B. Die Philosophie (pag. 210-212).

[174] Das bis dahin Vorgeführte könnte unserem Thema, der Ideenlehre, ferner zu liegen scheinen. Wie nahe es sich mit ihr doch berührt, wird klar, wenn wir jetzt zum Abschluß der ganzen, sehr einheitlich angelegten und durchgeführten Darstellung übergehen.[174]

Es wird der Stufengang (211 C) beschrieben, den die hohe Schule der Philosophie durchläuft. Er beginnt von diesen und diesen, in der Erfahrung gegebenen »schönen Gegenständen« (vgl. den Gorgias, oben S. 51), um zu enden mit dem höchsten Wissensobjekt, dem »Schönen selbst«. Den Aufstieg zu immer höheren d.i. fundamentaleren »Voraussetzungen« kennen wir aus dem Phaedo. Was aber dort, als Ausgangspunkt der Deduktion, das »Erste« hieß, wird hier, im induktiven, von unten aufsteigenden Stufengang, das Letzte, das »Ziel«. Das allgemeine Verfahren der induktiven Erkenntnis wird deutlich beschrieben als der geregelte, auf immer höherer Staffel sich wiederholende Gang »von Einem auf Zwei und von Zweien auf Alle«, wo die Zweiheit als allgemeiner Methodenausdruck die Andersheit (das heteron 210 B) vertritt. Es ist also: Anfangssetzung (absolute Setzung), Wiederholung (Setzung des Andern zum Einen, also relative Setzung), und Zusammenschluß (des auf der zweiten Stufe bloß Geschiedenen) in der höheren Einheit der Allheit; die dann wiederum als Ausgangspunkt zu einer neuen Anwendung desselben induktiven Stufengangs dienen kann, und so fort. Das sind in der Tat die natürlichen drei Schritte der Entwicklung der Erkenntnis überhaupt.

Der ganze Weg nun gliedert sich in die folgenden vier Hauptstationen. Die erste Erkenntnisstufe verbleibt noch im Bereiche der Körperwelt und sucht zunächst in dieser die besonderen Gesetzlichkeiten auf, nicht ohne das Ziel einer die ganze Körperwelt umfassenden Gesetzesordnung. Daß das »Schöne« schon hier die Gesetzesordnung meint, wird weiterhin deutlicher werden. Das zweite Gebiet ist das des Psychischen; die Sittenwelt, insbesondere »das Schöne in den Einrichtungen und Gesetzen«; also das oben schon vorgreifend genannte Gebiet der sozialen und pädagogischen Organisationen; in welchem allen wiederum die durchgängige Verwandtschaft und Zusammengehörigkeit erkannt werden soll. Hier besonders hilft zum Verständnis der Gorgias, wo schon das Sittliche erklärt wurde als das Gesetzliche der psychischen Welt, und zwar in genauer Analogie mit der Gesetzesordnung des äußeren Kosmos (s. o. S. 48 f.). Der dritte Schritt führt zum »Schönen der Wissenschaften«. Auch das war schon im Gorgias (474 D – 475 A) angedeutet. Hier gelangt das Streben der Erkenntnis bereits aufs »weite Meer« der Theorie, um Gesetzlichkeit nach jeder Richtung, nicht mehr bloß in irgend einem Sondergebiet,[175] zu verfolgen, und zahlreiche herrliche Sätze und Gedankengänge in unbeschränkter Forschung (denn das heißt auch hier »Philosophie«) zu erzeugen.

Doch ist es bis dahin mehr nur auf peripherische Umfassung vielseitiger Erkenntnisse, als auf zentrale Zusammenfassung in einer wahren und letzten Einheit abgesehen. Dies ist der letzte Schritt, der noch zu tun übrig bleibt, dies das Ziel, das allein dieser vielfältigen Mühe lohnt. Nämlich, durch alle solche wissenschaftliche Arbeit gestärkt und gewachsen, erblickt man endlich die Einheit (Einzigkeit) der Wissenschaft (210 D tina epistêmên mian), in ihrem letzten Einheitsgrunde, der Idee; hier: der Idee des Schönen. Vertritt aber das Schöne durchweg das Gesetzliche, so bedeutet das eine Schöne notwendig das Gesetz der Gesetzlichkeit selbst; also die letzte, zentrale Vereinigung aller besonderen Erkenntnisse im Urgesetze der Erkenntnis selbst, in ihrer reinen Methodengrundlage.

