Einleitung.

[221] Als Reinergebnis der bis hierher geführten Untersuchung läßt sich aussprechen: Ideen bedeuten nicht Dinge, sondern Methoden. Als reine Setzungen des Denkens möchte auch die herrschende Meinung sie gelten lassen; die sich dann freilich mit Recht wundert, daß durch reines Denken absolute Existenzen gesetzt sein sollen. Ein reines Denken kann nicht absolute Existenzen aufstellen, sondern nur Erkenntnisfunktionen zur Begründung von Wissenschaft ins Spiel setzen; Wissenschaft, die nicht besteht in Festlegung absoluter Existenzen, sondern im unbeschränkten Fortgang eines Verfahrens, dessen von Stufe zu Stufe gewonnene Ergebnisse allenfalls hypothetische, nicht absolute Gegenstände heißen mögen; Lösungen von Problemen, die stets neue Probleme zu Tage fördern, neue Lösungen verlangen. Eben damit sind die Ideen, was sie nach der herrschenden Auffassung allerdings nicht sein könnten: Grundlagen zur Erforschung der Phänomene. Diese »haben Teil« an ihnen, d.h. sie sind, wenn nicht darzustellen, doch zu denken als stufenmäßige Entwicklungen der Verfahrungsweisen, welche die Ideen[221] bedeuten. Die Idee besagt das Ziel, den unendlich fernen Punkt, der die Richtung des Weges der Erfahrung bestimmt; denn sie besagt das Gesetz ihres Verfahrens.

Als Dialektik aber wurde bezeichnet der reine Ausbau der Verfahrungsweisen selbst. Und es wurde das stärkste Gewicht darauf gelegt, daß nur in den reinen Methodenentwicklungen, in reiner Logik und auf sinnliche Hilfen ganz verzichtender Mathematik volle Strenge der Begründung, also Wissenschaft im Vollsinn des Worts erreichbar, aller Gebrauch dieser Verfahrungsweisen dagegen an den Phänomenen der Sinne, mithin alle auf diese bezügliche Aussage auch der strengsten, auf Zahl, Maß und Gewicht gestützten Wissenschaft des Sinnlichen so lange bloß hypothetisch bleibt, als sie nicht rein aus dem Gesetz des Verfahrens, ohne erborgte Hilfsannahmen, hergeleitet werden kann. Diese Herleitung ist in unbeschränkter Allgemeinheit gefordert, aber sie ist tatsächlich nirgends in der Erfahrung erfüllt oder absehbarer Weise zu erfüllen.

Aus solcher Verzweiflung an der Erfahrung als Wissenschaft entstand aber die nicht geringe Gefahr, daß die reinen Denksetzungen, die Ideen, von der Aufgabe der Begründung der Erfahrung als Wissenschaft überhaupt losgelöst wurden. Gab es echte, ganze Wissenschaft von den Phänomenen nicht, so konnte es sogar wissenschaftlicher scheinen, die Phänomene ganz beiseite zu werfen und sich an den reinen Begriffsentwicklungen genügen zu lassen. PLATO selbst schien zuweilen sich dieser Stimmung nur allzu vorbehaltlos zu überlassen. So bedeutende Schritte zur wirklichen Einführung der Methode der Ideen in das Gebiet der Erfahrung schon die Wissenschaftslehre des Phaedo und des Staats enthielt, zuletzt schien doch wieder die Stimmung den Sieg zu behalten: eigentliche Wissenschaft gibt es nur von den Ideen selbst – also lassen wir die Phänomene! (Staat, 529 B: Es gibt keine Wissenschaft vom Sinnlichen; 530 C: Was am Himmel ist, lassen wir!)

