Zehntes Buch

[366] Und in der Tat, hob ich wieder an, überhaupt in vielen anderen Bestimmungen nehme ich an unserem Staate wahr, daß wir ihn ganz nach richtigen Grundsätzen der Vernunft anlegten; insbesondere behaupte ich das aber in Rücksicht auf jene über die Poesie.

Welche denn? fragte er.

Daß wir sie auf keinerlei Weise aufnahmen, soweit sie in das Gebiet der Nachahmungspoesie einschlägt; denn daß diese durchaus nicht aufgenommen werden darf, das stellt sich meines Bedünkens jetzt noch deutlicher heraus, nachdem die drei Hauptseelenbestandteile einzeln besonders in bestimmter Unterscheidung dargestellt worden sind.

Was willst du damit sagen?

Unter euch gesagt (denn ihr werdet mich doch bei den tragischen und den übrigen nachahmend darstellenden Dichtern nicht verraten!), so ist sie offenbar ein Grundverderben für den denkenden Geist aller, die alle dergleichen poetische Produkte anhören, ohne ein Gegengift zu haben an dem gründlichen Wissen dessen, was eigentlich an ihnen ist.[366]

In welcher Beziehung, fragte er, äußerst du denn diesen Gedanken?

Ja, antwortete ich, obwohl eine von Jugend auf an Homer mich fesselnde Liebe und Ehrfurcht mich abhält, zu äußern, was ich denke, es muß einmal heraus! Denn er ist offenbar von allen diesen feinen Theaterhelden der Urlehrmeister und Führer. Heraus muß es darum, was ich über ihn denke; denn eine menschliche Person darf nicht über die Wahrheit gestellt werden!

Ja, sagte er, allerdings!

So höre denn, oder vielmehr: antworte!

Frage nur!

Nachahmende Darstellung überhaupt, kannst du mir einen allgemeinen Begriff dessen angeben, was sie eigentlich ist? Denn ich selbst finde es gar nicht recht zusammen, was sie eigentlich sein will.

Nun, sagte er, da soll ich es etwa zusammenfinden? Wäre gar kein Wunder, meinte ich; denn mancherlei schon haben blödere Augen früher gefunden als Leute mit schärferem Blicke!

Ja, sagte er, das ist der Fall; aber in deiner Gegenwart könnte ich nicht einmal das Herz fassen, eine Ansicht auszusprechen, wenn eine solche sich mir zeigt: drum richte selbst dein Auge darauf!

Wollen wir also von folgendem Standpunkte aus nach unserer gewöhnlichen Methode die Betrachtung beginnen? Unser gewöhnlicher Standpunkt ist nämlich, daß wir eine ideelle Einheit allemal bei jeder Art von Vielheiten annehmen, denen wir denselben Namen geben, – oder begreifst du's nicht?

Ja, ich begreife.

So wollen wir denn auch jetzt, wenn's gefällt, einige beliebige Vielheiten annehmen: es gibt z.B. eine Vielheit von Stühlen und Tischen.

Allerdings.

Aber ideelle Einheiten gibt es von diesen Gerätschaften nur zwei: eine vom Stuhl, eine vom Tisch.

Ja.

Nicht wahr, nach unserer Gewohnheit drücken wir uns aus, daß der Fabrikant jeder der beiden Gerätschaften im Hinblick[367] auf die ideelle Einheit schafft: der eine Stühle, der andere Tische zu unserem praktischen Gebrauche; denn die abstrakte ideelle Einheit davon fabriziert uns keiner der menschlichen Werkmeister; wie wäre es denn auch möglich?

Auf keine Weise.

Aber jetzt weiter, sieh dir einmal folgenden Fabrikanten an!

Welchen Namen wirst du ihm geben?

Welchem denn?

Der alle möglichen Dinge fabriziert, die nur immer jeder einzelne der Künstler hervorbringt.

Von einem außerordentlichen Manne sprichst du da, und von einem, der den Namen eines Wundermannes verdient!

Noch gar nicht! Du wirst ihm gleich noch einen besseren und höheren Namen geben: denn derselbe Künstler kann nicht nur alle Gerätschaften bilden, sondern er bildet auch alle Erzeugnisse der Erde, fabriziert alle lebenden Wesen, alles übrige sowohl als auch sich selbst, außerdem Erde, Himmel, Götter, alles am Himmel und im Hades unter der Erde, – alles fabriziert er!

Ja, sagte er, da sprichst du von einem Erzwundermann und Tausendkünstler!

Es kommt dir unglaublich vor? fragte ich. Gib mir nur eine Antwort auf folgende Frage: Soll es ganz und gar nicht nach deiner Ansicht einen solchen Fabrikanten geben, oder kann er auf gewisse Weise die genannten Dinge alle machen, auf gewisse Weise aber auch nicht? Oder merkst du noch nicht, daß du selbst auf eine gewisse Weise imstande wärest, alle jene Dinge zu machen?

Und worin besteht denn diese Weise? fragte er.

Es hat gar keine Schwierigkeit, erwiderte ich, sondern läßt sich vielfach und schnell bewerkstelligen, am schnellsten wohl, wenn du einen Spiegel zur Hand nehmen und überall herumtragen wolltest: da wirst du bald eine Sonne machen und sonstige Himmelskörper, bald dich selbst sowohl wie alle übrigen lebenden Wesen, überhaupt alle eben genannten Kunst- und Naturerzeugnisse.

Ja, freilich, sagte er, dem Scheine nach, aber wohl nicht in Wahrheit!

Ganz gut, bemerkte ich, und recht zupasse kommst du da[368] mit dieser Antwort unserer Untersuchung! Denn zu solchen Künstlern, meine ich, gehört auch der Maler, oder nicht?

Jawohl.

Aber, wirst du, glaube ich, einwenden, seine Fabrikate seien keine wirklich wahren; und doch fabriziert auch auf eine gewisse Weise der Maler einen Stuhl, oder nicht?

Ja, freilich, sagte er, aber auch er nur einen scheinbaren.

Wie sieht's dagegen mit dem eigentlichen Macher des Stuhles aus? Nicht wahr, eben stelltest du ja doch den Satz auf, nicht den allgemeinen ideellen Begriff davon, in welchem nach unserer Lehre besteht, was ein Stuhl eigentlich ist, fabriziere er, sondern diesen oder jenen individuellen Stuhl?

Ja, den Satz stellte ich auf.

Nicht wahr, wenn er macht, was eigentlich nicht ist, so macht er auch nichts Wesenhaftes, sondern nur etwas dem Wesenhaften Ähnliches, das Wesenhafte aber nicht; daß aber das Produkt des Stuhlmachers oder das eines anderen handarbeitenden Künstlers eine vollkommene Wesenheit sei, – wenn das jemand behauptete, so würde dieser demnach keine Dinge von Grund und Wahrheit vorbringen.

Freilich nein, sagte er, wenigstens nach den Grundsätzen derer, die sich mit solchen philosophischen Fragen beschäftigen.

Demnach dürfen wir es nicht auffallend finden, daß ein solches Produkt im Vergleich mit dem ewig währenden Sein ein ganz schwaches Sein hat.

Freilich nicht.

Wollen wir nun, sprach ich, an eben diesen Beispielen den vorhin erwähnten Nachahmer untersuchen, was er eigentlich ist?

Ja, sagte er, wenn es dir gefällig ist.

