5. Die Ideenlehre in Buch X.

[216] Dem die Bücher VIII und IX umfassenden vierten Hauptteil des Staats fehlt es an der Veranlassung, auf die Ideenlehre nochmals zurückzukommen. Der Gegensatz zwischen Vernunft und Sinnlichkeit und den diesen entsprechenden Objekten wird namentlich in der letzten Betrachtung, über die wahre und scheinbare Befriedigung, wieder in ganzer Schroffheit betont. Das Sinnliche ist das nie sich selbst Gleiche, Sterbliche (585 C); es wird geradezu genannt »das Wesen des sich (immer) Ungleichen«, welches an Sein, Erkenntnis und Wahrheit keinen Teil habe (ebenda CD). Es deckt sich mit dem Körperlichen, während die Seele seinem Gegenteil, dem sich immer Gleichen, Unsterblichen, der Wahrheit und dem reinen Sein jedenfalls näher ist (ebenda). Das ist ganz wieder die Sprache des Phaedo in seinen früheren Teilen. Sonst möchte etwa zu bemerken sein die enge Verknüpfung der Begriffe logos, nomos, taxis (Vernunft, Gesetz, Ordnung, 587 A), die deutlich auf die Gesetzesbedeutung des Logischen, aber mehr in der Art des Gorgias, hindeutet. Im ganzen kann man sich des Eindrucks kaum erwehren, daß diese Bücher den Geist einer früheren Epoche atmen.

Im letzten Buche aber führt der apologetische Nachtrag über die Dichtkunst, als Nachbildung nicht des Wahren, sondern des Scheins, noch einmal eine eingehende dialektische Erörterung herbei. Diese geht wieder von dem »gewohnten Verfahren« aus, die Einheit des Begriffs der Vielheit des darunter Begriffenen entgegenzustellen (596 A). Diese Einheit, die Idee z.B. des Tisches oder Bettes hat der Schreiner als Modell vor Augen, indem er die vielen Tische oder Betten macht. Er macht also keineswegs den Begriff, das »was« das Bett »ist«: also überhaupt nichts das ist, sondern nur etwas der Art wie das, was ist. Sollte man sagen, wer das in der Natur (an sich) bestehende Bett gemacht habe, so könnte man nur etwa sagen, Gott habe es gemacht. Und zwar, mag er es nun nicht anders gewollt haben, oder auch eine Notwendigkeit dabei obwalten, er hat es einmal nur in der Einzahl gemacht. Zwei oder mehr sind ihrer nicht geschaffen und mögen auch wohl nie geschaffen werden; denn wenn ihrer zwei wären, so wäre notwendig wiederum ein Begriff, dem beide sich unterordneten, und das wäre dann offenbar das »was« das Bett »ist«, nicht aber jene zwei (597 BC). »Da Gott dies wußte (denk ich mir), und er doch vorzog, wahrer Schöpfer des wahrhaften Betts zu[217] sein, statt bloß ein Bettstellfabrikant einer einzelnen Bettstelle, so schuf er sie als eine Natur.« Ihm zunächst kommt dann als bloßer Nachbildner der wirkliche Bettstellfabrikant; und erst nach diesem, als Nachahmer des Nachahmers, der Künstler oder Dichter. Und dieser bildet nicht einmal das empirische Objekt nach, so wie es (als empirisches Objekt) ist – welches Sein, obwohl ein in sich identisches (598 A), doch, gegen das des Begriffs gehalten, ein bloßes Erscheinen ist – sondern auch dieses wieder nur wie es erscheint. Das wird weiterhin (602 C) folgendermaßen ausgeführt. Dasselbe sinnliche Objekt erscheint aus verschiedener Entfernung gesehen nicht in gleicher Größe, Gestalt usw.; zur Abhilfe solcher Verwirrung ist aber das Messen, Zählen und Wägen erschienen, damit in uns nicht der Widerspruch der Erscheinung, sondern die Aussage des rechnenden, messenden wägenden Verstandes regiere. Die Kunst dagegen hält sich allein an den Sinnenschein, wendet sich also an die niedere Funktion der Seele; welche Betrachtung sich dann namentlich aufs praktische Gebiet überträgt, und da zu besonders schlimmen Folgen für die Dichtkunst führt.

