Sechstes Kapitel
Das Größte ist die absolute Nothwendigkeit

[9] Im Vorhergehenden ist gezeigt, daß außer dem Einen Größten Alles endlich und begrenzt ist. Das Endliche und Begrenzte hat nothwendig etwas, von dem es seinen Anfang und Begrenzung hat. Und da man nicht sagen kann, jenes absolute Größte sei größer, als ein gegebenes Endliches, da man nicht so ins Unendliche fortsteigen kann, da sonst das Größte von der Natur des Endlichen wäre, so ist das absolut Größte nothwendig, als Anfang und Ende alles Endlichen. Ueberdies könnte nichts sein, wenn jenes nicht wäre. Wäre das Endliche aus sich, so existirte[9] es, bevor es existirt, und in den Ursachen und Principien gibt es, wie die Regel sagt, keinen Regressus in infinitum. Sodann müssen wir sagen: das Größte hat keinen Gegensatz, weder das concrete Sein, noch das Nichtsein. Wie läßt es sich also denken, das Größte könne nicht sein, da gar nicht sein (minime esse) bei ihm heißt: am meisten sein (maxime esse)? Es läßt sich also kein Sein denken, ohne das Sein. Ferner: die größte Wahrheit ist das absolut Größte. Nun aber die größte alle denkbaren Fälle erschöpfende Wahrheit ist die, daß das absolut Größte entweder sei oder nicht sei, oder sei und nicht sei, oder endlich weder sei noch nicht sei. Welches Glied dieser Disjunction du als das am meisten wahre (maxime verum) bezeichnen magst, so ist der Beweis damit geliefert, denn ich habe jedesmal die größte Wahrheit, die das schlechthin Größte ist. Wenn gleich auch das Wort Sein keine präcise Bezeichnung für das Größte ist, das alle Namen übersteigt, so muß doch dieser Name noch am ehesten ihm zukommen.

Durch diese und unendlich viele ähnliche Beweise vom Standpunkte der Wissenschaft des Nichtwissens erhellt, daß das schlechthin Größte nothwendig existire, weßhalb es die absolute Nothwendigkeit ist.

Quelle:
Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften. Freiburg im Breisgau 1862, S. 9-10.
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