Nicht wahr, dreierlei Stühle kommen da heraus? Ein ursprünglich ideell existierender, den wohl nach meiner Ansicht wenigstens ein Gott geschaffen hat, oder wer sonst?

Niemand anders, denke ich.

Zweitens einer, den der Stuhlmacher gezimmert hat.

Ja, sagte er.

Drittens einer, den der Maler gemalt hat, oder nicht?

Es ist so.[369]

Also Maler, Stuhlmacher und Gott sind drei Meister für drei Arten von Stühlen.

Ja, drei.

Der Gott nun erstlich hat, sei es, daß es ihm so beliebte, oder daß er vermöge einer höheren Notwendigkeit nicht mehr als einen ursprünglich ideellen Urstuhl schaffen durfte, nur jenen einen eigentlichen Stuhl gemacht, der der wahre wesenhafte Stuhl ist: zwei aber oder mehrere dergleichen Stühle sind nicht geschaffen worden von dem Gotte und werden auch nicht geschaffen werden.

Warum denn? fragte er.

Weil, erwiderte ich, wenn er auch nur zwei machen sollte, von neuem darüber eines erscheinen würde, dessen Urbild wiederum jene zwei an sich trügen, und dieses neue ideelle Urbild würde dann der wesenhafte Stuhl sein, und nicht jene zwei.

Richtig, sagte er.

Weil nun diese Unfüglichkeiten, denke ich, der Gott natürlich wußte, so hat er nur jenes eine ideelle Urbild von Stuhl geschaffen, weil er in Wahrheit Schöpfer eines wahrhaft wesenhaften Stuhles sein wollte, aber nicht dieses oder jenes individuell bestimmten Stuhles, und auch kein individuell bestimmter Stuhlmacher.

Ja, offenbar.

Wollen wir nun erstlich diesen Gott den Urschöpfer dieses Dinges oder mit sonst einem ähnlichen Namen benennen?

Ja, ganz mit Recht, sagte er, dieweil er ja von Uranfang an dieses ideelle Ding und alle übrigen geschaffen hat.

Und wie nennen wir zweitens den Zimmerer des Stuhles? Nicht etwa den Werkmeister davon?

Ja.

Und drittens der Maler, nennen wir etwa auch diesen den Meister und Schöpfer eines solchen Dinges?

Keineswegs.

Aber was soll der denn nach deiner Erklärung vom Stuhle sein?

Da scheint mir, erwiderte er, wenigstens der angemessenste Name der zu sein: Nachahmer des Dinges, von dem jene die Werkmeister sind.[370]

Gut! sagte ich. Den Verteidiger des von der wahren Urschöpfung an erst den dritten Rang einnehmenden Erzeugnisses nennst du also einen Nachahmer?

Allerdings, war seine Antwort.

Demnach wird auch der Schauspielmacher, wofern er ein Nachahmer ist, eigentlich nur ein Abbild im dritten Grade, z.B. von dem Ur- und wahren Könige geben, und so alle übrigen Nachahmer überhaupt.

Es scheint so.

Über den eigentlichen Begriff des Nachahmers überhaupt wären wir also einmal im reinen; aber über den Maler insbesondere gib mir noch Antwort auf folgende Frage: Scheint er dir jenes ideelle Urbild von jedem Dinge in der Schöpfung nachahmen zu wollen, oder die Erzeugnisse der menschlichen Meister?

Die der menschlichen Meister, sagte er.

So wie sie sind, oder so wie sie scheinen? Denn das ist noch bestimmter anzugeben.

Wie verstehst du das? fragte er.

Auf folgende Weise: Ein Stuhl z.B., wenn du ihn von der Seite oder von vorn oder wie immer ansiehst, hat er da nicht jedesmal eine von der vorigen verschiedene Gestalt, oder ist eigentlich kein Unterschied vorhanden, sondern nur der Schein einer Verschiedenheit, und so hinsichtlich aller Dinge überhaupt?

Ich meine letzteres, sagte er: es ist nur ein Schein von Unterschied vorhanden, aber kein eigentlicher.

Diesen Punkt nun halte fest im Auge! Für welchen der beiden Zwecke hinsichtlich jeden Dinges ist die Malerei vorhanden: für das Nachahmen des Wesenhaften, wie es wirklich ist, oder für das des Scheinenden, wie es sich im Scheine gibt, d.h. ist sie eine Nachahmung von Schein oder von wesenhafter Wahrheit?

Vom Scheine, antwortete er.

Weit also von der wesenhaften Wahrheit ist offenbar die Nachahmung entfernt; deswegen macht sie auch alles mögliche nach, weil sie sich nur mit dem Oberflächlichsten eines jeden Dinges befaßt, und dazu noch mit einem Schattenbilde davon. So wird der Maler in unserem Beispiele einen[371] Schuhmachermeister, einen Zimmermeister und überhaupt alle übrigen Meister malen, ohne das geringste von allen diesen Handwerken zu verstehen, dessenungeachtet aber wird er, wenn er ein guter Maler ist, durch das Bild eines Zimmermanns und durch Hinstellung desselben aus der Ferne Kinder sowie unvernünftige Menschen zur Verblendung verführen, als wäre es ein Zimmermann, wie er leibt und lebt.

Ohne Zweifel.

Aber, mein Freund, dies gilt, denke ich, nicht von dem Maler allein; denn von allen dergleichen Leuten, deren Beschäftigung in die Nachahmung einschlägt, muß man folgenden Gedanken festhalten: Falls jemand von einem gewissen Manne berichtete, er habe in ihm ein Wesen menschlicher Natur kennengelernt, das nicht nur alle Künste und Handwerke, sondern auch von allen übrigen Wissenschaften, wovon jede die Aufgabe eines Einzelnen ist, jeden möglichen Zweig so gut als irgend einer verstände, so muß man von einem solchen Berichterstatter annehmen, daß er ein einfältiger Mensch ist, daß er offenbar auf eine Art Taschenspieler und Nachahmer geraten war und von diesem zur Verblendung, jener sei ein Allwisser, verführt wurde, aus keiner anderen Ursache, als weil jener Einfaltspinsel nicht imstande ist, zu prüfen, was wahre Wissenschaft, was Unwissenheit, was Nachahmung ist.

Ja, ganz recht, sagte er.

Nicht wahr, fuhr ich fort, auf der Grundlage dieser allgemeinen Untersuchung müssen wir nun die besondere über die dramatische Dichtung überhaupt und vornehmlich über ihren Führer Homer anstellen, dieweil wir von einigen Leuten hören, diese Dichter hätten nicht nur alle Künste, sondern auch alle in das praktische Menschenleben sowie in die spekulative Naturphilosophie einschlagenden Wissenschaften inne; denn der gute Dichter müsse natürlich, wenn er über einen Gegenstand schön dichten wolle, das wissen, worüber er dichtet, oder er wäre gar nicht imstande zu dichten. Es muß natürlich nun untersucht werden, ob jene Leute nicht auf Nachahmer der vorhin beschriebenen Art geraten sind, von ihnen sich haben anführen lassen und daher bei Betrachtung ihrer Erzeugnisse nicht bemerken, daß diese Nachahmer drei Grade vom wahren Sein entfernt sind, und daß es einem gar leicht ist, darüber zu[372] dichten, ohne die eigentliche Wahrheit davon zu kennen (denn Trugbilder und keine wirkliche Wesenheiten stellen ja die Nachahmer dar); oder ob die Behauptung jener Leute doch begründet ist und die guten Dichter wirklich ein Wissen über die Dinge haben, worüber sie dem Volke herrlich zu reden scheinen.

