[179] Nach so vielen bedeutenden Einzeldarstellungen wagt PLATO endlich den Versuch einer Zusammenfassung des Ganzen, was bis dahin erreicht war, unter gleichzeitig mächtiger Erweiterung der psychologischen, ethischen und pädagogischen Betrachtung in Rücksicht auf die Wechselbeziehung zwischen Individuum und Gemeinschaft. Die Errungenschaften sowohl der ersten, fast ausschließlich ethischen Fragen gewidmeten Schriftenreihe, vom Protagoras bis zum Gorgias, als auch der zweiten, vorwiegend[179] theoretischen, vom Phaedrus bis zum Gastmahl, werden geborgen und unter den großen neuen Gesichtspunkten sozialer Philosophie und Pädagogik in einen so tiefen wie umfassenden Zusammenhang gebracht.
Daraus versteht sich, daß das Werk die Spuren aller bisher durchlaufenen Entwicklungsphasen der platonischen Philosophie an sich trägt. Das erste Buch gleicht in jeder Hinsicht den Schriften der Frühzeit. Nicht nur in der äußeren Form ist die Ähnlichkeit auffallend, sondern auch das Thema – die Definition einer einzelnen Tugend, der Gerechtigkeit – fügt sich genau in den Problemkreis jener Schriften ein, und die Behandlungsart – Prüfung einer Reihe von Definitionsversuchen, mit bis zuletzt negativem Ergebnis – kopiert bis in Einzelzüge getreu die Art der ersten Dialoge. Am merkwürdigsten aber ist die in einigen Beziehungen fast bis zur Identität sich steigernde Verwandtschaft des Inhalts, der Anlage und selbst der Personenzeichnung (Thrasymachus – Kallikles) mit dem Gorgias. Die Absicht dieser in PLATOS Schriften sonst beispiellosen Selbstwiederholung,16 kann nur die sein, den wesentlichen Inhalt des die ethischen Forschungen der ersten Periode abschließenden Dialogs für das neue Werk festzuhalten, aber zur Bedeutung einer bloßen Vorarbeit – eines »Vorspiels« (357 A), dem das »Lied« erst folgen soll – herabzusetzen.
Man möchte danach vermuten, daß der Plan des Staats schon bald nach dem Gorgias entstanden, und auch diese Einleitung – die übrigens einige neue Gedankenreihen, welche in den späteren Teilen erst ihre Ausführung finden, schon vorbereitend andeutet – noch in frischer Erinnerung an den Gorgias und überhaupt die ganze erste Schriftenreihe niedergeschrieben sei. Allgemein läßt sich erweisen, daß PLATO, nachdem er über den sokratischen Standpunkt seiner ersten Forschungen hinausgekommen war, deren Errungenschaften keineswegs weggeworfen, sondern als notwendige Vorstufe seiner neuen Philosophie pädagogisch gewürdigt und für den Unterricht der Akademie fruchtbar gemacht hat. Im Euthydem wie im Gastmahl wird dieser Unterschied einer (sokratischen)[180] Vorstufe und der eigentlich wissenschaftlichen Stufe der Philosophie (seiner Ideenlehre) deutlich vorausgesetzt, und an eben dieser Unterscheidung hält der Staat fest. Das hilft die etwas schwierige Disposition des Werks erklären, welches mit bewußter Absicht von niederen zu höheren Betrachtungsweisen fortschreitet, daher nicht selten genötigt wird, über frühere Aufstellungen sei es stillschweigend hinwegzuschreiten oder sie ausdrücklich zu berichtigen.
Umso weniger sind wir verwundert, tiefgehende Beziehungen auch zu der ganzen zweiten Schriftenreihe zu finden. Um für jetzt nur das Wichtigste herauszuheben: der Phaedrus führt die Dreiteilung der seelischen Funktionen ein, die im Staat ausführlich entwickelt wird und dem System der individuellen und und sozialen Tugenden, der Gliederung der sozialen Funktionen, daher auch der Konstruktion der natürlichen Schritte der Bildung und des Verfalls der Gesellschaft zur Grundlage dient. Im Theaetet weist besonders die mehrfach berührte Episode (172 ff.) auf eine tiefe Beschäftigung mit den ethischen Kerngedanken des Staats; namentlich an das zweite Buch (Glauko und Adimantus) fühlt man sich gemahnt. Das würde, wenn Phaedrus und Theaetet vorhergingen, die Deutung fordern, daß PLATO, als er diese Gespräche schrieb, die Hauptgedanken des »Staats« schon im Sinne trug. Aber auch im Euthydem finden sich sehr bestimmte Hindeutungen auf einige Hauptgedanken des Staats; Hindeutungen, die nicht auf das schon veröffentlichte Werk, sondern nur auf das erst in der Entstehung begriffene, von dessen Ideen allenfalls im Freundeskreise schon Einiges bekannt war, bezogen werden können. Noch bestimmtere Hindeutungen fanden wir im Gastmahl. Mit diesem aber und dem Phaedo hängt der Staat gerade in seinen zentralsten und wissenschaftlichsten Darlegungen so unlöslich zusammen, daß man sich die bezüglichen Teile des Werks nur in nahem zeitlichen Zusammenhang mit jenen beiden Schriften entstanden denken kann. Namentlich die Grundlehre von den Ideen tritt in den drei Schriften in nah verwandter Fassung auf, so aber, daß das Gastmahl über den Phaedo und der Staat (in Buch VI und VII) über beide in folgerechter Weiterentwicklung hinausgeht.
