektik der genannten vier Schriften an den Phaedrus anlegt, überall nur ein ahnungsreiches aber noch durchaus unsicheres Tasten und Versuchen erkennen lassen, statt daß jene Dialoge auf geradem Wege sichern Schritts auf das Ziel losgehen und es in unzweideutig klaren Schlußformulierungen erreichen. Es geht nicht an, dafür nur die eigentümliche Darstellungsart dieses Dialogs verantwortlich zu machen. Vielmehr umgekehrt wird diese Art der Darstellung erst ganz verständlich aus der Voraussetzung, daß die Gedanken selbst, welche den Inhalt der Darstellung bilden, vom Autor noch nicht in voller Klarheit geschaut und logisch beherrscht sind; daß er selbst von dem neuen Glanze noch wie geblendet ist und nur mühsam einiges Wenige von dem wie in plötzlich aufgehendem und ebenso plötzlich wieder verlöschendem Licht Geschauten noch zu erhaschen und zu deutlicher Wiedergabe zu bringen vermag. Es gehört, fürchte ich, eine gewisse Hyperästhesie der Interpretation dazu, etwas mehr von den genannten dialektischen[77] Einsichten als solche unsicheren Vorahnungen im Phaedrus zu sehen. In manchem ist die Dunkelheit, ja zum Teil Verworrenheit der ersten Konzeption, wie ich meine, garnicht zu verkennen.

1. Im Theaetet (185 ff.) wird, wiewohl ohne strenge, systematische Geschlossenheit, eine Reihe durchgehender, auf alles gemeinsam sich erstreckender, also Grundbegriffe ausgezeichnet: Sein und Nichtsein; Identität, Verschiedenheit, Gegensatz, qualitative Gleichheit und Ungleichheit; quantitative Einheit, Zahl, nebst Gerade und Ungerade und allem was sich daran anschließt, also dem Mathematischen überhaupt; weiter werden genannt: Schön und Gut mit ihren Gegenteilen; also neben den Grundbegriffen der theoretischen die der praktischen Erkenntnis, welche beiden Gebiete dann in den Terminis Sein und Wert (ousia und ôphelia) deutlich geschieden werden (186 C).

Es ist nicht denkbar, daß dem Schreiber des Phaedrus diese Begriffe selbst nicht schon geläufig gewesen wären. Mußte doch in jeder Erörterung der Begriffe als solcher von Einheit, Identität, Sein, Nichtsein u.s.w., eben weil sie Grundbegriffe sind, irgendwie geredet werden. Und, wenn sonst nichts, so beweist wenigstens die Nennung der drei Themata der Schrift des ZENO (Phaedr. 261 D, vgl. Parm. 127 E, 129 D), daß die Aufmerksamkeit PLATOS auf solche reinen Grundbegriffe auch im Phaedrus gerichtet ist. Aber ausgezeichnet als Grundbegriffe, als die schlechthin ersten und allgemeinen, sind sie im Phaedrus entschieden nicht. Es ist überhaupt die Aufgabe, solche festzustellen, nicht irgendwie deutlich bezeichnet. Gefordert wird allgemein Verknüpfung des Mannigfaltigen zur Einheit im Begriff. Aber, während bei der Einteilung vorgeschrieben wird, sie fortzusetzen bis zum nicht weiter Einteilbaren, wird nicht auch hinsichtlich der Verknüpfung die entsprechende Forderung gestellt, sie zurückzuverfolgen bis zu den letzten schlechthin einfachen Verknüpfungsweisen, die nicht selbst wiederum als Verknüpfungen noch einfacherer verstanden werden können; was, wie später im Sophisten, auf die klarste Fassung der Aufgabe, die Urbegriffe zu bestimmen, und jedenfalls auch auf die ersten dieser Begriffe selbst geführt haben würde.