Ja, sagte er, allerdings ist das zu prüfen!

Glaubst du nun bei dieser Alternative, es würde einer, wenn er beides darstellen könnte, sowohl das nachzuahmende Original wie das Schattenbild davon, sich im Ernst auf die Erzeugung von Schattenbildern legen und diese sich zum Ziele seines Lebens setzen in dem Glauben, als habe er den besten Teil erwählt?

Nein, ich glaube es nicht.

Sondern er würde, denke ich, wenn er denn doch in Wahrheit von den Dingen, die er alle nachahmt, eine gründliche Wissenschaft hätte, sich mit mehr Eifer auf die Heldentaten verlegen als auf die nachahmenden Schildereien davon, würde eher sich anstrengen, viele schöne eigene Werke als Denkmale von sich zu hinterlassen, würde viel eher der Gepriesene als der Preisende sein wollen.

Ja, ich glaube, erwiderte er; denn nicht nur die Ehre, sondern auch der Vorteil sind nicht gleich.

Über manche andere Zweige des Wissens wollen wir nun Homer oder überhaupt jeden anderen der Dichter nicht zur Rede stellen, wie etwa durch die Fragen: wenn denn wirklich ein Heilkünstler unter ihnen und nicht bloß ein Nachahmer heilkundiger Phrasen gewesen wäre, welche Leute denn da ein Dichter aus der alten oder neueren Zeit gesund gemacht haben solle, wie z.B. Asklepios dies getan; oder welche Schüler er in der Heilkunde hinterlassen habe, wie z.B. jener Asklepios seine Jünger? Auch wollen wir die Dichter ferner über die übrigen Künste nicht fragen, sondern es ihnen hierin hingehen lassen; aber über die wichtigsten Gegenstände, worüber zu sprechen sich Homer unterfangen hat, über Kriegsschlachten und Heeresführung, über Staatsverwaltung und Menschenbildung, darüber müssen wir pflichtgemäß ihn durch Vorlegung folgender Fragen examinieren: »Mein lieber Homer, wenn du denn in bezug auf geistige Tüchtigkeit nicht etwa gar[373] im dritten Grade von der Wahrheit entfernt stehst, als ein Schattenbildfabrikant, wie wir den Nachahmer definiert haben, sondern nur im zweiten Grade und demnach imstande sein mußtest, praktisch zu erkennen, welche Lebenseinrichtungen die Menschen sowohl im Häuslichen wie im Staatsleben besser oder schlechter machen, so gib uns Red' und Antwort, welcher Staat durch dich besser eingerichtet worden ist, wie z.B. durch Lykurg Lakedaimon, und wie durch sonst viele andere es noch viele große und kleine Staaten wurden? Welcher dagegen rühmt dich als guten Gesetzgeber und seinen Heiland? So rühmen z.B. Italien und Sizilien Charondas, wir unseren Solon; wer aber dich?« Wird er einen angeben können?

Ich glaube nicht, sagte Glaukon; wenigstens wird keiner angeführt, nicht einmal von den Homeriden.

Nun, da wird wohl aus den Zeiten Homers eines Krieges gedacht, der unter seinem Kommando oder auf seinen Rat glücklich geführt wurde?

Gar keiner!

Nun, da werden denn von ihm, als einem praktischen Kopfe für das Leben, viele geistreiche Erfindungen in bezug auf Künste und andere bürgerliche Geschäfte berichtet, wie dies wiederum in dieser Beziehung von Thales aus Milet und von dem Skythen Anacharsis geschieht?

Keineswegs so etwas!

Nun denn, wenn demnach Homer kein Held im Kriegs- und Staatsleben war, so wird doch vielleicht von ihm erzählt, daß er im Privatleben das Haupt einer geistigen Bildungsschule bei Lebzeiten für einige war, die ihm wegen seines lehrreichen Umganges anhingen und dann an ihre Nachfolger eine gewisse homerische Lebensregel fortpflanzten, wie z.B. Pythagoras schon zu seiner eigenen Lebzeit aus diesem Grunde einen ausgezeichneten Anhang hatte und auch jetzt noch seine Nachfolger durch ihre pythagoreische Lebensregel, wie sie sie nennen, als ausgezeichnet unter den übrigen gelten?

Auch von der Art, sagte er, wird nichts berichtet; denn der Kreophylos (›Fleischmann‹), o Sokrates, der Jünger Homers, muß gewiß in Ansehung seiner geistigen Bildung noch lächerlicher gewesen sein als hinsichtlich seines Namens, wenn die[374] Berichte über Homer wahr sind. Es wird nämlich berichtet, daß er zu seiner eigenen Lebenszeit auf das veranlassende Beispiel eben jenes seines Jüngers einen sehr geringen Anhang hatte.

Ja, sprach ich, berichtet wird das freilich; aber, mein lieber Glaukon, wenn Homer wirklich imstande gewesen wäre, Menschen geistig zu bilden und moralisch besser zu machen, als ein Mann, der in dieser Beziehung nicht nur Nachbildungen zu liefern, sondern mit praktischem Verstande zu verfahren verstand, – müßte er da nicht wohl sich viele Anhänger verschafft haben, und müßte er nicht von ihnen sehr geehrt und geschätzt worden sein? Können ja doch ein Protagoras von Abdera, ein Prodikos von Keos und andre dergleichen mehr durch den Unterricht ihres Privatumganges ihre Zeitgenossen in den Glauben versetzen, daß sie weder ihr Haus noch ihren Staat zu verwalten imstande sein würden, wenn nicht diese ihre Lehrmeister wären, und wegen dieser ihrer praktischen Weisheit sind sie so beliebt, daß ihre Anhänger sie fast auf den Händen herumtragen! Und da sollen nun einen Homer, als Förderer geistiger Tüchtigkeit unter seinen Mitmenschen, oder einen Hesiod die Zeitgenossen haben herumziehen und bänkelsängern lassen! Ja, würden sie nicht mehr an ihnen als an dem Geldbeutel gehängt und sie eingeladen haben, bei ihnen im Hause zu wohnen, und würden sie nicht, falls die Einladung fruchtlos geblieben wäre, selbst ihrem Unterrichte auf allen ihren Wegen nachgezogen sein, bis sie genügend Bildung empfangen hätten?

Ja, sagte er, lieber Sokrates, du scheinst mir durch aus recht zu haben.

Wir dürfen also als ausgemacht annehmen, daß alle Künstler in der Nachahmungspoesie, von Homer an gerechnet, in bezug auf geistige Tüchtigkeit und die anderen Gegenstände ihrer Darstellung nur nachahmende Schattenbildkünstler sind und die eigentliche Wahrheit nicht erfassen; sondern, um in dem Beispiel von vorhin fortzufahren, der Maler stellt einen Schuhmacher nur zum Scheine hin, ohne daß er selbst etwas von der Schuhmacherei versteht noch die Leute, für die er ihn darstellt, indem diese nur nach den Farben und Umrissen gucken, nicht wahr?[375]

Ja, allerdings.

