[278] Der Parmenides war zu reich an neuen Gedankenkeimen, um sie alle auch schon zur vollen Entfaltung zu bringen. Sie blieben zum Teil derart eingehüllt, daß unsere Analyse sie schwerlich ganz überzeugend herauszuarbeiten vermocht hätte, lägen nicht zwei weitere Schriften vor, in denen wenigstens ein guter Teil dieser Keime sich offener entfaltet: der Sophist und der Philebus.
Daß der Sophist zum Parmenides in nahen Beziehungen steht, konnte nicht wohl übersehen werden. Meinungsverschiedenheiten[278] bestanden dagegen und mögen hier und da noch obwalten über das Zeitverhältnis der beiden Schriften. Doch möchte in dieser Hinsicht die nochmalige Erwähnung des Zusammentreffens des jungen SOKRATES mit dem greisen PARMENIDES (217 C) fast für sich allein schon entscheidend sein. Denn, wenn doch diese Begegnung nach aller Wahrscheinlichkeit nicht wirklich stattgefunden hat, sondern zum Zweck der Gesprächseinkleidung von PLATO erdichtet ist, der Hinweis auf sie in einer andern platonischen Schrift als dem Parmenides selbst daher nur als Hinweis auf diesen verstanden werden kann, so scheint die Annahme gleichermaßen zwingend, daß die Erwähnung im Theaetet auf den noch zu verfassenden, wie, daß die im Sophisten auf den bereits veröffentlichten Dialog zu deuten sei. Denn die Theaetetstelle kann sich, wie wir oben (S. 226 f.) gesehen haben, gar nicht auf das uns vorliegende Gespräch, sondern nur auf ein erst geplantes beziehen, welches so, wie es damals geplant war, nicht zur Ausführung gekommen ist. Dagegen weist die genannte Stelle des Sophisten deutlich auf die dem Leser bereits vorliegende Schrift, da das in dieser tatsächlich befolgte Verfahren, die Lehrweise durch Fragen, wobei der Antwortende nur »unverdrießlich und lenksam« folgt, wohin die Frage leitet, in Erinnerung gebracht und für die jetzige Unterredung zum Muster genommen wird. Es wäre allzukünstlich, hier zum zweiten Male an ein erst zu schreibendes Werk zu denken.
Auch würde die Rolle, die dem PARMENIDES im gleichnamigen Dialog zugeteilt wird, noch ungleich auffälliger sein als ohnedies, wenn man sich denken sollte, daß der Sophist mit seiner offenen, einschneidenden Kritik an dem Haupte der Eleaten selbst, die hier einem jüngeren, fortgeschrittenen Philosophen derselben Schule in den Mund gelegt wird, vorausgegangen und zwar, wie man wegen der weitgehenden inhaltlichen Übereinstimmung beider Schriften doch annehmen müßte, unmittelbar vorausgegangen wäre. PLATO konnte nicht wohl, nachdem er soeben den Fehler der Philosophie des PARMENIDES aufgedeckt und sich von ihr förmlich losgesagt hatte, diesem selben PARMENIDES die Kritik und Vertiefung seiner eigenen Grundlehre in den Mund legen; wogegen bei der von uns angenommenen Zeitfolge diese ausdrückliche Absage deutlich die Absicht bekundet, jeden falschen Schein, den die Gesprächseinkleidung im Parmenides hinsichtlich seiner Stellung zu dem Eleaten etwa aufkommen lassen konnte, zu zerstreuen.[279]
Aber vielleicht deswegen könnte die Voranstellung des Dialogs Parmenides bedenklich scheinen, weil in sachlicher Hinsicht der Sophist über den Gedankenkreis des Parmenides nicht wesentlich hinauskommt, ja seine letzten Tiefen nicht ganz wieder erreicht. Allein auch der Größte schreitet nicht in jedem folgenden Werk über alle früheren hinaus. Und übrigens behauptet der Sophist seine volle Überlegenheit in der größeren Strenge des Verfahrens, in der reineren Ableitung seiner zwar wenigeren, aber probehaltiger begründeten Positionen. Man kann sagen, PLATO kehrt mit diesem Dialog zu dem im Phaedo gezeichneten direkt deduktiven Verfahren zurück. Die zweiseitige, vielmehr achtseitige Deduktion im Parmenides war vorübergehend, für ihren bestimmten