Namentlich aber, wenn man prüft, welche Begriffe als Beispiele reiner Denksetzungen im Phaedrus genannt werden, so ergibt sich das Auffallende, daß die Stammbegriffe der theoretischen Erkenntnis, die im Theaetet und auch im Phaedo weit voranstehen, im Sophisten sogar ausschließlich berücksichtigt[78] sind, im Phaedrus dagegen überhaupt nicht unter den Ideen auftreten, sondern nur (erstens) die Allgemeinbegriffe, reine Erkenntnis und reines Sein überhaupt, dann (zweitens) die sittlichen Begriffe, in der nüchternen Darlegung des zweiten Teils vertreten durch die altbekannte, vom Krito an stereotyp wiederkehrende Trias des »Gerechten, Guten, Schönen« (260 A, 276 C u. ö.), in der sich freier ergehenden Darstellung der dritten Rede vollends in Gestalt der sokratischen Tugendbegriffe: Gerechtigkeit, Besonnenheit (247 D, 250 B, 254 B), praktische Vernunft oder Besinnung (phronêsis 250 D); von welchen (drittens) die Schönheit in der früher erörterten Weise, als dem Sinnlichen gleichsam eine Stufe näherstehend, unterschieden wird (250 BD; 254 B mit der Besonnenheit, dem hier einzigen Vertreter des sittlichen Gebiets, eng verbunden). Wollte man selbst, in gewagtestem Entgegenkommen, gelten lassen, daß unter der wahrhaften Erkenntnis, die zum Inhalt hat das »was es ist, das Sein«, nicht die begriffliche Erkenntnis und als ihr Objekt das begriffliche Sein überhaupt, sondern speziell die theoretische Erkenntnis und die durch sie gesetzte Seinsart zu verstehen sei, welchen dann etwa koordiniert gedacht wären die Gebiete des Sittlichen und des Schönen, so bliebe immer noch auffallend, daß in den Festsetzungen über die Aufgabe der Dialektik, die für die Deutung der dritten Rede doch die einzig feste Grundlage bieten, jede Spur einer solchen Unterscheidung verschwindet und eigentlich nur von den sittlichen Begriffen (und demnächst den psychologischen, wovon hernach) die Rede ist; auffallend ferner, daß das ganze Gebiet der mathematischen Grundbegriffe, welches sonst in allen etwas eingehenderen Darstellungen der Dialektik eine geradezu führende Rolle spielt, im Phaedrus nirgends auch noch so schwach angedeutet wird. Die Mathematik wird wohl trotzdem irgendwie im Hintergrund stehen; aber daß sie so tief in den Hintergrund zurücktreten kann in einem ganzen Dialog, der einen Hauptplatz unter den Darstellungen der dialektischen Methode einnimmt, scheint mir stark beweisend für eine noch wenig scharfe Erfassung dieser Methode.

2. Im Phaedo (100 ff.) werden Grundsätze gefordert. In jeder wissenschaftlichen Gedankenentwicklung ist zunächst der relative Grundsatz (Obersatz zur Deduktion, hypothesis) festzustellen, aus dem das Ergebnis herzuleiten ist. Es ist demnächst einerseits zu prüfen, ob dieser sich in den Ableitungen durchweg[79] bewährt; andrerseits »aufwärts« zu höheren und höheren Obersätzen zurückzugehen, bis man zu einem »zulänglichen« d.h. keinen weiter voraussetzenden, einem wahrhaft »ersten« Satz (107 B) oder Prinzip (archê, 101 E) gelangt. Im letzten Grunde deckt sich Grundsatz und Grundbegriff, denn PLATO ist sich so klar darüber wie KANT, daß Begriffe überhaupt »Prädikate möglicher Urteile« sind. Eben der Sinn der reinen Begriffe (des ho estin) und ihre Funktion in der Erkenntnis wird erklärt durch das Verfahren der Begründung in Obersätzen bis zu den letzten Obersätzen zurück; die Deduktion begründet die Definition. Also besagt die Begründung aller Urteile in Grundurteilen die Begründung aller Begriffe in Grundbegriffen, d.h. aller gültigen Prädikationen (in Urteilen) in Grundprädikationen. Der »hinlänglich«, nämlich hinlänglich radikal begründete Sinn der Prädikation als gut, schön usw., das und nichts andres ist die »Idee« des Guten, des Schönen, und die richtige Subsumtion unter die zulängliche Definition des Prädikats, das ist die »Teilhabe« (methexis) an der Idee, welche die allein befriedigende Antwort gibt auf jede Frage, warum etwas ist, was es ist, wird, was es wird. Zwischen den Grundsätzen des Phaedo und den Grundbegriffen des Theaetet besteht denn auch material die vollste Übereinstimmung. So ziemlich alles, was in der Form des Begriffs im Theaetet genannt wurde, kehrt in der Form des Grundsatzes im Phaedo wieder. Es fehlen weder die rein logischen noch die mathematischen noch die ethischen Elementarbegriffe, von den ersteren beiden aber wird auch schon der Übergang vorbereitet zu dem bis dahin und überhaupt am wenigsten von PLATO bearbeiteten Gebiet der Physik.