Und ebenso dürfen wir natürlich auch von dem dramatisch darstellenden Dichter sagen, daß er gleichsam auch nur Farben von dieser und jener Kunst und Wissenschaft in Floskeln und Phrasen auftrage, ohne selbst davon etwas gründlich zu verstehen als eben das Nachahmen, so daß es dann anderen ebenso unverständigen Menschen, die nur den Glanz der Phrasen begaffen, eine ganz gediegene Darstellung zu sein scheint, mag es sich nun um Schuhmacherei oder Feldherrnkunst oder um jede beliebige andere Sache handeln, wenn es nur in Versen sowie in musikalischer Takt- und Tonart geschieht: so groß sei der Zauber, den eben diese musikalische Begleitung von Natur ausübe! Denn entblößt von dem Farbenglanz des musikalischen Zaubers und rein nach dem bloßen Texte vorgetragen, weißt du, glaube ich, selbst, wie die Erzeugnisse der dramatisch darstellenden Dichter erscheinen; denn du hast es wohl beobachtet!

Ja, sagte er.

Nicht wahr, fuhr ich fort, sie sehen dann aus wie die Gesichter jugendlicher, aber nicht schöner Menschen, wenn sie die Jugendblüte verlieren?

Ein ganz richtiger Vergleich, sagte er.

Komm mit mir jetzt zu einer weiteren Betrachtung: Das ein Schattenbild äußerlich darstellende Kunstgenie, der Nachahmer, versteht nach unserem ausgemachten Satze gar nichts vom Wesenhaften, sondern nur etwas vom Scheine, nicht so?

Ja.

Aber wir dürfen diesen Satz nicht zur Hälfte ausgeführt lassen, sondern wollen ihn gründlich untersuchen.

Sprich nur! sagte er.

Ein Maler, denken wir, malt sowohl Zaum wie Gebiß?

Ja.

Es fabriziert sie aber der Sattler und der Schmied?

Jawohl!

Versteht denn nun auch der Maler, welche Eigenschaften der Zaum und das Gebiß haben müssen? Oder versteht das nicht einmal der, welcher sie fabriziert, der Schmied und der Sattler, sondern nur jener allein, der sie braucht: der Reiter?

Sehr richtig.[376]

Wird's nun nicht überhaupt so in allen Dingen sein?

Wie?

Daß es überhaupt bei jedem Dinge drei Wissenschaften gibt: die des Gebrauches, die der Herstellung, die der Nachahmung?

Ja.

Nicht wahr, Tüchtigkeit, Schönheit, Richtigkeit eines jeden Gerätes, lebenden Wesens, Handelns bezieht sich auf sonst nichts anderes als auf den Gebrauch, wofür ein jedes bestimmt ist, rühre diese Bestimmung nun von Menschen oder von der Natur her?

Ja, so ist's.

Mit großer Notwendigkeit folgt also daraus, daß der Gebrauchende von jedem Gegenstand auch der Erfahrenste sein und dem Hersteller berichten muß, welche Exemplare er von dem Gegenstand, den er gebraucht, gut oder schlecht mit bezug auf den Gebrauch macht; so berichtet z.B. der Flötenspieler dem Flötenmacher, welche Flöten im Spielen taugen, und gibt ihm auf, wie er sie machen soll, und dieser befolgt seine Vorschriften.

Ja.

Nicht wahr, der erstere berichtet als ein Wissender über gute und schlechte Flöten, während letzterer nur als ein Glaubender die Verfertigung bewerkstelligt?

Ja.

Von einem und demselben Instrumente wird also in bezug auf Brauchbarkeit und Unbrauchbarkeit der Herstellende davon nur darum den rechten Glauben haben, weil ihm der Wissende zur Seite steht und er notgedrungen auf den Wissenden hören muß; dagegen der davon Gebrauch machende Künstler hat die Wissenschaft.

Jawohl.

Der Nachahmer (der Maler) dagegen, – hat der aus dem Gebrauche eine Wissenschaft bezüglich der von ihm gemalten Dinge, ob sie schön und richtig oder es nicht sind, oder hat er einen richtigen Glauben infolge der notwendigen Verbindung mit dem Wissenden und der Angabe, wie er die Dinge machen soll?

Keines von beiden.[377]

Der Nachahmer hat also in den Dingen, welche er nachahmt, in bezug auf Güte und Schlechtigkeit weder ein Wissen noch einen richtigen Glauben.

Hiernach nicht, wie es scheint.

Ein großer Gelehrter wäre da der in der Poesie sich mit nachahmender Darstellung befassende Künstler in bezug auf die Wissenschaft dessen, worüber er dichtet?

Nein, kein sonderlicher!

Aber dessenungeachtet wird er doch seine Nachahmung forttreiben, ohne bei dem einzelnen Dinge zu wissen, inwiefern es unbrauchbar oder brauchbar ist; sondern er wird nur das nachahmen, was dem großen und ebenfalls auch keine Wissenschaft davon besitzenden Haufen schön zu sein scheint.

Nichts anderes.

Darüber nun sind wir uns, sollte ich doch meinen, hinlänglich einig, daß erstlich das Nachahmungsgenie gar kein ordentliches Wissen besitzt von dem, was es nachahmt, sondern daß die nachahmende Kunst nur eine Spielerei und keine ernstliche Beschäftigung ist; daß zweitens die, welche sich mit dramatisch darstellender Poesie, sei es in theatralischen Iamben oder epischen Hexametern befassen, Nachahmer im höchsten Grade sind.

Allerdings.

Wohlan denn, bei Zeus! fuhr ich fort. In bezug auf diese Nachahmung ist bereits bewiesen, daß sie mit einem im dritten Grade von der Wahrheit entfernten Objekte sich beschäftigt, nicht wahr?

Ja.

Daran knüpft sich nun die weitere Frage: Auf welches der menschlichen Seelenvermögen ist sie mit der ihr eigenen Wirkungskraft offenbar gerichtet?

Was ist denn das für ein Vermögen, wovon du hier redest?

Folgendes: eine und dieselbe Größe, in der Nähe und der Ferne durch das Gesicht wahrgenommen, erscheint uns wohl nicht gleich?

Nein.

So erscheinen uns dieselben körperlichen Gegenstände krumm und gerade, je nachdem wir sie in oder außer dem Wasser schauen, ferner dieselben gezeichneten Gegenstände bekanntlich[378] hohl und erhaben gleichfalls infolge einer bei den Farben statthabenden Täuschung des Gesichtssinnes, und so hat überhaupt eine jede sinnliche Verblendung der Art offenbar ihren Grund in unserer Seele: dieser schwache Teil unserer Natur ist es nun, auf den die Zeichen- und Malerkunst, die Gaukelkunst und die vielen übrigen Taschenspielereien ähnlicher Art es anlegen und kein Blendmittel unversucht lassen.

Ja, richtig.

Erscheinen nun nicht das Messen, Rechnen und Wägen gegen jene Sinnentäuschungen als die geeignetsten Hilfsmittel, infolge welcher nicht der Eindruck der sinnlichen Erscheinung vom Größeren oder Kleineren oder Mehreren oder Gewichtigeren in uns das Urteil regiert, sondern ein Vermögen, das jene sinnlichen Erscheinungen vorher objektiv zu berechnen, zu messen und zu wägen verstand?

Jawohl!

Aber dies ist doch nun das Geschäft des rechnen den Verstandes und Vernunftvermögens in unserer Seele?

Ja, freilich ist es das Geschäft nur dieses vernünftigen Seelenvermögens.

Wenn dieses Seelenvermögen des Verstandes aber die sinnlichen Eindrücke mit seinem Maßstabe prüft und dann findet, daß diese oder jene Dinge größer oder kleiner sind als diese oder jene (die die Sinne als gleich darstellten), oder auch daß Dinge gleich sind (die jene als verschieden ansehen), so kommen ihm oftmals über dieselben Gegenstände zugleich mit den Sinnenwahrnehmungen ganz widersprechende Resultate heraus.