Wem nun aus natürlichem absolutistischen Drange die schiere Begriffsarbeit keine Befriedigung gab, wer auf erkannte Dinge nicht verzichten mochte, dem mußten sich, kaum vermeidlich, die Ideen selbst an die Stelle der Dinge schieben. Die Methodenbedeutung der Idee ging verloren. Damit aber geriet die Ideenlehre, gerade in ihrer schroffen Entgegensetzung gegen Erfahrung als angebliche Wissenschaft, in eine neue, höchst seltsame Abart des Empirismus. Man gewinnt doch auch[222] die reinsten Begriffe, wie PLATO selbst nicht leugnet, zwar nicht aus, aber an der Erfahrung. Wem nun die Erfahrung aufhörte Problem zu sein, wem also auch die Idee selbst sich nicht ferner an dem Probleme der Erfahrung als Wissenschaft entwickeln konnte, dem mußte die Ideenwelt erstarren zu etwas wie einer andern Welt gegebener Dinge, einem bloßen Gegenbild der zwar den Worten nach geleugneten, aber tatsächlich doch mit hartnäckigem Anspruch sich behauptenden Dingwelt der gemeinen, unwissenschaftlichen Erfahrung; im Grunde nicht etwas mehr, sondern etwas weniger als sie, ihr bloßer Schatten; angeblich ein Objekt des reinen Denkens, in Wahrheit sinnlich wie sie nur von verblaßter Sinnlichkeit; nicht über- sondern untersinnlich.

Das ist die seltsame Gestalt, in der die Ideenlehre in nahezu herrschender Auffassung nicht lebt, denn sie ist nicht lebensfähig, sondern nur immer von neuem totgesagt wird. Ungefähr so hat schon ARISTOTELES sie angesehen, und selbst er hat diese Ansicht offenbar nicht zuerst aufgebracht, sondern als sozusagen die öffentliche Meinung über diese Lehre vorgefunden und ziemlich skrupellos übernommen. Was er von PLATO angenommen und, oft widerspruchsvoll, für sein eigenes System verwendet hat, hielt er vielleicht für mehr zufällig von dem immerhin tiefer als viele blickenden Manne gefunden, oder für Nachwirkung der guten Schule sokratischer Methodik, die an ihm doch nicht ganz verloren gegangen sein konnte, die aber er, ARISTOTELES selbst, erst in ihrer Reinheit wiederherzustellen und wirklich fruchtbar zu machen glaubt; wenn er nicht etwa vermeint, es aus bloßen, tastenden Ahnungen PLATOS erstmals entwickelt, mithin nach seiner wahren, wissenschaftlichen Bedeutung vielmehr entdeckt zu haben. Denn, wäre das Unermeßliche, wofür er PLATO verpflichtet ist, ihm als dessen volles geistiges Eigentum bewußt gewesen, so hätte er unmöglich von PLATOS wichtigster Lehre ein so verzerrtes Bild geben können, wie er es tut.

Wie hat denn eine solche Meinung von PLATOS Ideen, angesichts so vieler, offenbar damit unvereinbarer Aussprüche seiner gelesensten Schriften (das sind doch, unter den bisher betrachteten, der Phaedo und der Staat) überhaupt aufkommen und sich behaupten, ja sogar herrschend werden können? Der innere Grund ist schon genannt; eine genaue, planmäßige Nachprüfung aber an PLATOS Schriften hat eben keiner vorgenommen,[223] auch nicht ARISTOTELES. Jedenfalls, diese Irrmeinung ist aufgekommen; sogar in der eignen Schule PLATOS muß ARISTOTELES sie vorgefunden haben, wenngleich sie erst recht den Gegnern willkommen sein mußte, denn dagegen ließ sich »trefflich streiten« und mußte der Wissenschaftsdünkel des hochfliegenden Träumers sich Demütigungen gefallen lassen, wie besonders die Kyniker mit der ihnen eignen Art von Menschenfreundlichkeit sie ihm nicht erspart haben; leider nicht mit dem gewünschten Heilerfolg.

Aber hat denn PLATO dem bösen Spiel nur tatlos zugesehen? Hat er aus Übervornehmheit gar nichts versucht, der gleichsam unter seinen Augen entstehenden Mißdeutung, die seine Grundlehre um jeden wissenschaftlichen Sinn und Kredit bringen mußte, entgegenzuwirken? Doch; wir besitzen mindestens zwei bedeutende Schriften, in welchen ihre Zurückweisung erfolgt, und zwar scheint die erste dieser Schriften, der Parmenides, sogar hauptsächlich dieser Absicht gewidmet. Nur erfolgt die Zurückweisung allerdings in einer zu vornehmen Form. Gegen so groteske Mißverständnisse wäre ein etwas derberer Ton, wie er früher, aus jugendlicherer Stimmung, ihm zu Gebote stand, vielleicht wirksamer gewesen. Er begnügt sich nämlich, seinen verwegenen Kritikern – ein Rätsel aufzugeben. Wer ihn verstanden hatte, mußte das Rätsel auflösen können; wer es nicht zu lösen wußte, blieb seinem hilflosen Nichtverstehen überlassen, übrigens mit der hinlänglich unverblümten Abfertigung (135 C): Ihr habt euch »etwas zu früh«, das heißt, ohne die erforderliche dialektische Schulung, an das Problem der Ideen herangewagt.