Im Phaedrus fehlt jede deutliche Spur, daß diese weittragenden, über den wissenschaftlichen Wert der Ideenlehre geradezu entscheidenden Erwägungen des Phaedo dem Autor schon bekannt waren. Man möchte behaupten, es sei das angesichts des vorliegenden Inhalts des Dialogs eine bare Unmöglichkeit. Wie hätte namentlich in der sonst so genauen und deutlichen Beschreibung der Aufgabe der Dialektik so jede Spur davon verschwinden können? Der Begriff ist gewiß auch hier Prädikat des Urteils. Aber, wie die reinen Grundbegriffe, der systematische Zusammenhang aller reinen Setzungen in gewissen fundamentalen Setzungen, auf die alle andern sich zurückleiten müssen, so sind vollends die reinen Grundurteile, in denen ebenso alle rein deduzierbaren Urteile zusammenhängen und[80] ihren gemeinsamen letzten Einigungspunkt suchen und finden müssen, in keiner noch so fernen Andeutung bei der Erklärung der Aufgabe der Dialektik zur Auszeichnung gelangt.

Zwar das Verfahren des deduktiven Beweises überhaupt ist schon im Meno und Gorgias geläufig, wo auch der Terminus »Hypothesis«, im schlichten Sinne des Obersatzes der Deduktion, nicht fehlt. Und so wäre es ein Wunder, wenn der Phaedrus gar überhaupt das Beweisverfahren nicht kennen sollte. Aber, daß er es kennt und anwendet, nämlich in dem Beweise der Unsterblichkeit der Seele (245 C u. ff.), und dabei auch der Termini »Prinzip« (archê) und »Beweis« (apodeixis) sich bedient, bekundet nicht, daß das Verfahren der Hypothesis im Sinne des Phaedo und die tiefe und reine Aufklärung der »Idee« durch dies Verfahren dem Autor des Phaedrus schon vorschwebe, geschweige deutlich erkannt wäre. Mag man den dialektischen Wert des dort gegebenen Beweises sonst noch so hoch einschätzen, in Wahrheit baut er sich aus wohlbekannten Motiven der vorsokratischen Naturphilosophie (des Anaximander und Alkmäo) auf und stützt sich an dem entscheidenden Punkte einfach auf die traditionelle Seelenvorstellung der Alten. Nämlich, nachdem deduktiv die notwendige Beharrung eines ersten bewegenden Prinzips überhaupt bewiesen ist, wird ohne jede weitere begriffliche Vermittlung die Definition gewagt: ein Körper, der den Quell der Bewegung in sich hat, ist beseelt, also Seele das sich selbst, mithin ursprünglich Bewegende, mithin an sich beharrlich. Der Ausdruck »Prinzip« wird dabei nicht im strengen Sinne eines »ersten« fundamentalen Satzes verstanden. Es heißt: »Der Anfang (archê) des Beweises ist dieser: Alle Seele ist unsterblich« (das ist nur die These), »denn das immer Bewegte ist unsterblich«. Das ist auch nicht etwa der letzte Grundsatz, aus dem abgeleitet wird; sondern erst durch das fernere Mittelglied: »Was in sich selbst den Quell der Bewegung hat, selbst Quell und Anfang der Bewegung ist, ist immer bewegt«, wird auf den wirklich letzten Obersatz der Deduktion hingeführt: »Ein Anfang der Bewegung muß sein, weil sonst die Bewegung selbst nicht wäre«. Also heißt »Anfang« des Beweises hier nicht der letzte Obersatz, aus dem deduziert wird, sondern ein erst noch zu beweisender Satz, der dann erst weiter auf seine Vordersätze zurückgeführt wird. Es ist also mit diesem Ausdruck mehr der didaktische als der logische Ausgangspunkt bezeichnet; wie übrigens noch an einer zweiten Stelle (237 C).[81] Würde aber auch dieses einzige Beispiel einer eigentlichen Beweisführung im Phaedrus größere dialektische Reinheit zeigen, immer bliebe auffallend, daß nicht die Apodeixis allgemein, als nicht ein sondern das Hauptstück der Methode, hervorgehoben, sondern in der Aufzählung der Grundelemente des dialektischen Verfahrens nur von Definition und Einteilung geredet, die Deduktion nicht auch nur genannt, geschweige die Funktion der reinen Begriffe überhaupt durch sie erklärt, auf sie zurückgeführt wird, wie im Phaedo. Daher kann man schwerlich einen andern Schluß ziehen, als daß jene entscheidenden Festsetzungen des Phaedo noch nicht errungen waren, als der Phaedrus geschrieben wurde.