Ja.

Nicht wahr, nach unseren obigen Grundsätzen ist es aber unmöglich, daß ein und dasselbe Subjekt über dieselben Objekte entgegengesetzte Vorstellungen hat?

Und diese Grundsätze waren richtig!

Das ohne den Maßstab logischer Prüfung Vorstellungen gewinnende Seelenvermögen ist also nicht identisch mit dem, das mit dem logischen Maßstabe solche Vorstellungen gewinnt.

Gewiß nicht.

Da ist aber nun doch das dem Messen und Berechnenden Vorzug gebende Seelenvermögen das edelste?[379]

Allerdings.

Somit gehört das mit diesem in Widerspruch stehende zu den niedrigen Vermögen in unserer Seele.

Notwendig.

Das war es also, was ich vorhin als Behauptung aufstellte und durch die Erörterung mit dir zur evidenten Wahrheit bringen wollte, daß nämlich die Malerei und überhaupt die mit Nachahmung sich abgebende Kunst nicht nur weit von der Wahrheit entfernt ihr Wesen treibt, sondern auch nur mit einem gleichfalls von höherer Geistestätigkeit entfernten Vermögen in uns Verkehr hat, mit ihm buhlt und liebelt zu einem Endzwecke, der durchaus kein solider, kein wahrer ist.

Ganz recht, sagte er.

Als etwas Schlechtes galtet also die Nachahmungskunst sich mit dem Schlechten unserer Seele und muß demnach auch nur schlechte Folgen erzeugen.

Ja, offenbar.

Tut dies, fuhr ich fort, bloß die auf den Gesichtssinn sich beziehende Nachahmungskunst oder auch die auf das Gehör sich beziehende, die wir bekanntlich Poesie nennen?

Wahrscheinlich, sagte er, tut's auch diese.

Laß uns jedoch, sprach ich weiter, nicht bloß einem von der Malerei hergeleiteten Wahrscheinlichkeitsschlusse unseren Glauben schenken, sondern laß uns nun auch behufs eines weiteren Beweises direkt zu eben dem Seelenvermögen treten, mit dem das Nachahmungsgenie in der Poesie seinen Verkehr hat, und laß uns einen eigenen Augenschein nehmen, ob es schlecht oder edel ist.

Ja, das müssen wir.

Laß uns dabei denn auf folgende Weise zu Werke gehen: Die Nachahmungspoesie ahmt, denken wir, Menschen nach, die gezwungene oder freiwillige Handlungen verrichten, die durch ihr Handeln entweder glücklich oder unglücklich geworden zu sein meinen, und die bei allen diesen Handlungen denn entweder traurig oder lustig sind; oder sollte es außer diesen zwei Zuständen noch irgend einen anderen geben?

Nein.

Bleibt nun ein Mensch in allen diesen Lagen in einer harmonischen Seelenverfassung? Oder wird er nicht hier bei den[380] Handlungen ebenso uneinig mit sich und kommt er dabei nicht mit sich selbst in einen Kampf, wie er hinsichtlich des Gesichtssinnes mit sich uneinig wurde und entgegengesetzte Vorstellungen zugleich über dieselben Gegenstände in seinem Inneren erhielt? Doch ich erinnere mich, wir brauchen diesen Satz wenigstens jetzt gar nicht mehr mit einander festzustellen; denn in unseren früheren Unterredungen haben wir uns über alles dieses geeinigt, daß unsere Seele zu gleicher Zeit voll tausend solcher Widersprüche ist.

Ja, richtig, sagte er.

Ja, sagte ich, freilich ist dieser Satz richtig; aber die Erörterung dessen, den wir damals übergangen haben, müssen wir jetzt noch notwendigerweise nachholen.

Was für ein Satz ist denn dies? fragte er.

Daß ein vernünftiger Mann, antwortete ich, der z.B. so ein Unglück habe, daß er einen Sohn oder sonst etwas sehr Teueres verlöre, dies bei weitem leichter als die übrigen Leute ertragen werde, – diesen Satz stellten wir schon früher auf.

Ganz recht.

Hierzu müssen wir aber nun noch den Satz erwägen: ob es ihn nämlich gar nicht schmerzen wird, oder ob dies zwar unmöglich wäre, aber er den Schmerz doch einigermaßen bemeistern könne?

Das letztere, sagte er, wird wohl eher das Richtige sein.

So antworte mir jetzt zur nunmehrigen Erörterung jenes Satzes auf folgende Fragen: Wenn er von seinesgleichen gesehen werden kann, wird er da wohl den Schmerz eher bekämpfen und bemeistern, als wenn er in einer Einöde allein für sich ist?

Viel eher, erwiderte er, wenn er gesehen wird.

Ja, in der Einsamkeit wird er, denke ich, kein Bedenken tragen, manche Klagelaute fahren zu lassen, worüber er sich schämen würde, wenn sie jemand hörte, und er wird auch manche Handlungen sich erlauben, bei welchen einen Zuschauer zu haben ihm nicht lieb wäre.

Ja, so ist's, sagte er.

Nicht wahr, was einerseits zum Widerstande ermahnt, ist Vernunft und Sitte, was aber zu Wehklagen zieht, ist eben der für den Schmerz empfindliche schwache Teil unserer Seele?

Richtig.[381]

Wenn aber in dem Menschen über denselben Gegenstand ein Zug nach entgegengesetzten Richtungen entsteht, so müssen wohl notwendig zwei Kräfte zugleich in ihm tätig sein.

Allerdings.

Nicht wahr, die eine ist bereit, der vernünftigen Sitte zu folgen, wohin die Sitte ihr Anleitung gibt?

Welche Anleitung denn?

Es lehrt die Sitte wohl, es sei am schönsten, bei Unglücksfallen möglichst ruhig sich zu verhalten und nicht dem Ausbruche seines Schmerzes sich zu überlassen: denn man könne ja erstlich nicht wissen, ob ein Gut oder ein Übel mit dergleichen Zufällen verbunden sei: zweitens komme einem etwas Ersprießliches dabei für die Zukunft nicht heraus, wenn man sie ungeduldig ertrage: drittens sei keiner der menschlichen Verluste eines so großen Aufhebens wert; viertens sei das ewige Ach und Weh dem Geistesvermögen hinderlich, was in jenen menschlichen Zufällen augenblicklich zur Hand sein muß.

Welchem Geistesvermögen denn hinderlich nach deiner Meinung? fragte er.

Dem Vermögen, antwortete ich, bei einem geschehenen Unfall mit sich vernünftig zu Rate zu gehen und wie bei einem Würfelwurf nach dem, was liegt, seine Maßregeln zu treffen, wie der vernünftig berechnende Verstand nach den obwaltenden Verhältnissen es für das beste hält, statt wie Knaben nach dem Falle die wunde Stelle mit der Hand zu halten und immerfort zu schreien; im Gegenteil soll man die Seele immer gewöhnen, sobald als möglich an das Heilen und Wiedergutmachen des Falles und der Wunde zu gehen, und man soll durch die Heilkunde die Klagelieder beschwichtigen.

Ja, sagte er, das wäre gewiß die richtigste Art, mit welcher jemand den Unglücksfällen begegnen könnte.

Wir räumen also damit ein, daß der beste Teil in uns dem logisch prüfenden Vernunftvermögen gerne folgt.

Offenbar natürlich.

