Siebenzehntes Kapitel
Folgerungen voll tiefer Weisheit

[19] Die endliche Linie ist theilbar, die unendliche nicht, allein die endliche ist nicht theilbar in eine Nichtlinie, daher ist die endliche Linie im Wesen der Linie (in ratione lineae) untheilbar, denn die Linie eines Schuhes ist eben so gut Linie, als die eines Kubikfußes. Hieraus folgt, daß die unendliche Linie der rationelle Grund (ratio) der endlichen ist. So ist denn auch das Größte der rationelle Grund (ratio) von Allem und als solcher das Maaß von Allem. Mit Recht sagt daher Aristoteles in der Metaphysik, das Erste sei das Maaß von Allem, weil der Grund von Allem. Ferner: wie die unendliche Linie untheilbar, deßhalb auch ewig und unveränderlich ist, so auch Gott als der Grund von Allem. Hier zeigt sich wieder der Geist des großen Dionysius, wenn er sagt, das Wesen der Dinge sei unzerstörlich. Der göttliche Plato sagte mit den Worten des Calcidius im Phädon, Eines sei das Urbild oder die Idee von Allem, so ferne es in sich ist, in Hinsicht aber auf die Vielheit der Dinge scheint es mehrere Urbilder zu geben. Allein wenn ich eine Linie von 2 und eine andere von 3 Fuß habe, so ist das Wesen der Linien in beiden gleich, die Verschiedenheit bezieht sich auf die Länge. In der unendlichen Linie fällt diese Verschiedenheit weg und nur der rationelle Grund der Linie bleibt in ihr für beide. Beide haben somit Einen rationellen Grund; nicht in diesem liegt der Grund ihrer Verschiedenheit, sondern darin, daß nicht beide auf vollkommen gleiche Weise an jenem Einen Grunde participiren können. Eben hieraus erhellt auch, warum dieser rationelle Grund aller Linien insofern ganz in jeder ist, als er in keiner besonders ist, weil er im letzten Falle nicht mehr das absolute Maaß aller sein könnte. Es ist daher die unendliche Linie in jeder Linie ganz, so daß jede in ihr ist, und diese beiden Sätze sind in ihrer Verbindung (conjunctim) aufzufassen. Sagen wir daher: das Größte ist in jedem und in keinem Dinge, so heißt dies nichts Anderes, als: da das Größte in demselben Verhältnisse (ratione) in jedem Dinge ist, in welchem jedes Ding in ihm ist und es dieses Verhältniß selbst ist (et sit ipsamet ratio) so ist das Größte in sich selbst. Kein Ding ist also in sich selbst, sondern nur das Größte, jedes Ding ist nur in seinem rationellen Grunde in sich selbst, weil dieser Grund das Größte ist.

Auf diesem Wege kann die Vernunft durch Vergleichung des Größten[19] mit der unendlichen Linie sich helfen und im Heiligthum des Nichtwissens (in sacra ignorantia) große Fortschritte machen; denn das sehen wir nun klar, daß wir Gott nur durch Entfernung der Participation aller Dinge finden. Alles participirt an dem Sein. Nehmen wir dieses Participiren hinweg, so bleibt das einfachste Sein selbst, die Wesenheit der Dinge übrig. Der große Dionysius sagt, die Erkenntniß Gottes führe mehr zum Nichts, als zu Etwas hin. Das heilige Nichtwissen belehrt uns aber, daß, was der Vernunft Nichts zu sein scheint, eben das unbegreiflich Größte ist.

Quelle:
Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften. Freiburg im Breisgau 1862, S. 19-20.
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