Und so ist es bei dem Nichtverstehen geblieben. Daß ein ARISTOTELES im Verfolg seiner eignen, gewaltigen Lebensarbeit sich nicht die Zeit genommen hat, aus den verschlungenen Irrgängen dieses Labyrinths den Ausweg zu suchen, daß er vorzog sich lieber gar nicht erst hineinzubegeben, nämlich das so ihm wie aller Welt mit sieben Siegeln verschlossene Buch in der Hauptsache zu ignorieren, ist nach seiner ganzen Stellung zu PLATO leider begreiflich. Läßt er doch auch sonst sehr vieles in PLATO, was ihn wohl hätte interessieren dürfen, in einer uns befremdenden Weise außer Acht. Er war eben kein Philologe des neunzehnten Jahrhunderts. Auch hätte seine Mühe am Parmenides vergeblich bleiben müssen, denn der Faden des Labyrinths, die Methodenbedeutung der reinen Begriffe, ist genau das, wofür ihm das Organ abgeht. Den Neuplatonikern[224] aber, die es an den ungefügen Kommentaren nicht haben fehlen lassen, war die anscheinende Dunkelheit dieser Schrift gerade recht, um ihre verwegensten Auslegungskünste daran spielen zu lassen. Sie blieben maßgebend für die Renaissance und, trotz der bedeutsamen Hinweise LEIBNIZENS auf den wissenschaftlichen Sinn der Idee, im ganzen bis ins letzte Jahrhundert. Dieses erst hat die schwere Interpretationsarbeit, die dies Werk seinen Lesern zumutet, mit Ernst auf sich genommen. Zwar SCHLEIERMACHER hat leider gerade diesem Werk, das er unbegreiflicherweise für eine Jugendarbeit hielt, volles Verständnis nicht abgewinnen können; aber ZELLER in den Platonischen Studien (1839), gleichzeitig STALLBAUMS sehr genau in alle Einzelfragen eingehende Einleitung, weiterhin KUNO FISCHERS Dissertation (1851), haben von verschiedenen Seiten her den Schleier zu lüften begonnen. Allein sie haben das ganze Bild nicht zu entschleiern, den ganzen Bau in seiner erstaunlichen Verwicklung und doch innerlichsten Planmäßigkeit nicht nachzuzeichnen vermocht. Sie haben namentlich der Versuchung noch nicht genug widerstanden, fremde Gedankenwendungen in Plato hineinzutragen, wozu der änigmatische Charakter dieses Werks nur zu leicht verführt. Und so sind sie auch mit ihren richtigen Fingerzeigen von Andern vielfach nicht verstanden worden, und gehen noch immer die Deutungen, daher auch die Beurteilungen des Werks unglaublich weit auseinander. So sehr ich in der Erklärung des Einzelnen den genannten und auch wohl einigen nicht genannten Vorgängern zu Dank verpflichtet bin, die Totalansicht des einzigartigen Werks habe ich mir selbst erringen müssen.

Fassen wir nun zunächst die äußere Einkleidung18 ins Auge, so könnte ein Umstand gegen die schon angedeutete Auffassung der Grundabsicht des Dialogs einen Augenblick bedenklich stimmen. Die Fehlmeinung, die aus den Ideen Dinge macht, vertritt in der Schrift der junge SOKRATES. Ihm antworten die etwas künstlich vom Schriftsteller mit diesem zusammengeführten Schulhäupter aus Elea, ZENO zuerst, der Palamedes des Phaedrus, dann, gründlicher noch, der eigentliche Schöpfer der eleatischen Lehre, der greise PARMENIDES, welche beide also hier an PLATOS Stelle stehen. Diese Einkleidung hat etwas Widerstrebendes und findet sonst in PLATOS Schriften keine genaue Analogie. Im Sophisten übernimmt zwar die führende Rolle im Gespräch[225] der ungenannte Philosoph aus Elea, im Timaeus der Lokrer dieses Namens, aus dem Kreise der Pythagoreer. Aber SOKRATES tritt dann als stummer Zuhörer zur Seite, nicht wird, wie hier im ersten Teil, die Unterredung gegen ihn, auf seine Unkosten geführt.