Der andere Teil dagegen, der zu den Erinnerungen an den Schmerz und zum Wehgeklage hinzieht und darin unersättlich ist, – nicht wahr, den werden wir für unvernünftig, für tat- und ratlos erklären dürfen?

Ja, das dürfen wir.[382]

Der ungeduldig sich gebärdende Teil der Seele liefert nun bekanntlich Stoff zu vieler und mancherlei Nachahmung; dagegen die verständig überlegende und ruhige Sinnesart ist, weil sie sich immer gleichbleibt, weder leicht nachzuahmen noch durch Nachahmung leicht begreiflich, besonders für einen Volkshaufen und für eine bunte Menschenversammlung in Theatern; denn es wäre die Nachbildung eines ihnen ganz fremden Seelenzustandes.

Ja, ganz und gar.

Nun hat doch offenbar der für die Nachahmungspoesie geschickte Dichter zu einer solchen verständig ruhigen Gemütsart keine ursprünglich angeborene Anlagen, und seine Kunstgeschicklichkeit kann gar nicht das Ziel haben, derselben zu gefallen, wofern er den Beifall bei der großen Mehrzahl davontragen will; vielmehr hat er nur Anlagen für die zu kläglicher und ungeduldiger Gebärdung und zu vielfacher Änderung aufgelegte Sinnesart, weil diese leicht nachzuahmen ist.

Offenbar.

Nicht wahr, jetzt erst können wir dem poetischen Nachahmungsdichter mit vollständigem Grunde zu Leibe gehen und ihn als vollkommenes Seitenstück zum Maler hinstellen? Denn ihm ja ist jener Dichter ganz ähnlich erstlich dadurch, daß er im Vergleich mit der eigentlichen Wahrheit nur schlechte Scheiner zeugnisse hervorbringt; zweitens ist er ihm such insofern ganz gleich dadurch, daß er nur mit einem gleichfalls schlechten Seelenvermögen in uns verkehrt und nicht mit dem besten. Und so dürften wir denn nun aus vollkommenen Rechtsgründen ihn nicht in einen Staat aufnehmen, der eine vollkommene Verfassung hat und behalten soll, weil er das niedere Seelenvermögen weckt, nährt und durch dessen Großfütterung das edle vernünftige verdirbt, geradeso wie wenn einer in einem Staate die gemeinen schlechten Kerle zu Machthabern machte, ihren Händen den Staat überlieferte und die feingesitteteren Edlen zugrunde richtete; auf gleiche Weise dürfen wir von dem poetischen Nachahmungsgenie behaupten, daß es in der Seele jedes individuellen Menschen eine schlechte Verfassung einführt, indem es dem unvernünftigen Teile derselben, der z.B. weder das Größere noch das Kleinere gründlich unterscheidet, sondern dieselben Objekte bald[383] für groß, bald für klein ausgibt, dadurch verführerisch zu Willen ist, daß es von ohnehin unwesenhaften Bildern nur hohle Schattenbilder fabriziert, die von der eigentlichen wahren Wesenheit ganz weit entfernt sind.

Allerdings.

Des allergrößten Übels jedoch haben wir die Nachahmungspoesie noch nicht angeklagt: Daß sie nämlich sogar auch die anständigen Freunde der Ordnung und Vernunft, mit Ausnahme einiger ganz wenigen, zu verderben imstande ist, das ist das allerschrecklichste Unheil.

Das müßte wohl sein, wenn anders sie solches verübt.

Höre nur und hilf mir jenen Satz beweisen: Wenn die Besten von uns den Homer oder einen anderen Dramatiker hören, wie er irgend einen trauernden und unter Wehgeklage eine lange Tirade hersagenden Helden nachahmend darstellt, oder wie er Helden eine Jammermusik machen und die Brust sich zerschlagen läßt, – so weißt du ja wohl, daß wir daran unsere Freude haben, daß wir mit gänzlicher Hingebung ihnen mit unserem Mitgefühl folgen, daß wir ganz ernstlich denjenigen als einen guten Dichter loben, der uns am stärksten in solchen Gemütszustand versetzen kann.

Ja, das weiß ich allerdings.

Wenn aber einem von uns ein eigenes Herzensleid zustößt, so sieht dein Verstand auch wiederum ein, daß wir in das Gegenteil unsere Ehre setzen, darin nämlich, ruhig und standhaft sein zu können, überzeugt, daß dies das Zeichen eines Mannes, jenes aber, dem wir vormals unseren Beifall zollten, das Zeichen eines Weibes ist.

Ja, sagte er, das sehe ich ein.

Kann nun, fuhr ich fort, ein solches Beifallklatschen einem Ehre machen, wenn man beim Anblicke eines Helden in solchem Zustande, den man unter seiner eigenen sittlichen Würde hält und dessen man sich schämen würde, statt des Abscheues Freude und Lobsprüche äußert!

Nein, wirklich, sagte er, solches Beifallklatschen kann ich nicht für vernünftig halten.

Wahrlich nicht, sprach ich, zumal wenn du die Sache von einer weiteren Seite betrachten wolltest!

Von welcher denn?[384]

Wenn du beherzigen wolltest, daß der niedere Teil unserer Seele, der früher mit Gewalt niedergehalten wurde und einen Heißhunger hatte, sich einmal recht satt zu weinen, satt zu heulen und dran zu laben, weil er seiner natürlichen Beschaffenheit wegen hiernach verlangen muß, – daß er es dann gerade ist, der von den erwähnten Dichtern seinen Hunger und seine Lust gestillt bekommt; ferner daß, während der edelste Teil in uns, aus Mangel an hinlänglicher geistiger Bildung, auch aus Mangel an Erziehung, dann in seiner Obhut über jenen klagsüchtigen Teil nicht so strenge ist, weil dieser ja doch nur an fremden Leidensgeschichten seinen Blick weide und es ihm selbst keine Unehre bringe, einem anderen, seiner Äußerung nach braven Manne, wenn er auch unangemessen trauert, seinen Beifall und sein Mitleid zu schenken; ja, daß der vernünftige Seelenteil daraus gar einen Gewinn zu ziehen glaubt, nämlich das dort entstehende Vergnügen, auf das er durch Verachtung all der Dichterei überhaupt nicht gern verzichten würde. Denn nur wenige, denke ich, haben die Gabe der vernünftigen Überlegung, daß man dabei nach einem unwandelbaren psychologischen Gesetze von den fremden tragischen Leiden mancherlei für seine eigenen profitiert: hat man nämlich durch das Schauen jener fremden tragischen Fälle den Jammerseelenteil großgefüttert, so ist es dann gar nicht leicht, diesen bei eigenen tragischen Fällen im Zaume zu halten.

Ja, ganz richtig, sagte er.

Gilt nicht dieselbe Überlegung auch vom Komischen? Falls du nämlich an Schwanken und Spaßen, die selbst zu machen du dich schämen würdest, eine gewaltige Freude hättest und sie nicht als Schlechtigkeiten verabscheutest, wenn du sie bei einer komisch nachahmenden Darstellung auf der öffentlichen Bühne oder auch im Privatkreise anhörtest, – da verübst du dieselbe Sünde an deiner Seele wie bei den tragischen Jammerszenen: Dem niederen Seelenvermögen nämlich, welches bei seiner Lust zu Spaßmacherei du auch in dieser Beziehung durch die Vernunft, aus Furcht vor dem Rufe eines Hanswurstes, in deiner Brust niederhieltest, läßt du dann wiederum die Zügel schießen; und hast du es dort, ohne es gewahr zu werden, bis zur bübischen Ausgelassenheit herangefüttert, so läßt du dich oftmals von ihm in den eigenen Kreisen über die[385] sittlichen Grenzen hinausreißen, so daß du ein ganzer Komödiant wirst.