Was ist das an sich Schöne? Nichts Vergängliches noch Veränderliches, noch Relatives oder nur Subjektives, noch an Zeit- oder Raumbedingungen Gebundenes; nichts Körperliches, also nicht Gegenstand sinnlicher Vorstellung; aber auch nicht etwa ein (besonderer wissenschaftlicher) Satz, eine (besondre) Wissenschaft (oude tis logos oude tis epistêmê 211 A). Und doch war es zuvor (210 D) Gegenstand einer einzigen, richtiger der einen Wissenschaft, und wird es auch nachher wieder (211 C) als Objekt der letzten Wissenschaft, im Unterschied von den (besonderen) wissenschaftlichen Disziplinen bezeichnet (211 C heôs apo tôn mathêmatôn ep' ekeino to mathêma teleutêsê). Was hat man sich darunter zu denken? Es kann nach allen diesen Bestimmungen nur sein: nicht eine Idee, aber die Idee, nicht ein Gesetz, sondern das Gesetz, das Gesetz der Gesetzlichkeit selbst, welches allen besonderen Gesetzlichkeiten besonderer Wissenschaften unveränderlich zu Grunde liegt.

Darum ist es allerdings nur erfaßlich in jenem Stufengang, der durch das ganze Gebiet der Wissenschaften in strengem induktivem Fortschritt bis zu dieser letzten Vereinheitlichung und also Verallgemeinerung hinaufführt. Denn das wird am Ende der Schilderung des ganzen Stufengangs (211 BC) nochmals eingeschärft, daß nur in dem beschriebenen induktiven Gang man bis zu diesem Letzten gelangt. Wieder und wieder wird dies als der allein »richtige« Gang betont (210 ean tis[176] orthôs metiê ... ton orthôs ionta, 210 E theômenos ephexês te kai orthôs ta kala, 211 B noch zweimal orthôs). Das Objekt dieser letzten Erkenntnis steht also zwar über allen besonderen Erkenntnissen besonderer Wissenschaft, aber nur als das letzte Gesetz der Erkenntnis, der Wissenschaft, dessen Fälle jene (nach der strengen Bedeutung der »Teilhabe«, 211 B) sind. Es ist nicht ein (besonderer) Satz oder eine Wissenschaft, aber das letzte Gesetz aller wissenschaftlichen Setzung und alles Systemzusammenhangs solcher Setzungen in Wissenschaften; der letzte Grund aller Begründungen; also auch nicht ein Grundsatz, eine Hypothesis, aber der Grundsatz, die Hypothesis selbst. Das und nichts Andres wollen die hyperbolisch lautenden Prädikate besagen. Es ist recht eigentlich das Transzendentale d.i. Uebergegenständliche, im eben erklärten Sinne sogar Ueberwissenschaftliche, aber nur, indem es zugleich das ist, was allen Gegenstand, alle Wissenschaft begründet, daher selbst nur zu erreichen durch den Weg der Wissenschaften, in dem letzten induktiven Aufstieg von »den« Wissenschaften zu »der« Wissenschaft.

Es ist also das anypotheton, der voraussetzunglose, selbst nicht bloß voraussetzungsweise geltende Anfang, die unbedingte Bedingung des »Staats«. Daß dies Selbige einmal das Schöne, ein andermal das Gute heißt – DIOTIMA selbst gab ja vorher als Endziel vielmehr das Gute an, setzte es aber dann dem Schönen völlig gleich (204 E u. ff.) – kann keinen Augenblick Bedenken machen, wenn man sich erinnert, wie unmittelbar diese beiden Begriffe für PLATO überhaupt zusammengehören; so schon im Gorgias, gelegentlich auch im Staat, und noch spät in sachlichster Begründung im Philebus (64 E), wo ganz klar wieder, wie einst im Gorgias, als der gemeinsame Grundbegriff der des Maßes und zwar des gemeinsamen Maßes und damit des Gesetzes sich herausstellt, in welchem mit der Idee des Schönen und des Guten ferner auch die des Wahren zusammenfällt. Das Schöne hebt am Gesetzlichen das Befriedigende des Einklangs, der Einstimmigkeit, des Maßes, der Wohlordnung, der gegliederten, harmonischen Einheit, des »Kosmos« hervor; es ist der eigentliche Ausdruck des Formalen als solchen und im weitesten Sinne. Das Gute dagegen betont mehr den Sinn der Erhaltung, des identischen Bestandes, der Feststellung im Ewigen. Es betont also mehr die fundamentale Einheit selbst, in der alles Mannigfaltige befaßt ist und erhalten[177] bleibt, das Schöne mehr die Beziehung der Einheit auf das Mannigfaltige, und wie sie in ihm gegenseitige Zusammenstimmung und damit Befriedigung hervorbringt.