Mehreres ist hier auffällig; zuerst, daß die Idee einen Schöpfer, und zu ihrem Schöpfer Gott haben soll. Welchen brauchbaren Sinn gibt es, sie, die immerseiende, geschaffen zu denken? Läge hier eine ernsthaft theologische Meinung zu Grunde, so wäre dieser neuartige Gott doch gar zu schwächlich mit einem »denk ich mir« so ganz nebenbei eingeführt, in der erhabenen Eigenschaft des Verfertigers der Idee der Bettstelle, damit doch die Verfertiger irdischer Bettstellen ein Modell haben, worauf sie hinschauen können. Wenn je die Antwort eines Weisen auf eine Frage über Gott nur Spott über den Frager zu sein schien, dann hier. Der Helios des intelligiblen Reichs, der den reinen Denkobjekten als Vater und Urheber Sein wie Erkennbarkeit verleiht, hieß die »Idee des Guten«. Wir vermochten aber darunter, indem wir den eigenen Erklärungen PLATOS genau nachgingen, nichts andres zu entdecken als die Idee des Gesetzes, die Idee der Idee selbst. Das Verleihen des Seins an die Ideen konnte nur den Sinn der logischen Begründung, der letzten radikalen Deduktion haben. Nun erhalten wir eben hier einen ganz schlicht logischen Grund für das, wogegen die Bestreiter der Ideenlehre sich vorzugsweise wandten, für die numerische Einheit der Idee gegenüber der Vielheit ihrer Erscheinungen in der Sinnenwelt: die Idee besagt überhaupt die[218] Einheit des Begriffs, also ist es ein grundtörichter Einwand, der gegen die Idee, wie bekannt, schon von Andern vor ARISTOTELES erhoben worden ist: die behauptete Übereinstimmung zwischen Erscheinungen und Idee verlange zu ihrer Begründung wieder eine Überidee, und so ins Unendliche weiter; das Argument vom »dritten Menschen«, das uns bald, im PARMENIDES, wieder begegnen wird. Diesem Argument gilt der wohlverdiente Spott, aus dem man einen so lächerlichen Ernst gemacht hat. Jenen höchst triftigen logischen Grund der notwendigen Einheit der Idee, sagt PLATO, kannte wohl Gott, als er, wohlweislich, die Idee nur als (je) eine schuf. Sonst hätte er nämlich einen – logischen Nonsens geschaffen; was zwar seiner Allmacht alle Ehre gemacht hatte, aber seiner Weisheit nicht ebenso würdig gewesen wäre. Sollte nicht die Hypothese der Geschaffenheit der Idee nur ironisches Eingehen auf die Denkweise des Gegners sein, der die Ideen nur als Dinge sich zu denken vermochte (denn auf diesem Mißverstand beruht der ganze Einwand), und so wohl auch, bei der Erwägung, ob sie in der Einzahl oder vielfach, wohl gar unendlich vielfach existierend gedacht werden müßten, arglos von ihrem möglichen Urheber (der dann natürlich kein Irdischer sein konnte) gesprochen hatte? Dann wäre alles sehr klar.

Das ist in der Tat der geheime Grund der rührenden Anhänglichkeit moderner Erklärer an Gott den Vater der Bettstellidee: mit dem Ideenschöpfer fällt unrettbar der schönste Beweis, daß die Idee nur ein andres Ding neben den Sinnendingen hat sein sollen. Denn was fähig war einmal geschaffen zu werden, und gar einen Gott dazu brauchte, mußte wohl ein kompaktes Ding und nicht eine luftige Definition sein. Wer mag sich im Ernst Gott als Schöpfer einer Welt von Definitionen denken? Schade nur, daß gerade hier der technische Ausdruck der Definition, das »was es ist«, immerfort gebraucht wird (597 A und C, zweimal). Also bleibt nur die Wahl zwischen Gott dem Vater der Definitionen, und der Annahme eines – schriftstellerischen Spiels, wie es bei PLATO doch wahrlich nichts Außergewöhnliches ist.

Aber auch ein ernsthafteres und fruchtbareres Problem gibt die Stelle uns auf; nämlich in dem, was über die Funktion des Zählens, Messens und Wägens gesagt ist.