Zweck höchst förderlich gewesen, aber sie sollte nicht zur Norm werden, nicht den schlichten, geradlinigen Gang der Ableitung aus den hinreichend gesicherten Grundvoraussetzungen, wie der Phaedo ihn fordert, etwa dauernd verdrängen. Sie erwies sich brauchbar nicht bloß zum pädagogischen Zweck der Übung in allen Feinheiten ja Überfeinheiten dialektischer Kunst, sondern auch zum ersten Aufspüren wichtiger, bisher unentdeckter Begriffsbeziehungen. Der Sophist hält von diesem Verfahren das fest, worin seine gedankenzeugende Kraft eigentlich lag: das genaue Durcharbeiten auch der negativen Wahrheiten, um neue positive zu finden. Nur befolgt er auch darin einen ungleich schlichteren, natürlicheren Gang, und er findet seinen Schwerpunkt in der nachfolgenden ganz direkten Gedankenentwicklung, zu der es im Parmenides gar nicht kam. Auch dieser Unterschied des Verfahrens weist dem Sophisten entschieden die spätere Stelle an.
Damit man nun in das innere Verhältnis des Sophisten zum Parmenides sogleich einen vollen Einblick gewinne, seien voraus in Kürze die wichtigsten der Gedankenreihen angedeutet, welche im Parmenides mehr nebenbei oder in versteckter Weise eingeführt waren, und im Sophisten in irgend einer Form wieder aufgenommen werden.
1. Die Begründung für den Geltungswert der Ideen hat auszugehen von der Feststellung der Bedingungen der Möglichkeit des Urteilens überhaupt. Daraus fließt vor allem die allgemeine Forderung der Verknüpfbarkeit der Fundamentalbestimmungen des reinen Denkens. Zum Beispiel die Einheit kontradiziert der Mehrheit, scheint daher sie logisch auszuschließen. Aber nach ihrer Funktion im Prozeß der Erkenntnis,[280] als eine ihrer Grundverfahrungsweisen im Zusammenhang ihres ganzen Verfahrens, besagt sie notwendig Einheit eines Mannigfaltigen, sie schließt also die Mannigfaltigkeit nicht aus, sondern ein. Umgekehrt ist das Mannigfaltige notwendig ein Mannigfaltiges, also auch wiederum Eines. Entsprechend verhalten sich zu einander Identität und Verschiedenheit. In ähnlicher Korrelation stehen ferner Quantitäts- und Qualitätsbestimmung unter einander, und so schließlich alle fundamentalen Denkfunktionen mit allen.
2. Die allseitige Durchführung dieses Motivs erfordert ein System der Fundamentalbestimmungen des Denkens. Ein solches wurde in den beiden ersten Deduktionen des Parmenides angedeutet; zu einer genaueren Abgrenzung und sicheren Ableitung kam es nicht. Im Sophisten wird sie in Angriff genommen, wenn auch freilich nicht über einige erste Schritte hinausgeführt.
3. Der Fortschritt von Denkbestimmung zu Denkbestimmung, das Denken als logischer Prozeß und Progreß gelangte auf dieser Grundlage im Parmenides zu einer Schärfe der Ausprägung wie nie zuvor. Es wurden dadurch die immer schon als problematisch empfundenen Begriffe des Werdens und Vergehens und Anderswerdens zum ersten Male eigentlich logisch ergründet. Es wurde nicht bloß die im Phaedo schon keimweis enthaltene Erkenntnis der Zeit als allgemeiner Bedingung der Vereinbarkeit kontradiktorischer Bestimmungen durch Verschiedenheit des Beziehungsorts wieder erreicht, es wurde vielmehr festgestellt, daß die Zeit an und für sich den Übergang von A in nicht-A nicht erklärt. Dieser Übergang ist vielmehr unzeitlich. Er beruht auf nichts Anderm als der Kontinuität des Denkens; darauf, daß von A zu nicht-A, als im Denken gleichsam aneinandergrenzend, im Denken auch der Grenzübergang möglich und notwendig ist, der an sich der Zeit vorausliegt und ihren sonst denkunmöglichen Begriff erst denkmöglich macht. Auch dieses Motiv klingt im Sophisten merklich wieder an; es wird wohl nur deshalb nicht weiter ausgeführt, weil gerade dies als durch den Parmenides erledigt gelten durfte.
