Rückblick auf den Theaetet

[163] Zum Schluß sei nochmals die Frage wegen der Stellung des Phaedo zum Theaetet aufgeworfen, die sich auf Grund dieses letzten Teils, wie wir denken, zu zweifelsfreier Entscheidung bringen läßt.

Der Theaetet kennt noch gar nicht – so wenig wie der Phaedrus – dies Problem: das empirische Urteil im reinen zu gründen. Er scheint überhaupt nur dem letztern Wahrheit zuzugestehen, und man hat Mühe zu erkennen, daß er eine logische Begründung des empirischen Urteils wenigstens nicht ausschließt. Das möchte für sich schon entscheiden.

Es lassen sich aber auch bestimmte einzelne Punkte aufweisen, in denen der Phaedo über den Theaetet unwidersprechlich hinausgeht. Wir fanden im ersten Teil, daß der Phaedo von Anfang an auf bestimmten Voraussetzungen als für PLATO bereits bewiesenen fußt, die nirgendwo anders als im Theaetet bewiesen sind. Wir fanden im dritten Teil, daß er in der Aufstellung des Veränderlichen als einer eignen Art des Seins den ganzen Standpunkt des Theaetet überschreitet. Im vierten Teil erhielt eben diese Aufstellung ihre tiefere Begründung, indem die zwei Arten des Seins sich herausstellten als zwei Arten des Urteils. Es läßt sich aber über das alles erweisen, daß in einem Fall im Theaetet ein Problem aufgeworfen, als Problem stark hervorgehoben, aber nicht gelöst wird, welches im Phaedo seine klare und vollständige Auflösung findet, in einer andern sehr fundamentalen Frage der Phaedo vom Theaetet merklich abweicht, dagegen mit zweifellos späteren Dialogen zusammengeht.

1. Im Theaetet, p. 154 ff., wurden die merkwürdigen Erscheinungen der Relativität der Größenbegriffe vorgeführt, aber nur als ein Gegenstand jener Verwunderung, die zur Philosophie führen muß. Eine Auflösung wurde nicht von fern angedeutet, denn was als angebliche Auflösung folgte, nämlich die These, das es überhaupt nur Relatives gebe, das Absolute ganz ausfalle, war keine Lösung, sondern eine grenzenlose Steigerung der Schwierigkeit, erwies sich auch hernach ganz undurchführbar. Man konnte aus dieser Selbstauflösung der These in ihrer extremen Wendung allenfalls entnehmen, es müsse doch irgendwelche feste Bestimmungen geben, es müsse also die unleugbare Tatsache der Relativität mit der Festhaltung begrifflicher Identitäten wohl irgendwie vereinbar sein; wie aber beides zusammenbesteht, war nirgends auch nur angedeutet.[164]

Man muß, zum Vergleich mit dem Phaedo, die bestimmte Fassung des Arguments im Theaetet vor Augen haben. a) (154 B) Sechs Würfel sind, gegen vier gehalten, mehr, gegen zwölf, weniger. Sind sie also, von der einen zur andern Vergleichung, weniger geworden, oder wie sind sie nachher, was sie zuvor nicht waren, ohne doch sich geändert zu haben? b) (155 B) SOKRATES ist zur Zeit größer als THEAETET, übers Jahr wird er kleiner als er sein, ohne selbst kleiner geworden zu sein, nämlich indem THEAETET gewachsen sein wird. Auch wie dies zugeht, blieb ganz unaufgehellt. Überhaupt gab ja der Theaetet keinerlei Erklärung des Werdens, er begnügte sich die Bestimmtheit der reinen Grundbegriffe selbst festzustellen, in der allein Sein und Wahrheit sei. War nach gar keiner Wahrheit des Werdens gefragt, so war auch jenes Problem positiv nicht zu beantworten.

Wir haben aber bereits gesehen, wie im Phaedo (102 ff.) genau dieses Problem streng und rein aufgelöst wird. Dabei dient als Beispiel ebenfalls die Größe des SOKRATES verglichen mit der der Person, mit der er sich gerade unterredet, diesmal des SIMMIAS. Aber während im Theaetet nur, in ernstester Weise, das Problematische der Sache betont wurde, wird hier das Problem beantwortet, und zwar in einer umständlichen Deutlichkeit, die der Autor selbst scherzend der peinlichen Genauigkeit des Stils gerichtlicher Urkunden vergleicht (102 D).

Es ist eingewandt worden, im Theaetet handle es sich um den Fall der sukzessiven, im Phaedo um den der gleichzeitigen Beziehung kontradiktorischer Prädikate auf dasselbe Subjekt. Aber das ist ein tatsächlicher Irrtum; an beiden Stellen werden beide Fälle ins Auge gefaßt; nur wird, was völlig unwesentlich ist, das Beispiel von der Größe des SOKRATES im Theaetet auf den einen, im Phaedo auf den andern Fall angewandt. Problem und Lösung ist für beide Fälle so durchaus gleichartig, daß das Beispiel sich mit unwesentlicher Abwandlung vom einen auf den andern Fall übertragen ließ. Dieser Unterschied ist ganz belanglos. Es bleibt also dabei, daß das Problem des Theaetet im Phaedo gelöst ist; überdies unter Anwendung eines so genau entsprechenden Beispiels, daß der Gedanke einer absichtlichen Zurückbeziehung wahrlich nicht fern liegt.

2. Man hat den weniger entwickelten Standpunkt des Phaedo ferner damit beweisen wollen, daß dieser von den »allen gemeinsamen« Grundbestimmungen, den Kategorieen des Theaetet nichts wisse. Es wäre sehr einfach, zu antworten, umgekehrt[165] wisse der Theaetet nichts von den reinen Grundsätzen des Phaedo. Aber es ist mehr zu sagen: diese Grundsätze erweisen sich durchweg als Vertiefung und Entwicklung der Kategorieen des Theaetet; sie entwickeln nur deren Funktion in der Erkenntnis. Was z.B. Identität und Entgegensetzung zu sagen haben, was »das Wesen des Gegensatzes selbst« (Theaet. 186 B), d.h. was ihre Funktion in der Erkenntnis ist, das ist im Phaedo, nicht im Theaetet entwickelt. Die Grundbegriffe des Gleich, Größer, Kleiner, der Einheit und Zweiheit, des Gerade und Ungerade kommen sämtlich in Gestalt von Grundsätzen, Hypothesen, zur Sprache. Auch die sittlichen Begriffe werden dabei wenigstens genannt. Man hat den wichtigen Grundbegriff des Nichtseins im Phaedo vermissen wollen, aber in Form der negativen Prädikation kommt er (105 DE) zur Verhandlung. Ich finde hier überall im Phaedo die ungleich tiefere Entwicklung und Begründung. Es kommt aber in einer solchen Vergleichung doch wohl nicht bloß darauf an, wo der oder jener Ausdruck gebraucht, der oder jener Gedanke irgendwie angedeutet, sondern wo die Sache selbst tiefer durchdrungen ist.

Doch möchten sich dem allen gegenüber noch Ausflüchte finden lassen, die wenigstens den Redenden selbst, wenn auch keinen andern befriedigen; es könne etwa im Theaetet bloß knapp zusammengefaßt sein, was im Phaedo zuvor eingehend begründet war, und dergleichen. Durchschlagend aber ist wohl die Vergleichung der »höchsten Gattungen« im Sophisten (254 ff.). Als die fünf obersten Gattungen treten nämlich dort auf:


Sein


Beharrung – Veränderung

Identität – Verschiedenheit = Nichtsein.


Die Anordnung ist nicht streng, will auch wohl nicht als endgültig angesehen sein. Identität und Verschiedenheit müßten sachlich der Beharrung und Veränderung, als Identität und Verschiedenheit im Nacheinander, voranstehn. Aber nur um so schlagender ist die Übereinstimmung mit dem Phaedo, der als die beiden obersten Gattungen des Seins das Beharrliche und Veränderliche aufstellt, dann in der Entwicklung der Grundsätze als die schlechthin fundamentalen unter diesen die der Identität und Entgegensetzung aufstellt und von diesen aus dann die fundamentalen Festsetzungen über die Möglichkeit der Veränderung einerseits, die Beharrung des Grundbestandes des Seins in der Veränderung andrerseits zwar[166] nicht völlig entwickelt, aber dem Prinzip nach enthält. Beharrung und Veränderung fehlen dagegen im Theaetet unter den Grundbegriffen ganz; und wenn man indirekt aus dem von den Eleaten Gesagten gewiß entnehmen darf, daß PLATO schon dort gesonnen ist beide mit einander gelten zu lassen, der vollständige Ausfall dieser Grundbegriffe in der sonst so reichhaltigen Liste des Theaetet, während sie unter den wenigen Grundbegriffen des Sophisten die erste Stelle nächst dem gemeinsamen letzten Oberbegriff des Seins einnehmen, ist und bleibt auffällig, stimmt aber nur zu gut damit überein, daß überhaupt nur das reine, unveränderliche Sein der Begriffe ausdrücklich anerkannt, eine Wahrheit des Sinnlichen, das sich ja deckt mit dem Werdenden und Veränderlichen, dem Anschein nach rund geleugnet, jedenfalls in keiner Weise begründet, ja auch nur bestimmt zum Problem gestellt ist. Man wird sich schwerlich dauernd der Einsicht verschließen können, daß der Phaedo hier dem Sophisten (und dasselbe trifft, wie wir künftig sehen werden, auf den Parmenides zu) einen ganz bedeutenden Schritt näher ist als der Theaetet.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 163-167.
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