Ja, sicher, sagte er.

Und wird nicht auch von dem Geschlechtstriebe, von der Zornmütigkeit, überhaupt von allen den begierlichen Regungen sowohl wie von Empfindungen von Unlust und Lust in der Seele, die bekanntlich nach unserer Lehre bei jeder Handlung folgen, selbstverständlich gelten, daß die Nachahmungspoesie ähnliche nachteilige Folgen in uns hervorbringt? Denn sie füttert und tränkt diese Triebe, statt daß sie absterben sollen; sie macht sie zu unseren Gebietern, statt daß sie beherrscht werden sollen, auf daß wir besser und glücklicher statt schlechter und unglücklicher werden.

Ich kann hiergegen nichts einwenden, erwiderte er.

Wenn du daher, mein lieber Glaukon, fuhr ich fort, wiederum auf Lobpreiser Homers triffst, die da behaupten, daß dieser Dichter Griechenland gebildet, daß in bezug auf Staats- und Kriegsregiment sowie auf Unterrichtung der Menschheit man ihn in die Hand nehmen und studieren müsse, daß man nach diesem Dichter sein ganzes Leben einrichten und führen müsse, – so mußt du ihnen zwar in Liebe und Freundlichkeit begegnen, als Leuten, die so gut sind, als sie sein können, mußt auch zugeben, daß Homer der größte Dichter und der Fürst der Dramatiker ist: darfst dabei aber nicht vergessen, daß von Dichtkunst einzig nur Hymnen auf die Götter und Lobgesänge auf die tüchtigen Männer in unseren Staat aufgenommen werden dürfen. Wenn du dagegen jene sentimentale Poesie, sei es in dramatischen Chören oder in epischen Gesängen, aufnimmst, so wird nur die Empfindung von Lust und Unlust in dem Staate das Szepter führen, statt des herkömmlichen Gesetzes und statt dessen, was allgemein zu allen Zeiten als das Beste gegolten hat: statt der Vernunft!

Ja, sagte er, sehr wahr!

So weit, sagte ich, unsere Rechtfertigung in betreff unserer abermaligen Erinnerung über die Nachahmungspoesie, daß wir sie früher wegen ihrer erwähnten heillosen Untugenden mit Fug und Recht aus dem Staate verbannten; denn das objektive Sittengesetz der Vernunft leitet unsere Überzeugung. Damit ihr jedoch nicht einfällt, dagegen uns Philosophen der[386] Härte und Inhumanität anzuschuldigen, wollen wir zu allem Überflusse dazu bemerken, daß schon von alters her ein gewisser Streit zwischen der wahren Wissenschaft und der Poesie besteht. Denn Beweise davon sind die Phrasen: Es bellt gegen seinen Herrn ein kläffender Hund; fernen ein Meister in den Windbeuteleien von Toren; ferner: das die Gottheit meisternde Volk der Philosophen; ferner: die fein grübelnden Hungerleider, und noch tausend andere zeugen von einer uralten Feindschaft beider. Dessenungeachtet soll von unserer Seite die Erklärung gegeben werden, daß wir die sentimentale und Nachahmungspoesie gern mit offenen Armen wieder aufnehmen wollen, wenn sie nur irgend einen vernünftigen Grund angeben könnte, weshalb sie in einem Staate von moralisch vollkommener Verfassung vorhanden sein müßte, denn wir kennen aus Erfahrung ihre entzückenden Reize; aber darum dürfen wir eine gewonnene wahre Überzeugung nicht verraten, denn es wäre eine Sünde und nicht zu verantworten. Nicht wahr, auch du, mein Lieber, bist ein Freund der Poesie, besonders wenn sie dir in der Person des Homer erscheint?

Ja, sehr.

Ihr ist also das Recht eingeräumt, aus der Verbannung wieder zurückzukehren, wenn sie sich gründlich verteidigen können wird, sei es in einem Lied oder in einer anderen Versart?

Jawohl.

Und dazu wollen wir auch ihren Schutzherren, sofern sie nicht selbst Dichtergenien sein wollen, sondern nur Dichterfreunde, die außerordentliche Erlaubnis geben, für sie eine Verteidigungsrede, aber in verständiger Prosa, über das Thema zu halten, wie sie nicht bloß eine Lust, sondern auch ein Vorteil und nützlich für Staatsverfassungen und das menschliche Privatleben wäre. Denn unserem Staate ja käme der Gewinn zugute, wenn sich herausstellen sollte, daß sie nicht bloß eine Lust, sondern auch nützlich zu sein scheint.

Ja, sagte er, allerdings wäre der Gewinn auf unserer Seite.

Wenn sich dieser aber nicht herausstellt, dann müssen wir es, mein lieber Freund, machen wie die, die einmal in jemanden verliebt waren; Wie diese nämlich, wenn sie zur Einsicht kommen, daß die Liebe nichts taugt, zwar mit Gewalt, aber dennoch sich von ihr losreißen, so wollen auch wir, weil uns[387] denn von der in gebildeten Staaten üblichen Erziehungsweise eine Liebe für die Poesie der vorhin beschriebenen Art eingepflanzt ist, ihr zwar wohlwollend Gelegenheit geben, sich als eine Kunst vom edelsten und wahrsten Gehalte zu erweisen; solange sie aber nicht imstande ist, sich gegen die von uns vorgebrachten Gründe völlig zu rechtfertigen, so werden wir sie nicht anders hören, als indem wir mit dem Resultate der hier angestellten Untersuchung und mit dieser Art von Bannspruch uns unverwundbar gegen sie machen und uns also wohl in acht nehmen, nicht wieder in jene jugendlich leichtsinnige und nur dem ungebildeten Volke eigene Liebe zu verfallen. Aus jenem Resultate entnehmen wir aber nun, daß man auf die Poesie der beschriebenen Art als einen Gegenstand von wahrer Wesenheit und von wirklichem Gehalte sich nicht verlegen soll, daß vielmehr der Zuhörer, der um die moralische Verfassung seines Inneren gewissenhaft besorgt ist, sich vor ihr wohl in acht nehmen muß und alle Grundsätze unverbrüchlich festzuhalten hat, die wir über Poesie hier erörtert haben.

Ja, sagte er, ich stimme dir ganz bei.

Ja, viel, mein lieber Glaukon, sagte ich, viel steht auf dem Spiele, viel mehr, als du glauben kannst, ob einer sittlich gut oder schlecht ist, so daß er sich weder durch Ehre noch durch Geld noch selbst durch ein Königtum, geschweige denn durch Poesie hinreißen lassen darf, die Gerechtigkeit und den übrigen Adel der Seele zu vernachlässigen!

Ja, sagte er, ich stimme dieser deiner Ansicht infolge unserer bisher dargestellten Gründe bei, und es tut's auch wohl jeder andere.

Und doch, fuhr ich fort, haben wir die größten Belohnungen und ausgesetzten Preise der Tugend noch nicht dargestellt!

Eine ungeheure Größe, sagte er, denkst du da, wenn es sonst noch größere gibt als die bereits von uns besprochenen!