4. Die Durchführung auch der negativen Hypothesis, daß »das Eine nicht ist«, gab Anlaß zu einer tiefen logischen Erörterung des Begriffs des Nichtseins. Auch das Nichtseiende ist doch, als nichtseiend, im Denken gesetzt; es ist, kraft dieser Setzung, doch Etwas, wovon vielerlei wahre Aussagen[281] möglich sind. Wenn nicht, so würde es sich überhaupt nicht (mit Sinn) aussprechen, es würde nicht einmal dies, daß es nichtsei, sich von ihm aussagen lassen. Also muß auch das Nichtsein am Sein, umgekehrt das Sein am Nichtsein teilhaben. Sein und Nichtsein werden entdeckt als gleichberechtigt neben und in wesentlicher Beziehung zu einander stehende Denkfunktionen; wogegen jenes Nichtsein, welches, nach der eleatischen Auffassung, das Sein, desgleichen das Sein, welches das Nichtsein schlechthin ausschlösse, damit zu etwas völlig Undenkbarem, Unsagbarem würde. – Und in engem Zusammenhang damit kam
5. das Problem des Erscheinens schon im Parmenides zur Behandlung, dem Grundgedanken nach sogar schon zur Auflösung. Nur blieb es auch in dieser Beziehung bei Andeutungen, die die erstaunlichen Tiefen dieses Problems mehr nur ahnen ließen als ans helle Licht der Untersuchung zogen. Nach den weitestgehenden dieser Andeutungen besagt das Erscheinen nichts andres als die unendliche Bestimmungsmöglichkeit, die freilich die bloß relative Geltung jeder erreichten Bestimmung einschließt. Das Erscheinen wird damit zu einer Art Sein, es wird, den Worten nach ganz gegen die bisherigen Aufstellungen PLATOS, zum Gegenstand des »scharfen« Denkens des Verstandes, ja es ist nach dem letzten Ergebnis des Dialogs dieses Denken eigentlich das allein gegenständliche, Erfahrung, zum Denken erhoben, die einzige, eigentlich uns zustehende Erkenntnisart, das reine, erfahrungsfreie, bloße Begriffsdenken, sofern es Etwas für sich sein will, im Grunde ein verkehrtes Ideal, ein nicht nur unlösbares, sondern falschgestelltes Problem. – Die Frage des Nichtseins wird im Sophisten ganz im Sinne der vorigen Schrift, in nahezu erschöpfender Abhandlung, man darf wohl sagen, erledigt. Die Frage des Scheinens und nicht Seins aber ist ganz eigentlich die Grundfrage, zu deren Beantwortung sich alle sonstigen Erörterungen im Sophisten schließlich vereinigen. Und wenn dabei jene letzten Tiefen des Parmenides, die den Platonismus schon bis hart an die Grenzen seiner Selbstüberwindung entwickeln, allerdings nicht völlig wieder erreicht werden, so stimmt doch das allgemeine Ergebnis mit dem Parmenides ganz überein: daß das Erscheinen etwas ebenso Positives ist wie, der vorigen Deduktion zufolge, das Nichtsein. Das Grundverhältnis der reinen Denkbestimmungen zum x der Erfahrung kommt dabei zwar nicht zu so fundamentaler[282] Behandlung wie im Parmenides; in dieser Hinsicht darf aber der Philebus als Ergänzung zum Sophisten angesehen werden, wo die Zurückbeziehung auf den Parmenides auch ganz deutlich ist.
Dieser reiche Inhalt wird im Sophisten nun zwar nicht in der hier skizzierten Gedankenfolge entwickelt. Seine Darlegung folgt vielmehr einem übrigens schlichten, durchsichtigen Plane, der in echt platonischer Weise, von etwas Äußerem beginnend, gleichsam unversehens in das Zentrum der verhandelten Frage hineinführt.