Nach diesem allen ist es fast zum Verwundern verkehrt, wenn man gerade hier im Gastmahl jene falsche Verdinglichung der Idee vorzugsweise hat ausgedrückt finden wollen, die ARISTOTELES dem PLATO zum Vorwurf macht. Das An-sich- und Für-sich-sein der Idee (211 B auto kath' hauto meth' hautou), die einzigen Ausdrücke, die dazu etwa verleiten konnten, kennen wir längst als schlichte Bezeichnung des Gegensatzes zur bloß beziehentlichen, daher mit dem Wechsel der Beziehung veränderlichen Setzung, oder der Setzung schlechthin. Aber dabei soll das an sich Schöne doch weder in der Zeit noch im Raume, weder auf Erden noch im Himmel noch überhaupt in Etwas, also auch nicht in einem »überhimmlischen Raum«, dagegen aber zugänglich sein der wissenschaftlichen, vom Sinnlichen in methodischer Induktion Stufe um Stufe fortschreitenden Erkenntnis. Und in seinem Anblick beginnt erst für den Menschen das echte Leben. Er mag, wie der Liebende beim Geliebten, nur schauen und mit ihm eins sein, nämlich nach der kraftvollen Bildlichkeit dieser ganzen Darstellung, geeint im geistigen Zeugungsakt: um nicht mehr bloße Abbilder der Tugend, sondern wahre Tugend, aus der Berührung des Wahren, zu erzeugen, und darin der Unsterblichkeit schon als Sterblicher teilhaft zu sein (212 A). Das heißt, das erkannte Prinzip muß sich fruchtbar beweisen in einem Wirken, welches nur bestehen kann in der Hineinbildung des Gesetzes in das Leben hienieden, in der Durchdringung dieses ganzen irdischen Lebens mit dem Ewigen. Wir vernahmen doch: das Letzte, was der Eros will, ist »nicht« das Schöne, »sondern« die Erzeugung im Schönen. Ich möchte wissen, wie man das alles deuten, wie man das Ganze dieser Darstellung mit sich in Einklang finden will, wenn das »an sich« Schöne ein unsagbares jenseitiges Ding ist und nicht ein im Denken, im induktiv fortschreitenden Erkennen klar erfaßliches und wiederum im irdischen Wirken anwendbares und sich fruchtbar beweisendes Prinzip.

Dagegen erkennen wir in der Unterscheidung, daß das letzte Objekt auch nicht Gedanke, obwohl Quell aller Gedanken sei, die bestimmte Überwindung des psychologischen Sinnes, den die Idee als a priori-Erkenntnis im Phaedo noch nicht völlig abstreifte. Hier wird die Ideenerkenntnis gar nicht mehr irgendwo[178] jenseits gesucht, sei es vor der Geburt oder nach dem Tode, noch ist sie nur Wiederauffindung einer voraus schon gehabten, fertig in uns liegenden, bloß schlummernden »Vorstellung«, sondern sie wird selbsttätig hervorgebracht in jener beständigen Selbsterneuerung, in der überhaupt das Bewußtsein nur lebt. Wir erkennen darin, nicht die Aufhebung, aber die letzte Vertiefung und Reinigung des Motivs der Wiedererinnerung. Denn gewiß bleibt die Erkenntnis, eben indem sie zu ihrer letzten Wurzel zurückgeht, Selbsterkenntnis des erkennenden Geistes vom eigenen Gesetz seiner Erkenntnis, welches, über alle besondere Gegenständlichkeit und besondere Erkenntnis eines Gegenständlichen hinaus, es ganz in eigenes Erzeugnis des Gedankens wandelt. Wer das erreicht, hat schon als Sterblicher die Unsterblichkeit und braucht nicht jenseits des Grabes sie erst zu erwarten. Das letzte Erzeugende freilich, das reine Gesetz »selbst«, kann nicht mehr ein Erzeugnis des Gedankens genannt werden. Aber aller und jeder bestimmte Gedanke, der ganze Inhalt der Wissenschaften und selbst der gemeinen Empirie ist erzeugt und nicht vorgefunden. Soll man nicht sagen, daß hier das »metaphysische« a priori überwunden sei durch das »transzendentale«?

So bestätigt sich von allen Seiten der klare Hinausschritt des Gastmahls über den Phaedo, und zwar im Sinne der Immanenz. Die hier nur in wenigen Strichen skizzierte Systematik der Wissenschaften aber wird ihre Ausführung finden im Staat.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 174-179.
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