Nach diesem allen hat man sich das Werk in der ganzen Periode vom Gorgias bis zum Gastmahl und noch über dieses hinaus allmählich entstanden zu denken. Auch die Herausgabe mag (nach einigen Andeutungen des Werkes selbst) stückweis erfolgt[181] sein; das ganze Werk, allenfalls noch ohne den apologetischen Nachtrag des zehnten Buches über die Dichtkunst, scheint um 375 bereits veröffentlicht gewesen zu sein.17
Von der Ideenlehre nun enthält das erste Buch noch nichts; was nicht etwa beweist, daß sie, als es geschrieben wurde, dem Verfasser noch fremd war, sondern der bloß propädeutischen Absicht dieses »Vorspiels« ganz entspricht. Nachdem darauf das zweite Buch die sittliche Frage, um die es sich schließlich handelt, erst in ihrer ganzen Wucht zum Bewußtsein gebracht hat, beginnt die Hauptuntersuchung mit der genetischen Vorführung des Staats, an welchem die Tugenden, unter ihnen als höchste die jetzt gesuchte, die Gerechtigkeit, zunächst in ihrer größeren, sozialen Gestalt aufgezeigt wird, um dann erst von der Gesellschaft auf das Individuum übertragen zu werden. Um sowohl die Ableitung des Systems der Tugenden als auch diese Übertragung zu ermöglichen, wird die psychologische Annahme der drei »Seelenteile« eingeführt, die PLATO im Phaedrus in engem Zusammenhang mit der für diesen Dialog charakteristischen transzendenten Gestalt der Ideenlehre aufgestellt, aber nicht begründet hatte. Und um die psychologische Theorie selbst erst gehörig zu sichern, sieht sich PLATO genötigt, vorgreifend schon hier in dialektische Erörterungen einzutreten. Es ist ein auffallender Irrtum, daß auch an diesem zweiten Hauptteil des Werks die Ideenlehre keinen Anteil habe, da vielmehr die Methode dieser psychologischen Deduktion ganz auf ihr beruht, und zwar auf ihr ungefähr in der Gestalt, die sie endgültig im Phaedo angenommen hat.
Hier also hat unsere Untersuchung einzusetzen.
16 | So auffallend die Tatsache ist, so scheint sie in der PLATO-Literatur nicht vor F. DÜMMLER (Zur Komposition des Platonischen Staats, Basel 1895) und I. BRUNS (Das literarische Porträt der Griechen, Berlin 1896) die ihr gebührende Beachtung gefunden zu haben. (Ganz unannehmbar aber ist DÜMMLERS Deutungsversuch.) |
17 | Nach DÜMMLERS Beobachtung (Chronol. Beiträge zu einigen Platonischen Dialogen aus den Reden des ISOKRATES, Basel 1890) bezieht sich die Rede des ISOKRATES »An NIKOKLES« (in §§ 5 und 8) auf den Staat als veröffentlichtes Werk. HIRMERS Deutung der Bemerkungen PLATOS im Staat, 498 DE auf ISOKRAKES Euagoras (Jahrbücher f. klass. Philologie, Suppl.-Bd. XXIII) ist bestechend, doch paßt die Anspielung auch und, wie mir scheint, besser auf die Zeichnung des Theseus in ISOKRATES Helena. PLATO stellt dieser bloßen willkürlichen Fiktion des Schönredners sein theoretisch begründetes Ideal des Herrschers (dessen Realisierbarkeit er eben hier mit Nachdruck behauptet) gegenüber, als nicht bloß pros doxan kai erin, sondern tou gnônai charin entworfen. Darauf mag dann ISOKRATES als Trumpf seinen Euagoras gesetzt haben, der einen wirklichen Mann und sogar Zeitgenossen als Realisierung des Ideals eines Herrschers vorführt und dabei – bezeichnend für die Arbeitsweise dieses Rhetors – dieselbe Schablone nochmals verwendet, die in der Helena für Theseus gedient hatte. |
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