3. Vollends eine Systematik der Wissenschaften, wie sie im Gastmahl und Staat aufgestellt wird, vermag ich im Phaedrus nicht zu erkennen. Zwar entspricht der »überhimmlische Raum« (247 C) sehr nahe dem »intelligibeln Raum« im Staat (508 C, 517 B und besonders 509 D), wo der Himmelsraum (ouranos) als das Sichtbare (horaton) etymologisch gedeutet wird, so daß dem sichtbaren Reich oder der Welt das intelligible als Überwelt, also dem Sinne nach auch hier als »überhimmlischer Raum« gegenübersteht. Diesen wird man also auch im Phaedrus auf die Dialektik oder reine Begriffswissenschaft als höchstes Wissenschaftsgebiet unbedenklich deuten dürfen. Und so fehlt es wenigstens nicht an der Krönung des Baues der Wissenschaften (Staat 534 E). Das haben wir ja von Anfang an als das wesentlich Neue im Phaedrus anerkannt. Aber die entscheidende Leistung der wissenschaftlichen Architektonik des Gastmahls und Staats liegt nicht so sehr in dieser Krönung, als vielmehr in dem induktiven Aufstieg, in dem kontinuierlichen Fortschritt vom Sinnlichsten bis hinauf zum Transzendentalen. Genau das ist es, was wir im Phaedrus ganz vermissen. Das Interesse an der Gipfelung der Erkenntnis in der reinen Begriffslehre hat hier das an der systematischen Gliederung des ganzen Baus und besonders an dessen unteren Stockwerken und dem soliden Erdgrund, der Erfahrung, ganz und gar verdrängt. Es wird, mit andern Worten, das sinnliche und das übersinnliche Gebiet geschieden, aber es erscheinen beide nun auch ganz auseinandergerissen; es fehlt vor allem die Vermittlung zwischen beiden durch die mathematische Methode.

Es fehlt aber auch, wovon schon die Rede war, die deutliche Bezeichnung des letzten Zielpunkts. Die Aufgabe[82] der Dialektik ist doch nicht schon genügend bezeichnet durch die allgemeine, bereits sokratische, Hervorhebung des Begriffs überhaupt und, was daraus leicht zu entwickeln war, der beiden Grundverfahren der Vereinigung und Sonderung; sondern man erwartet noch eine inhaltvollere Bezeichnung des letzten Objekts der Grundwissenschaft. Als solches wird im Gastmahl das Schöne, im Staat das Gute genannt. Inwiefern dieser Doppelausdruck begründet ist, wurde oben (S. 58 f.) schon angedeutet: das Schöne bezeichnet mehr die Methode der Vereinheitlichung als solche, das Gute mehr die letzte absolute Einheit selbst; jenes mehr den Weg, dieses mehr das Ziel. Aber das unendlich ferne Ziel ist doch zuletzt nur ein andrer Ausdruck für die Wegrichtung, insofern fällt beides der Sache nach wieder zusammen.

Ob das Verhältnis des Guten und Schönen im Phaedrus etwa dem entsprechend gedacht sei, wird nicht deutlich. Das Schöne erscheint allenfalls koordiniert den unter verschiedenen Benennungen – gerade nicht unter der einen zusammenfassenden Bezeichnung des Guten – auftretenden Begriffen des Sittlichen. Nach 250 D möchte als alleiniger Vertreter des Sittlichen und somit als höchster Begriff überhaupt der der phronêsis (praktischen Besinnung) zu verstehen sein. Das würde sehr gut zu der ersten Schriftenreihe, aber umso schlechter zum Staat stimmen, wo die Erklärung des Guten durch die praktische Besinnung als ganz unzulänglich zurückgewiesen wird, weil man doch weiter fragen müßte: welche Besinnung? und dann notwendig (vgl. Charm. 174 B u. ff.) zu antworten hätte: die auf das Gute, womit man sich aber nur im Kreise drehen würde (Staat, 505 B ff.). Oder wollte man (nach 247 D und 249 C) reine Erkenntnis und reines Sein als höchste Begriffe verstehen, so möchte zwar über den Einwand, daß das zwei letzte Begriffe wären statt eines, der Hinweis auf ihre notwendige Korrelation noch hinweghelfen; aber darüber hülfe nichts hinweg, daß das höchste Wissensobjekt schon nach dem Gastmahl auch nicht ein wissenschaftlicher Satz oder eine Erkenntnis, vollends nach dem Staat über Sein und Erkenntnis hinaus, fundamentaler als beide, und gerade in dieser höchsten Steigerung – das Gute sein soll. Ein reiner Einklang zwischen dem Phaedrus einerseits, dem Gastmahl und Staat andrerseits ist also auf keine Weise herzustellen. Zwischen beiden findet der Phaedrus keine Stelle, da sie dagegen unter sich sehr einig[83] sind. Daß aber der Phaedrus gar über beide hinaus einen Fortschritt zu größerer Klarheit bedeute, wird schon angesichts des eben dargelegten Sachverhalts nicht leicht einer behaupten wollen, und es findet auch sonst keine Bestätigung. Also bleibt nur übrig, daß er beiden vorausliegt und das dort klar und einhellig Entwickelte erst in unsicherer Vorahnung, daher ohne die bestimmten Scheidelinien der Begriffe, die dort erreicht sind, vorträgt.