Zwar der Eingang der Betrachtung wiederholt nur oft Vernommenes. Die Widersprüche des Sinnlichen fordern eine Entscheidung,[219] und diese leistet der Verstand; es hieß früher: indem er den Begriff der Zahl, der Gleichheit, warum nicht auch die Begriffe gleichen, ungleichen und zahlenmäßig so und so zu bestimmenden Maßes und Gewichtes aufstellt; denn unter den Widersprüchen der Wahrnehmungsaussagen begegneten schon früher (523 E u. ff.) neben denen über Mehr und Weniger auch die über Größer und Kleiner, Schwerer und Leichter. Hier aber werden nicht mehr bloß die reinen Begriffe von Zahl-, Maß- und Gewichtsbestimmtheiten, sondern das Messen, Zählen, Wägen selbst, also die Anwendung dieser Begriffe zur Bestimmung des Sinnlichen, als die die Widersprüche der Wahrnehmungsaussagen überwindende Verstandesleistung bezeichnet.

Wir erhalten hier die schlichte Bestätigung dessen, was wir oben vermuten mußten, wofür es aber an einem ganz direkten äußeren Anhalt bisher fehlte: daß die Funktion des Begriffs, das Sinnliche zu bestimmen, schon immer, wenn auch nicht ausdrücklich hervorgehoben, doch stillschweigend mitgedacht war. Sonst hätte sie nicht hier auf einmal so ganz nebenher eingeführt werden können, da doch nichts in dieser Darlegung darauf hindeutet, daß es sich um eine neue Entdeckung handle, sondern PLATO durchaus nur von dem zu reden scheint, was er als die Leistung des Verstandes auch sonst angesehen hatte. Auch daß das Sinnending einer gewissen Identität doch fähig ist, daß sich die verschiedenen, etwa von verschiedenen Seiten oder aus verschiedenen Entfernungen erhaltenen Bilder doch auf ein und dasselbe, so und so große, so und so gestaltete Objekt beziehen lassen, wird (598 A) bestimmt vorausgesetzt, und auf Grund dessen klar unterschieden zwischen dem, was das Sinnending, das doch nichts an sich, sondern nur in der Erscheinung »ist«, als Erscheinung dennoch eindeutig Bestimmtes ist, und als was es, wechselnd nach dem zufälligen Standort des Wahrnehmenden, sich bald so, bald so darbietet; also eine Wahrheit in der Erscheinung, eine empirische Wirklichkeit nach KANTS Begriff, die eine Anwendbarkeit der Begriffsfunktion (z.B. Identifizierung) auf das Sinnliche voraussetzt, nämlich (wie bald nach jener Stelle gesagt ist) durch Zählen, Messen, Wägen.

Es möchten aber diese verschiedenen Spuren vielleicht auf ein etwas späteres Stadium der platonischen Dialektik weisen als die vorigen Teile des Staats. Die genauesten Analogien bietet nämlich eine jedenfalls spätere Schrift, der Philebus, wo[220] das Zählen, Messen, Wägen wesentlich die gleiche Rolle spielt (55 E u. ff.), dann aber die reine Wissenschaft von Zahl, Maß und Gewicht von ihrer Anwendung aufs Sinnliche scharf geschieden wird. Im Staat ist in Buch VII nur von der ersteren, in Buch X von der letzteren die Rede, ohne daß beides ausdrücklich in Beziehung gesetzt würde; der Philebus behauptet beides und unterscheidet demgemäß eine zweifache Zahl-, Maß- und Gewichtskunde, die reine und die angewandte (57 D).

Damit geschieht den Forderungen der Empirie Genüge, soweit es aus den Voraussetzungen der Ideenlehre und beim gegebenen Stande damaliger Kenntnis möglich war. Und somit ist auch dieser Nachtrag zu den dialektischen Ausführungen der vorigen Teile nicht ohne Ertrag für das Verständnis der methodisch-wissenschaftlichen Bedeutung der Idee.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 216-221.
Lizenz:

Buchempfehlung

Jean Paul

Selberlebensbeschreibung

Selberlebensbeschreibung

Schon der Titel, der auch damals kein geläufiges Synonym für »Autobiografie« war, zeigt den skurril humorvollen Stil des Autors Jean Paul, der in den letzten Jahren vor seiner Erblindung seine Jugenderinnerungen aufgeschrieben und in drei »Vorlesungen« angeordnet hat. »Ich bin ein Ich« stellt er dabei selbstbewußt fest.

56 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon