Viertes Kapitel
Das Universum, das concret Größte, ist nur ein Abbild des absolut Größten

[43] Wenn wir das durch die Wissenschaft des Nichtwissens bisher Ermittelte weiter verfolgen, so werden sich uns auch aus dem Satze, daß Alles das absolut Größte oder von demselben ist, über die Welt oder das Universum, das ich als das concret (contractum) Größte betrachte, manche Ausschlüsse ergeben. Denn da dieses concret Größte Alles, was es ist, vom Absoluten hat, so ist es eine größtmögliche Nachahmung desselben. Wir sagen daher, daß, was sich uns im ersten Buche über das absolut Größte ergeben hat und diesem als Absoluten absolut zukömmt, dem concret Größten concret zukomme. Wir wollen Einiges zum Behufe des Verständnisses erläutern. Gott ist das absolut Größte, die absolute Einheit, die allen Unterschieden und Gegensätzen vorausgeht und sie einigt (wie z.B. das Contradictorische, von dem es keine Vermittlung gibt), die absolut das ist, was Alles ist, in Allem das absolute Princip und Ende der Dinge, das Sein, in dem Alles ohne Vielheit das absolut Größte selbst ist, einfach ununterschieden, wie die unendliche Linie alle Figuren in sich begreift. Auf ähnliche Weise ist die Welt oder das Universum das concret Größte und Eine, den concreten Gegensätzen[43] vorausgehend; es ist in concreter Weise das, was Alles ist, das concrete Princip und Ende in Allem, concretes Sein, concrete Unendlichkeit; Alles ist in ihm ohne Vielheit das concret Größte selbst, in concreter Einfachheit und Ununterschiedenheit, wie die concret größte Linie alle Figuren concret in sich begreift. Hält man den Begriff des Concreten richtig fest, so ist Alles klar. Es steigt nämlich die concrete Unendlichkeit oder Einfachheit in unendlicher Weise, ohne Proportion aus dem Absoluten und Einen herab. Daher ist die concrete Einheit nicht ohne Vielheit, das Unendlich beschränkt, das Einfache zusammengesetzt, das Ewige ein Nacheinander, die Nothwendigkeit durch die Möglichkeit beschränkt etc. Vieles läßt sich hieraus entwickeln. Wie Gott in seiner Unermeßlichkeit weder in der Sonne, noch im Monde ist, obwohl er in ihnen das, was sie sind, absolut ist, so ist auch das Universum weder in der Sonne, noch im Monde, es ist aber in ihnen das, was sie sind, in concreter Weise. Und da das absolute Sein der Sonne nichts Anderes ist, als das absolute Sein des Mondes (weil es Gott selbst ist, der das absolute Sein und Wesen der Dinge ist), dagegen das concrete Sein der Sonne ein anderes ist, als das des Mondes, so ist zwar nicht das absolute Sein einer Sache, wohl aber das concrete die Sache selbst. Da demnach das concrete Sein des Universums anders in der Sonne, anders im Monde ist, so besteht die Identität des Universums in Verschiedenheit, wie seine Einheit in Vielheit. Obwohl daher das Universum weder Sonne noch Mond ist, so ist es doch in der Sonne Sonne, im Monde Mond, es ist aber das, was Sonne und Mond ist, ohne Vielheit und Verschiedenheit. Universum bezeichnet die Universalität, d. i. die Einheit von Vielem. Wie die Menschheit weder Sokrates, noch Plato, wohl aber im Sokrates Sokrates, im Plato Plato ist, so verhält sich das Universum zu allen Dingen. Da gesagt wurde, das Universum sei der concrete Anfang von Allem, und in sofern das Größte, so erhellt, daß das ganze Universum durch eine einfache Emanation des concret Größten aus dem absolut Größten in's Dasein getreten ist. Alle Wesen, welche Bestandtheile des Universums sind, ohne die es nicht Eines, ganz und vollkommen sein könnte, sind zugleich mit dem Universum in's Dasein getreten, nicht zuerst die Intelligenz, dann die Seele, dann die Natur, wie Avicenna und andere Philosophen lehrten. Wie in der Intention des Künstlers vorher das Ganze, z.B. ein Haus ist, ehe er an die Theile, z.B. die Wände denkt, so sagen wir, daß, da Alles nach der Intention Gottes in's Dasein getreten ist, zuerst das Universum und in Folge dessen (et in ejus consequentiam) Alles, ohne was weder ein Universum, noch ein vollkommenes Universum sein kann, entstanden ist. Wie also das Abstracte im Concreten ist, so betrachten wir das absolut Größte im concret Größten[44] als das Erste (prioriter consideramus), das in Folge dessen in allem particularen Sein ist, weil es auf absolute Weise in dem ist, was Alles in concreter Weise ist. Gott ist nämlich das absolute Sein des Universums, dieses ist das concrete Sein, das Concrete bezieht sich auf das Einzelne, auf Dies oder Jenes. Es ist also Gott das Eine, im Einen Universum, das Universum aber in Allem concret. So begreifen wir, wie Gott mittelst des Universums in Allem und die Vielheit der Dinge mittelst des Einen Universums in Gott ist.

Quelle:
Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften. Freiburg im Breisgau 1862, S. 43-45.
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