Oder will man etwa sagen, PLATO sei im Phaedrus von der Überschwänglichkeit der Erhebung des letzten Wissensobjekts über Sein und Erkenntnis wieder zurückgekommen, indem er sich auf die in der Tat von keiner Philosophie ungestraft zu überschreitende letzte Grundrelation von Sein und Erkennen wieder zurückbesonnen habe? Aber der Sinn jener viel getadelten Überschwänglichkeit ist kein anderer als der reine Idealismus PLATOS; die unbedingte Souveränität des Gesetzes der Methode. Auch nicht ein Logos (tis logos, Gastm. 211 A) ist die letzte Instanz der Erkenntnis, wohl aber der Logos »selbst« (autos ho logos, Staat 511 B), das Grundgesetz des Logischen, welches alle besonderen Denksetzungen (logoi) und in diesen alles besondre Sein erst begründet. Möchte das im Phaedrus vorschweben, so stände er ja damit auf dem Boden des reinen platonischen Idealismus. Aber nicht nur reicht die hyperbolische Schilderung des überhimmlischen Raumes, der nicht wie im Staat eine nüchterne und erschöpfende wissenschaftliche Erklärung im eben angegebenen Sinne etwa nachfolgt, nicht hin, diese Deutung genügend sicherzustellen, sondern sehr bestimmt spricht schließlich dagegen die durchgängige Verquickung der Dialektik mit der Psychologie in der dritten Rede, die hingegen im Staat, eben durch den Rückgang selbst von der Erkenntnis oder Wissenschaft auf das letzte Gesetz des Logischen, glücklich und, man darf sagen, endgültig überwunden ist.

Dies verdient denn noch als letzter Fragepunkt eine genaue Erörterung: das Verhältnis der Dialektik zur Psychologie im Phaedrus. Ein klares Verständnis wird hier von Anfang an dadurch erschwert, daß die Psychologie im Phaedrus einerseits von der Physik abhängen, andrerseits die Dialektik sogar beherrschen zu sollen scheint.

Die ausdrückliche Anerkennung einer Wissenschaft von der »Natur des Alls«, auf die der Gorgias schon einen ersten Ausblick eröffnete, ist an sich gewiß, gegenüber der sokratischen Einengung der Philosophie auf Ethik und allenfalls Dialektik,[84] welche die ersten Schriften PLATOS noch nicht überwanden, ein sehr bemerkenswerter Fortschritt. Freilich eine dialektische Begründung für dies neue Wissenschaftsgebiet, über das ganz Allgemeine hinaus, daß es auf Gesetzeserkenntnis dabei ankomme, würde man im Phaedrus vergeblich suchen. Eine methodische Verknüpfung der Naturforschung mit der reinen Begriffsforschung, etwa durch Ableitung der zwei Arten des Seins, des Veränderlichen und des Beharrlichen, aus zwei Grundarten des Urteilens, wie wir sie im Phaedo kennen lernen werden, ist im Phaedrus nicht auch nur von fern angedeutet. Es fehlt dazu noch die allererste Voraussetzung jener tiefen Ergründung der Funktion des Begriffs im Urteil überhaupt, welche im Phaedo fast unmittelbar dies große Resultat herbeiführt und damit endgültig die im Phaedrus (247 D) noch in ganzer Schroffheit behauptete eleatische Entgegensetzung von Sein und Werden als Wahrheit und Schein überwindet. Trotzdem bleibt die Anerkennung einer Wissenschaft von der Natur, eben weil PLATO hier im Banne des Eleatismus noch tief befangen ist, ein hervorhebenswerter Ansatz zu weiteren Entwicklungen.