Aber nach allem, was sich die Maske des SOKRATES in der ausgedehnten Literatur der »Sokratischen Gespräche« schon hatte gefallen lassen müssen, ist eine solche Einkleidung schließlich wohl verständlich. Sokratesse wollten sie alle sein, von den »spät klug gewordenen« Greisen bis zu den übermütigen Jungen, deren Treiben uns PLATO mehrmals ergötzlich abgeschildert hat. Man denke sich, daß ein solcher neuester SOKRATES, wohl gar aus PLATOS eigner Schule, die gründlich mißverstandene platonische Ideenlehre durch den Mund des alten SOKRATES – der ja bei PLATO selbst stets diese Lehre vertrat – vorgetragen und von ihr aus die altmodisch steife These der Eleaten zu meistern sich vermessen hatte: als Antwort darauf hätte diese Einführung der Person des SOKRATES, aber des jugendlich unreifen, in der Dialektik noch nicht genug geübten, und dessen Abfertigung durch ZENO und PARMENIDES in Person nach damaligem polemischem Brauch keineswegs für ungeschickt gelten dürfen. Sie bot vielmehr manche Vorteile. Sollte einmal, wie es der Anlaß forderte, SOKRATES als junger Mensch auf Irrwegen gezeigt werden, von denen er sich ja bald wieder zurechtgefunden haben würde, so durfte er von PARMENIDES, dem so »ehrwürdigen wie gewaltigen«, dessen »ganz adlige Tiefe« (Theaet. 183 E) ihm imponierend in der Erinnerung geblieben war, am ehesten eine väterliche Zurechtweisung entgegennehmen. Zugleich bot diese Einkleidung PLATO die schicklichste Gelegenheit, seine eigene Stellung zur eleatischen Philosophie, über die er immer noch Rechenschaft schuldete, endlich einmal genau festzulegen, einerseits das bedeutende Verdienst dieser Schule um die Entdeckung der Grundbegriffe und des Verfahrens mit solchen in helles Licht zu stellen, andrerseits die Grenze, über die sie nicht hinausgekommen war, wenigstens zwischen den Zeilen anzudeuten.

Jene Stelle des Theaetet führt übrigens auf die Vermutung, daß PLATO schon längst den Plan hegte, zu einer Auseinandersetzung mit der Lehre der Eleaten die chronologisch gerade noch mögliche Fiktion eines persönlichen Zusammentreffens des greisen PARMENIDES mit dem noch ganz jungen SOKRATES zu verwenden. Es ist begreiflich, daß man deswegen unsern Dialog[226] dem Theaetet zeitlich so nahe wie möglich stellen zu müssen glaubte, sei es nun, das man (mit ZELLER) den Parmenides in eine sehr frühe, oder, was die jüngeren Forscher durchweg vorgezogen haben, den Theaetet in eine sehr späte Periode setzte. Aber hierbei hat man, wie es scheint, ganz übersehen, daß die Ausführung im Dialog Parmenides ganz und gar nicht dem entspricht, was der Theaetet erwarten läßt. Das Urteil über die Eleaten ist im Parmenides nur ein Nebenzweck, die Hauptabsicht betrifft PLATO selbst und seine zentrale Lehre. Gerade was man nach dem Theaetet zuerst und hauptsächlich zu finden erwartet, die Kritik der Ansicht vom absoluten Stillstand des Seins, kommt im Parmenides kaum auch nur nebenher zur Sprache. Sie wird dagegen im Sophisten, zwar auch nur im Vorbeigehn, aber immerhin in viel engerer Beziehung zum Hauptgegenstand der Untersuchung, behandelt und erledigt. Es scheint demnach, daß eben durch die gedachte polemische Veranlassung der Schrift sich der ursprüngliche Plan so verschob und vor allem erweiterte, daß die Aufhellung und Fortbildung der Ideenlehre zur Hauptsache wurde, die Kritik der Eleaten nur indirekt darin zugleich liegen sollte. Dann aber nötigt die Stelle des Theaetet uns nicht mehr, diesem den Parmenides in sehr kurzem Abstand folgen zu lassen.