Der Gast aus Elea, der die Führung des Gesprächs zu übernehmen bestimmt ist, wird von THEODORUS den versammelten Freunden als Philosoph vorgestellt. Das gibt den Anlaß zu der Frage: was ist eigentlich ein Philosoph, im Unterschied von den Beiden, mit denen er leicht verwechselt wird, dem Sophisten und dem Staatsmann? Es sollen der Reihe nach diese drei Begriffe festgestellt werden. Und zwar wird der Begriff des Sophisten und der des Staatsmanns in diesem und dem nächstfolgenden Gespräch (die eigentlich nur zwei Teile eines einzigen Gespräches bilden) gesucht; ein dritter Teil, der erst den Philosophen selbst, nach dem ursprünglich gefragt war, hätte zur Darstellung bringen müssen, ist nicht zur Ausführung gekommen.
Eine Reihe von Anläufen, den Sophisten zu definieren, bringt es nicht über die Hervorhebung je eines einzelnen und zwar minder wesentlichen Merkmals hinaus. Endgültig ergibt sich, daß der Sophist ein Antilogiker ist, d.h. einer der sich auf die Kunst der Gegenrede versteht, und zwar über alles, was es nur gibt. Nicht als ob er wirklich alles verstände; aber er weiß sich den Schein zu geben, als verstände er alles, und weiß mit diesem Schein solche, die ebenso wenig von der Sache verstehen, zu blenden. Die Sophistik ist also eine Gattung der Nachahmungskunst, die überdies nicht einmal die wahre Sache, sondern die Erscheinung nachahmt.
Damit ist nun erst das tiefere Problem gestellt, dessen Herbeiführung, scheint es, die einzige ernsthafte Absicht dieser sonst ziemlich ironisch behandelten Versuche, den Sophisten zu definieren, ist. Nämlich: was hat es eigentlich auf sich mit diesem seltsamen Scheinen und nicht Sein, diesem Meinen und Aussagen von etwas, das nicht ist? Damit scheint ein gewisses Sein des Nichtseins gesetzt, im Widerspruch mit[283] dem Satze des Parmenides, daß ein Nichtsein auf keine Weise sein, d.h. statthaben könne. Auf dies einzige Problem bezieht sich die uns hier allein angehende Hauptuntersuchung (236 D – 264 B). Nachdem sie erledigt ist, wird auf Grund ihres Ergebnisses die bis auf diesen tiefer führenden Zweifel schon zuvor hinreichend gesicherte Begriffsbestimmung des Sophisten wieder aufgenommen und ganz im vorigen Sinne zu Ende gebracht.
Die zentrale Untersuchung aber gliedert sich einfach nach Problem und Lösung. Die Entwicklung des Problems geht sachgemäß aus vom Begriff des Nichtseins, greift dann aber notwendig zurück auf den ihm gegenüberstehenden positiven Begriff des Seins, der sich nicht minder schwierig erweist. Die Auflösung dagegen geht aus von der ganz radikalen Frage der Möglichkeit des Seins d.h. der Prädikation überhaupt. Diese fordert allgemein die Verknüpfbarkeit der Begriffe. Aufgabe der Dialektik ist, darzutun, welche Begriffe mit welchen zu verknüpfen sind. Da nun die Dialektik sich mit der Philosophie wesentlich deckt, so ist damit unversehens der Begriff des Philosophen, vor dem des Sophisten, schon gefunden; was es begreiflicher erscheinen läßt, daß PLATO darauf verzichten konnte, diesem noch eine besondre Untersuchung, nach der des Sophisten und des Staatsmanns, zu widmen. Auf Grund der so eingeführten Erörterung über die Fundamentalbegriffe des Denkens wird dann, zugleich mit dem Begriff des Seins, der des Nichtseins endgültig bestimmt. Und zwar ergibt sich, daß das Nichtsein, als identisch mit der Verschiedenheit, dem Sein nicht schlechthin entgegengesetzt, ein Sein des Nichtseins also, und damit falsche Aussage, falsches Urteil, falscher Schein möglich, mithin der diese Möglichkeit voraussetzende Begriff des Sophisten gerechtfertigt ist.
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