Auch, was die Probe betrifft, die der Unsterblichkeitsbeweis (245 ff.) von der Art dieser Naturforschung gibt, sei bereitwillig anerkannt, daß sie, ohne die dialektischen Forderungen des Phaedo der Strenge nach zu erfüllen, doch in der allgemeinen Tendenz mit diesem übereinstimmt. Das dort freilich ganz anders dialektisch begründete Prinzip der Erhaltung des Grundbestandes des Seins in der Veränderung ist in der Tat auch hier leitend. Kein Wunder zwar, da eben dies Motiv schon in der vorsokratischen Physik fortwährend wirkte, mehr als einmal auch schon zu genügend bestimmter Aussprache gekommen war. Auch die geometrische Grundlage der Kosmologie, auf die der Gorgias bereits hindeutete, bleibt zwar, wie schon bemerkt, im Phaedrus auffallend versteckt, aber wenigstens stillschweigend muß sie mitgedacht sein in dem, was von der Bewegung des ganzen Weltgebäudes gesagt wird; denn diese Bewegung ist unfraglich die kreisförmig in sich zurücklaufende und damit sich immer identisch erhaltende tägliche Bewegung des Himmelsgewölbes, wie PLATO sie auch sonst seiner Kosmologie zu Grunde gelegt hat.

Auch die allgemeine Verknüpfung der Kosmologie mit der Psychologie gibt wenigstens zu Bedenken, die den Phaedrus besonders träfen, keinen Anlaß, da sie ähnlich auch später von PLATO[85] festgehalten wird. Schon bedenklicher sind die Wirrnisse der hier entwickelten Psychologie selbst. Die Seele wird überhaupt abgeleitet als bewegendes Prinzip im Körper, und zwar unleugbar hier so, daß der Seele selbst Ort und Bewegung im Raum zugeschrieben wird. PLATO hat das später, am deutlichsten in den Gesetzen, vermieden, indem die Bewegungen in der Seele nur als innere, nicht räumliche verstanden werden, die räumlichen Bewegungen des Körpers daher zwar von ihr gewirkt werden, aber nicht indem sie selbst räumlich bewegt wird. Im Phaedrus dagegen ist die Seele, da sie Ort und Bewegung im Raume hat, im Grunde körperlich oder doch physisch gedacht; obgleich sie nach verschiedenen andern Wendungen wiederum scheint von allem Körper ganz und gar unabhängig sein zu sollen. Es soll ferner auch auf die göttliche Seele, der eine Verbindung mit dem Körper, wenn ich nicht irre (die Fassung ist hier durchweg dunkel), ganz abgesprochen wird (246 C), dennoch die Dreiteilung der Seele sich erstrecken, die doch keinen andern Sinn haben kann als die Entgegensetzung der reinen Vernunft gegen die sinnlichen d.h. körperlich bedingten Funktionen der Seele. In dem allen ist nicht bloß die Deutung der Metaphern im Einzelnen ungewiß sondern die Metaphern selbst sind nicht streng übereinstimmend festgehalten.

Doch würde man über solche einzelnen Schwierigkeiten hinwegsehen können, wenn nur die Klarheit des letzten Grundgedankens dadurch nicht getrübt würde. Aber sie wird getrübt durch die hier durchgehende Vermischung psychologischer Aufstellungen mit rein dialektischen. Es ist wahr, daß PLATO seine mit dem religiösen Gedankenkreis der Orphik zusammenhängenden psychologischen Vorstellungen auch sonst, auch im Phaedo und Staat mit der Ideenlehre enger verknüpft, als im Interesse einer reinen Durchführung der letzteren erwünscht ist. Aber doch ist in diesen beiden Werken das Psychologische vom Dialektischen weit mehr gesondert, und behauptet sich das letztere schließlich in ungleich größerer Reinheit, als im Phaedrus. Sonst wird eher daraus, daß die Seele der Erkenntnis des reinen begrifflichen Seins fähig ist, erst gefolgert, daß sie von der Sinnlichkeit, also Körperlichkeit, ursprünglich und in letzter Instanz frei sein müsse; hier dagegen gerät die Dialektik geradezu in die Botmäßigkeit der Psychologie, indem die reine Loslösung der Seele von allem Körperlichen (obgleich sie ursprünglich als Bewegkraft im Körper eingeführt[86] war) zur Bedingung gemacht wird für die Schau des reinen Seins. Und es scheint dabei wenigstens das reine Sein der erkennenden Seele gegenüberzustehen als ein Äußeres, zwar nicht ein Sinnending, sondern ein Übersinnliches, nicht im Raum, sondern im Überraum, aber doch ans Sinnenreich gleichsam räumlich angrenzend, und so, trotz der beabsichtigten Erhebung über es, doch tatsächlich ihm bedenklich nahe gerückt. Ein Satz wie der des Phaedo, daß der Logos nicht bloß das Instrument sei, mit dessen Hilfe wir das Sein erblicken, so daß wir dieses doch nur abbildlich erkennten, sondern in ihm das Sein ursprünglich vielmehr gesetzt als bloß geschaut werde, oder der noch weniger realistisch deutbare des Staats, daß das letzte Objekt des reinen Denkens über das Sein überhaupt hinaus sei, wäre im Gedankenzusammenhang des Phaedrus nicht wohl möglich. So sicher also die Tendenz zum Idealismus auch hier zu erkennen ist, die Reinheit des Idealismus wenigstens, wie sie sich im Phaedo und Staat, nicht bloß in jenen Sätzen, ausspricht, ist nicht erreicht.