Das übrigens steht unabhängig von jeder Vermutung über die äußere Veranlassung der Schrift fest, daß sie, entsprechend ihrem überlieferten Titel, von den Ideen handelt und von nichts Anderm. Das konnte nur verkannt werden, weil man unzutreffende Vorstellungen sowohl von der Ideenlehre als von der eleatischen Lehre und PLATOS Stellung zu dieser mitbrachte. Ideen heißen die Grundbegriffe, die reinen Methodenbegriffe der Erkenntnis. Diese überhaupt entdeckt und eine gewisse Art des Verfahrens mit ihnen, allerdings nicht die endgültige, versucht zu haben, ist nach PLATOS Auffassung das Verdienst der Schule von Elea. Er sieht daher, ohne darüber auch nur ein Wort der Erklärung zu verschwenden, in den von ZENO in seiner Schrift behandelten Begriffen, die übrigens sämtlich auch schon in dem Gedichte des PARMENIDES aufgestellt und in bedeutsame Beziehungen zu einander gesetzt waren, schlechtweg Ideen; er führt sie ohne Umstände als Musterbeispiele dessen ein, was er Ideen nennt, und läßt die Eleaten selbst sie, ganz als wenn sich das von selbst verstünde, als solche behandeln. Du hältst doch wohl auch dafür, fragt SOKRATES, und diese Frage[227] wird von ZENO ohne Besinnen bejaht: es gebe (einerseits) eine gewisse Grundgestalt der qualitativen Gleichheit an sich (auto kath' hauto eidos ti homoiotêtos) und eine andre, ihr entgegengesetzte, der Ungleichheit – das war nämlich der erste Gegensatz, von dem die Argumentation des ZENO ihren Ausgang nahm –; dann aber, daß dieser beiden ich und du und das »Andre«, das wir das »Mannigfaltige« nennen, »teilhaft werden« (talla ha dê polla kaloumen metalambanein, 129 A; vgl. Phaedo 102 B einai ti hekaston tôn eidôs kai toutôn talla metalmbanonta k. t. l., polla Phaedo 78 D, Staat 476 A, u. ff., 479 A, 507 B u. ö.; auto kath' hauto Phaedo 66 A, 78 D, 100 B, Staat 479 E, 524 D); welche »Grundgestalt« (eidos) dann in der weiteren Erörterung auch als Idee bezeichnet wird (132 A C, 134 C, 135 A). Die bloße Auszeichnung der Fundamentalbegriffe also, die PLATO Ideen nennt, sieht er gar nicht als seine Entdeckung an, sondern als die der Eleaten, und dasselbe gilt von der negativen These: daß in der Welt der Erscheinungen allenthalben kontradiktorische Bestimmungen zusammentreffen und die Denkbarkeit des Erscheinenden fraglich machen; was in der Tat z.B. im 18. Fragment des MELISSUS ganz allgemein und selbst an PLATOS Ausdrucksweise schon anklingend ausgesprochen ist. Wäre also darin die Ideenlehre erschöpft: einerseits die Begriffe in ihrer Reinheit festzuhalten, andrerseits den Erscheinungen ihres Widerspruchs wegen das echte Sein abzustreiten, so wäre PLATO über das, was seiner eigenen Auffassung nach die Eleaten schon geleistet hatten, keinen Schritt hinaus gekommen.

