B. Die Dialektik.

[215] So haben wir den Kursus der Wissenschaften durchlaufen; deren Wert für die Bildung des Intellekts ganz erst dann hervortritt, wenn man auf den Zusammenhang und die Verwandtschaft aller ihrer Objekte unter einander, besonders auf ihre gemeinschaftliche mathematische Grundlage achtet (531 D). Denn die systematische Zusammenfassung der Wissenschaften in einem einzigen Überblick, ihre »Zusammenschau«, die Erkenntnis der Verwandtschaft der Wissenschaften unter sich und mit der Natur dessen was ist (537 C), ist die beste Vorschule und Probe der Begabung für die Dialektik. Wer diese Fähigkeit des Zusammenschauens beweist, ist zur Dialektik veranlagt, wer nicht, nicht.

Aber es ist freilich erst die Vorschule (propaideia, 536 D), erst das Vorspiel, dem das Lied folgen soll: die Dialektik selbst (532). Was ist denn die Eigenart der dialektischen Fähigkeit, in welche Arten zerfällt sie und welches sind ihre Wege? Das soll jetzt nicht mehr bildlich, sondern schlicht sachlich beantwortet werden.

Ohne den gewiesenen Weg der Wissenschaften ist zur Dialektik nicht zu gelangen; aber es gibt keine andre Methode als sie, um systematisch und allgemein zur Definition eines jeden Begriffs zu kommen. Das leisten weder die rein empirisch-praktischen Disziplinen noch die zuvor durchgegangenen, die[215] doch stets von Voraussetzungen ausgehen, welche sie selbst »unbewegt lassen« (nicht in Frage ziehen), daher auch von ihnen nicht Rechenschaft geben können. Denn, wo weder der Anfang ein solches ist, das man weiß, noch die Mitte noch das Ende, wie sollte eine solche bloße »Übereinkunft« je Wissenschaft werden können? Fast als spotte er über ein nominalistisches Verfahren, wie es sich heutzutage weiter Beliebtheit unter Mathematikern und selbst Physikern erfreut, wo alles zuletzt auf der Willkür vereinbarter erster Voraussetzungen beruht, das Bedürfnis aber einer letzten, genetischen Begründung überhaupt nicht mehr empfunden wird. Statt dessen geht die dialektische Methode, alle Voraussetzungen aufhebend, auf den Anfang selbst, um in ihm festen Stand zu gewinnen – oder sie, die Hypothesen, festzumachen? Aber das würde zum »Aufheben« schlecht passen. Viel annehmbarer bezieht SCHLEIERMACHER die Festigung vielmehr auf den Anfang selbst: »damit dieser fest werde« (um ihn sich zu sichern?); aber der Aufstieg zum unmittelbaren Anfang bedeutet vielmehr die letzte Sicherung der Erkenntnis, den letzten sicheren Halt überhaupt. Dem entspricht unsre Wiedergabe, die übrigens auch dem Wortlaut (hina bebaiôsêtai) so nahe wie möglich bleiben möchte. Es wird, wie im Phaedo (100 D, 101 D), die »Gewißheit der Grundlage«, jetzt aber der letzten Grundlage, des »voraussetzungsfreien Anfangs«, betont; vielleicht in absichtlichem Doppelsinn: die Gewißheit, welche sie in sich hat und welche sie der Erkenntnis verleiht.

Es wird sodann die früher aufgestellte Terminologie wieder eingeführt, nach welcher die Disziplinen, die vorher »nach dem Herkommen« Wissenschaften genannt wurden, nur den Namen dianoia (Verstandesgebrauch, Denkübung) führen sollen. Über die Dialektik, als die krönende Zinne des ganzen Aufbaues (534 E), werden übrigens hier keine neuen Festsetzungen getroffen, sondern nur das früher Gesagte in Erinnerung gebracht. Für die Interpretation hat dies das Interesse, zu bestätigen, daß wirklich in dem einzigen Unterschied von Prinzip und Hypothese der ganze, nicht mehr bildliche Sinn der »Idee des Guten« erschöpft ist. Die Idee als Methode, als die Methode der radikalen Begründung der Wissenschaften im Grundgesetze des Denkens selbst (autos ho logos), in diesem gesteigerten Sinn: ihrer logischen Begründung, das und nichts andres ist das letzte Wort der platonischen »Dialektik«.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 215-216.
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