Es ist die Gefahr der Transzendenz, gegen die der Phaedrus keinen ausreichenden Schutz bietet. Gewiß soll auch hier die Methode das Letzte sein, aber scheint es nicht wenigstens anders? Verrät sich nicht allenthalben die Unentwickeltheit gerade der Methode? Die Wichtigkeit des Begriffs ist erkannt; aber glaubt nicht PLATO in den, wie es scheint, einfach auf dem Wege der Abstraktion aus dem Sinnlichen (249 B) zu gewinnenden Begriffen doch etwas wie dinghafte Wesenheiten zu ergreifen? Eine Erkenntnis reiner Vernunft (247 D) wird behauptet, die, von aller Sinnlichkeit sich scheidend, das übersinnliche Sein in einer unmittelbaren, rein geistigen Schau, und damit in seiner absoluten Gegenständlichkeit erfaßt, erhaben ob räumlicher Geteiltheit, ob zeitlichem Wechsel der sinnlichen Erscheinungen. Das begriffliche Verstehen des Sinnlichen aber ist nur Wiederbesinnung auf das dereinst rein Geschaute. Das Wesen ist wohl irgendwie in der Erscheinung, sonst könnte es nicht daraus erkannt werden; aber es ist darin nur als im schlechten Abbild, und wäre nicht daraus zu erkennen, wäre es nicht voraus schon erkannt, nämlich durch die reine Vernunft – vor diesem Leben. Was aber in das reine Wesen nicht aufgeht, wird als nichtiger Schein verworfen, es ist überhaupt kein Gegenstand für unsre Erkenntnis; nicht nur kein rein erkennbarer, sondern überhaupt kein Gegenstand der Nachfrage. Es wird so schlechthin[87] negiert, wie nur je ein Philosoph der eleatischen Schule gewagt hat Erscheinen gleich Nichtsein zu setzen.

Zu Grunde liegt bei allem gewiß die Ursprünglichkeit der Denkfunktion und nichts andres. Ja man darf sagen, das Transzendentale liegt zu Grunde. Aber wird nicht das Transzendentale hier zum Transzendenten – das methodisch Überragende zum überragenden dinghaften Sein? Das Gesetz der Einheit ist gedacht, aber es ist gedacht nicht rein als Gesetz für die Erkenntnis des Gegenstands in der Erfahrung, sondern als auch für sich selbst zu erkennender Gegenstand jenseits der Erfahrung; als etwas, das auch für sich »ist«. Das Transzendentale lag im Transzendenten schon bei den Eleaten, die nur darum die Führer der Dialektik werden konnten; aber in der Steigerung zum Transzendenten konnte es seine eigenste Kraft, die der Gestaltung von Wissenschaft, nicht entfalten. PLATO, zum Entwurf seiner Dialektik, nächst SOKRATES, am mächtigsten durch die Eleaten angeregt, hatte diese Klippe zunächst zu befahren, an der sie gescheitert waren. Er ist nicht gescheitert; aber keine seiner Schriften zeigt ihn der gefährlichen Stelle so nahe wie der Phaedrus. Wir werden sehen, wie er im Theaetet, Phaedo, Gastmahl und Staat der Überwindung des Transzendenten zugunsten des Transzendentalen schrittweis näher kommt, um sie im Parmenides endgültig zu erreichen.