Andrerseits aber deutet er schon durch die Art, wie er ZENO selbst über seine Schrift sich äußern läßt, zur Genüge an, daß er in den vorliegenden Werken der Eleaten, so hoch er deren Verdienst schätzt, die zulängliche Methode der Bearbeitung der Grundbegriffe nicht gefunden hat. ZENO habe erstens gar nicht im Ernst die These des PARMENIDES von der absoluten Einheit des Seins verteidigen, sondern nur denen, die sie mit unzulänglicher Dialektik anfochten, beweisen wollen, daß ihre, jener des PARMENIDES entgegengesetzte, pluralistische These ebenso und noch mehr anfechtbar sei. Hiermit gibt PLATO deutlich zu verstehen, daß der materiale Gehalt der eleatischen Lehre, die These von der Einheit des Alls, nicht das ist, was ihm an dieser Philosophie wichtig ist, sondern allein auf der Methode, der Heraushebung der Grundbegriffe und des Arbeitens mit diesen, sein Interesse an ihr beruht. Aber auch was diese[228] betrifft, ist ihm das tatsächlich von ZENO in seinen Antilogieen geübte Verfahren so wenig maßgeblich, daß er den ZENO selbst seine Schrift geradezu preisgeben läßt als einen Jugendstreich, mehr ein übermütiges Spiel als eine ernst zu nehmende wissenschaftliche Untersuchung; die Schrift sei überhaupt ohne seinen Willen an die Öffentlichkeit geraten. Aber immerhin der dialektischen Methode wegen, wie er in dieser Schrift sie, wenn auch nicht gehörig entwickelt, doch angedeutet fand, hält er diese Schule hoch genug, um in seinem Dialog den PARMENIDES und ZENO nicht bloß, wie wenn das ganz in Ordnung sei, die Sprache seiner Ideenlehre reden, sondern die tiefsten Schwierigkeiten, welche diese Lehre noch drückten, entwickeln und auflösen zu lassen.

Demnach können die Namen der Eleaten uns nicht darüber täuschen, daß wir uns im ganzen Dialog, von der ersten bis zur letzten Zeile, auf dem Boden der Akademie befinden. Es ist ganz eigentlich eine akademische Seminarstunde,19 die uns in der Einkleidung einer Unterredung zwischen den zufällig anwesenden Professoren aus Elea und den eifrigst der Philosophie beflissenen athenischen Jünglingen SOKRATES und ARISTOTELES vorgeführt wird. Daraus versteht es sich erst ganz, daß alle, wie sie nun heißen, PARMENIDES, ZENO, SOKRATES, ARISTOTELES, die feststehende Sprache der Ideenlehre, genau nach der Terminologie der drei zentralen Schriften, des Phaedo, des Gastmahls und des Staats, sprechen und verstehen. Auch wird nirgends etwa in Frage gestellt, ob diese Lehre überhaupt gelten soll, sondern nur, wie sie genau zu verstehen, und wie durch sie die Möglichkeit der Erfahrung, sei es gewährleistet, oder aber vernichtet sei. Damit wahrt PLATO den Eleaten gegenüber doch wiederum die vollen Rechte seiner geistigen Urheberschaft an dieser Lehre. Sie waren die Anfänger, und ihre Ahnungen waren tief genug, daß sie in strenger Verfolgung dieser Ahnungen die Schranken, über die ihre Schriften nicht hinauskamen, wohl hätten durchbrechen, ja selbst die schweren Probleme, zu deren Behandlung sich PLATO eben jetzt anschickt, überwinden können. Nur in ihren Schriften darf man das nicht suchen, sie überhaupt für nicht mehr als Anfänge halten, über deren Unzulänglichkeit[229] sie selbst kaum im Unklaren sein konnten. Eine Art der Ehrung, aus der doch ein gar nicht lumpiges Selbstbewußtsein spricht.

So versteht man nun die Einkleidung, und man wird sie, wenn man alle diese Erwägungen zusammennimmt, nicht ferner ungeschickt und eines PLATO unwürdig schelten dürfen. War die Absicht der Schrift die von uns angenommene, so ist diese Art der Einkleidung, von Nebensächlichem abgesehen und unter Berücksichtigung des damaligen literarischen Brauchs, dieser Absicht ganz wohl angemessen. Daß freilich die Absicht diese und keine andre war, ist bis jetzt bloß Hypothese; bewiesen werden kann es nur durch die Ausführung selbst, der wir nun näher treten.

18

Vgl. Philosophische Monatshefte, Bd. XXX, S. 63 ff.

19

So deuten sich die Worte: »da wir ja unter uns sind« (137 A) und »Es ist unziemlich dergleichen vor den Ohren Vieler (vor dem Publikum) zu verhandeln« (136 D). Man beachte den durch die ganze Schrift festgehaltenen Schulton.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 221-230.
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