Zehntes Kapitel
Das Verständniß der Dreiheit in der Einheit geht über alle Begriffe

[13] Untersuchen wir nun, was Martianus wollte, wenn er sagte, eine Philosophie, die sich zum Verständnisse dieser Dreieinigkeit erheben wolle, müsse zuvor Kreise und Sphären aufgegeben haben (evomuisse). Es ist oben gezeigt, daß es nur Ein einfachstes Größtes giebt. Es ist nicht die vollkommenste körperliche Figur – die Kugel, nicht Kreis, nicht Dreieck, nicht Linie, sondern über alles dieses hinaus. Man muß daher, was Sinn, Einbildung oder Verstand darbietet, aufgeben, um zu der einfachsten und abstractesten Vernunfteinsicht (intelligentia) zu gelangen: Alles ist Eines; die Linie ist Dreieck, Kreis und Kugel, die Einheit Dreiheit u.s.f., das Accidens Substanz, der Körper Geist, die Bewegung Ruhe etc. Dann erkennen wir, daß Jegliches in dem Einen Eines ist und das Eine Alles und folgerichtig Jegliches in ihm Alles. Namentlich hat man nicht vollständig Kugel, Kreis etc. aufgegeben, so lange man nicht zur Einsicht gelangt, die größte Einheit sei nothwendig dreieinig. Die Einheit des vernünftigen Erkennens (intellectus) besteht in dem Erkennenden, dem Erkennbaren und dem Erkennen. Willst du dich nun von dem Erkennenden zum absolut Größten erheben und sagen, es sei das am meisten Erkennende, dabei aber nicht beifügen, es sei auch das am meisten Erkennbare und das höchste Erkennen, so hättest du keine rechte Auffassung der größten und vollkommensten Einheit. Die Einheit schließt ferner die Untheilbarkeit, Unterscheidung und Verbindung in sich, da alle drei aus der Einheit stammen; die größte Einheit ist mithin alle drei zumal. Als Untheilbarkeit ist sie die Ewigkeit ohne Anfang, wie denn das Ewige von Nichts getrennt oder geschieden ist; als Unterscheidung ist sie aus der unveränderlichen Ewigkeit, als Verbindung geht sie aus Beiden hervor. Folglich, indem ich sage: die Einheit ist die größte, spreche ich damit die Trinität aus. Mit dem Worte: Einheit bezeichne ich den Anfang ohne Anfang (principium sine principio), mit dem Worte: »größte« den Anfang aus dem Anfange, mit der Copula »ist« – das Hervorgehen aus Beiden.

Ich sagte oben, im Größten sei die Linie zugleich Oberfläche, Kreis und Kugel. Um nun deinen Geistesblick zu schärfen, will ich dich zu der Einsicht dieses Satzes erheben, die dir dann, wenn du dich von den (mathematischen) Figuren zur geistigen Wahrheit selbst erhebst, einen überaus großen Genuß gewähren wird, und du wirst auf diesem Wege in der Wissenschaft des Nichtwissens große Fortschritte machen.[13]

Quelle:
Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften. Freiburg im Breisgau 1862, S. 13-14.
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