Schon nicht mehr eleatisch ist ja die Bezeichnung der Erscheinung als Gleichnis, Abbild, Nachahmung des reinen Seins. Aber doch fällt dabei bisher der ganze Nachdruck auf die Ungenauigkeit des Nachbilds. Ohnedies erscheinen gerade in dieser Bezeichnung die Ideen allzu leicht als eine andre Klasse von Dingen, parallel den Sinnendingen, und zwischen beiden eine Beziehung, wie sie unter Dingen statthat. Ist das Metapher, so muß man gestehen, daß es die gefährlichste ist, die man wählen konnte. PLATO gebraucht sie ja auch im Phaedo, aber sie wird in den letzten dialektischen Ausführungen dieses Dialogs gründlich überwunden, und im Parmenides mit schärfster Kritik preisgegeben. Andrerseits fehlen im Phaedrus gerade die Ausdrücke, welche die »Immanenz« der Idee in den Erscheinungen (wie die Neueren sagen) am deutlichsten bezeichnen: die Präsenz (parousia) und die Teilhabe (methexis).

Daß in allen diesen Beziehungen der Fortschritt auf Seiten des Phaedo, Gastmahls und Staats ist, wird die Spezialbehandlung dieser Dialoge, wie ich denke, zur Evidenz bringen.[88] Diese ganze schroff dualistische Entgegensetzung des reinen Seins gegen die sinnlich-räumliche Erscheinung wäre entwurzelt, wenn PLATO hier schon erkannt hätte, was im Phaedo in überraschender Deutlichkeit zu Tage kommt: daß die große Scheidung der beiden Seinsarten, des Wandelbaren und Unwandelbaren, zu begründen ist in zwei fundamentalen Weisen des Urteilens, indem die Bewegung des Werdens sich erklärt als Bewegung der Prädikate im Urteil durch Wechsel des Bezugspunkts. Sie wäre entwurzelt, wenn PLATO schon vor Augen gehabt hätte, was in nicht weniger überraschender Klarheit das Gastmahl ausspricht: einen strengen Systemzusammenhang, der »Himmel und Erde, Göttliches und Menschliches«, d.i. Unsichtbares und Sichtbares, Idee und Sinnenwelt in Eins verknüpft kraft der dialektischen Methode, kraft des induktiv (»von einem zu zweien und von zweien zu allen«) fortschreitenden Verfahrens, das von den isolierten Einzelobjekten somatischer und psychischer Ordnung durch die zusammenhängenden Wissenschaften (beider Gebiete) zur einen Grundwissenschaft (Dialektik) Stufe um Stufe hinansteigt. Davon ist weit entfernt jener »jähe Flug« (oxeôs pheretai 250 E), in welchem, nach dem Phaedrus, die reine Vernunft alles, »was wir jetzt seiend nennen«, alles »woraus Menschen einen Ernst machen«, als nichtigen Schein hinter sich wirft, um sich in einer einzigen enthusiastischen Ekstase (existamenos tôn anthrôpinôn 249 D) in die Gefilde der Wahrheit, zum »wahrhaft seienden Wesen« emporzuschwingen. Es ist richtig, daß auch im Phaedo und Staat noch viel von der gleichen, eleatischen Stimmung zurückgeblieben ist. Aber daneben stehen, und zwar stets am Ende aller Entwicklungen, als deren Reinergebnis, jene großen, nie wieder preiszugebenden Errungenschaften einer streng logisch durchdachten und durchgearbeiteten Methodik der Wissenschaft.

Nach dem allen dürfte über die allgemeine Stellung des Phaedrus in der Entwicklungsgeschichte der Ideenlehre kein Zweifel mehr sein. Für die ebenfalls gewichtigen äußeren Gründe, die unsrer chronologischen Ansetzung zur Stütze dienen, darf, wie für alle hier nicht berührten Einzelfragen, auf die schon angeführten Abhandlungen verwiesen werden.[89]

8

Vgl. die früheren Abhandlungen; Philologus XLVIII (N. F. II), S. 428 ff., 583 ff. und Hermes XXXV, 385 ff., wozu vorbereitend Archiv für Geschichte der Philosophie, Bd. XII, 1ff., 159 ff., XIII, 1ff.

9

Ich verdanke diese für mich überzeugende Deutung der feinen Schrift L. VON SYBELS, PLATOS Symposion ein Programm der Akademie. Marburg, ELWERT, 1888.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 53-90.
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