Aber was, fragte ich, könnte in einer so kleinen Lebenszeit sonderlich Großes einem zuteil werden? Denn diese ganze Zeit von der Wiege bis zum hohen Greisenalter ist, mit der Ewigkeit verglichen, nur eine Spanne lang.

Ja, antwortete er, freilich gar nichts.

Was sagst du nun zu folgendem? Ein unsterbliches Wesen, soll[388] das wohl für eine solche Spanne Zeit oder für die Ewigkeit gerungen haben?

Ich wenigstens, sagte er, glaube wohl letzteres; aber was willst du mit diesem allgemeinen Satze sagen?

Weißt du denn nicht, fragte ich weiter, daß unsere Seele unsterblich ist und in Ewigkeit nicht vergeht?

Auf diese Frage antwortete er, mich mit sich verwunderndem Blicke anschauend: Wahrhaftig, ich weiß es noch nicht, – und du? Kannst du denn den Beweis davon liefern?

Wenn ich mir nicht zu viel zutraue, sagte ich; aber ich glaube, auch du kannst ihn liefern; denn er ist gar nicht schwer.

Für mich doch, sagte er; drum möchte ich gar zu gerne jenes »gar nicht Schwere« von dir hören.

Du sollst es hören, sprach ich.

So sprich nur! sagte er.

Du nennst doch, fuhr ich fort, etwas gut und etwas schlecht?

Allerdings.

Hast du denn nun auch die Ansicht darüber, die ich habe?

Welche denn?

Daß zerstörend und verderbend alles Übel, daß da gegen erhaltend und wohltuend das Gute ist.

Ja, sagte er, ich habe diese Ansicht.

Weiter: Nimmst du auch folgenden Satz an? Ein Übel gibt's für jedes Ding sowie auch ein Gut: so z.B. ist das Übel für Augen Augenweh, im allgemeinen für jeden organischen Körper Krankheit, für Getreide Brand, für Gehölz Fäulnis, für Eisen und Erz Rost, und so gibt's, wie gesagt, fast für alle Dinge ein ursprünglich eigenes Übel und Leiden.

O ja, sagte er, den Satz nehme ich an.

Nicht wahr, wenn ein Übel der Art einem Dinge sich ansetzt, so macht es das, woran es sich ansetzte, nicht nur schadhaft, sondern bewirkt auch endlich dessen gänzliche Auflösung und Vernichtung?

Allerdings.

Entweder das einem jeden Dinge ursprünglich eigene Übel und Schädliche vernichtet es, oder wenn dies es nicht vernichtet, so kann sonst nichts anderes in der Welt es verderben. Denn einen dritten Fall gibt es nicht: es kann ja weder das (erhaltende) Gute es vernichten noch auch das, was weder gut noch übel ist.[389]

Unmöglich, sagte er.

Finden wir also eines der Wesen, wofür es zwar ein eigenes Übel gibt, das es schlecht macht, ohne es jedoch vernichtend aufzulösen, so haben wir da den wissenschaftlichen Beweis, daß es für ein Wesen solcher Natur keine Vernichtung gibt?

Ja, sagte er, in diesem Falle offenbar.

Nun, fuhr ich fort, die Anwendung dieser allgemeinen Wahrheiten auf die menschliche Seele! Nicht wahr, auch für sie gibt's ein Übel, das sie schlecht macht?

Ja, sicher, sagte er, zumal jene moralischen Übel, die wir vorhin namentlich durchgenommen haben: Ungerechtigkeit, sinnliche Ausschweifung, Feigherzigkeit, Vernachlässigung des wissenschaftlichen Unterrichtes und der Erziehung.

Kann nun eines dieser Übel die menschliche Seele auflösen und vernichten? Vor der Antwort auf diese Frage gib aber acht, daß wir uns nicht irreführen lassen durch die Einbildung, daß ein ungerechter und vernunftloser Mensch, wenn er durch Ertappung auf einer ungerechten Handlung den physischen Tod findet, durch die Ungerechtigkeit, als eine Schadhaftigkeit der Seele, zugrunde gehe; du mußt vielmehr deine Überlegung so anstellen: Den Körper reibt und zernichtet des Körpers Schadhaftigkeit, d.h. die Krankheit, und bringt ihn endlich dahin, daß er als Körper nicht mehr ist, und so werden überhaupt alle vorhin genannten Dinge von dem durch sein Anhaften und Einwohnen verderbenden Übel zum Nichtmehrsein gebracht; ist es nicht so?

Jawohl!

Wohlan, gib nur acht bei Anwendung desselben Satzes auf die Seele! Vermag auf dieselbe Weise eine in der Seele einwohnende Ungerechtigkeit oder ein anderer Seelenschaden durch sein bloßes Einwohnen und Anhaften sie zu verderben und ganz aufzuzehren, bis er sie endlich zum Tode und zur Trennung vom Körper bringt?

Nein, sagte er, das ist noch gar nicht auf irgend eine Weise erlebt worden!

Nun ist es aber, fuhr ich fort, nach den vorigen allgemeinen Sätzen ein logischer Widerspruch, daß die Schadhaftigkeit eines anderen fremden Dinges ein Etwas vernichten soll, wenn die eigene Schadhaftigkeit dieses Etwas nicht vernichten kann.[390]

Ja, ein logischer Widerspruch!

Ja freilich, Glaukon, sprach ich, denn du brauchst nur zu bedenken, daß wir ebenso z.B. auch nicht glauben, daß ein menschlicher Körper von der nur dem Getreide eigenen Schadhaftigkeit zugrunde gehen müsse, bestehe nun jene Schadhaftigkeit in Ungenießbarkeit infolge Alters oder Fäulnis oder dergleichen, – sondern wir denken vernünftigerweise dann so: Wenn die Schadhaftigkeit des Getreides dem Körper ein unheilbares Verderbnis beibringt, so gehe der Körper an einer durch jenes Getreide veranlaßten eigenen Schadhaftigkeit zugrunde, welche Krankheit heißt; daß aber von der Schadhaftigkeit des Getreides, als der eines anderen fremden Wesens, der davon verschiedene menschliche Körper jemals zerstört werde, also von einem fremden Übel, welches das eigene nicht in ihm hervorbringen konnte, – das werden wir niemals behaupten.

Ja, sagte er, ganz vernünftig wäre deine Überlegung!

Nach derselben Schlußweise, fuhr ich fort, dürfen wir, wenn des Körpers Schadhaftigkeit einer Seele keine Seelenschadhaftigkeit verursachen kann, uns auch nicht die Behauptung einfallen lassen, daß eine Seele von einem fremden Schaden außer ihr ohne das Dazukommen der ihr eigenen Schadhaftigkeit, d.h. daß ein ganz verschiedenes Wesen durch das Übel eines ganz von ihm verschiedenen Dinges vernichtet werde.

Ja, meinte er, logisch ganz richtig.

Wir müssen also die logische Unrichtigkeit dieser Schlußweise nachweisen, oder wir dürfen, solange sie unnachgewiesen bleibt, nicht behaupten, daß die Seele durch ein Fieber, überhaupt durch eine Krankheit, daß sie durch einen Schwertstreich, selbst wenn jemand den ganzen Körper in die kleinsten Atome zerschnitte, deshalb im geringsten vernichtet werde, bevor nicht einer nachgewiesen haben wird, daß durch diese körperlichen Leidenszustände sie selbst, die Seele, ungerechter und unheiliger werde; daß aber von einem in einem anderen Wesen vorhandenen fremden Übel, ohne daß das jedem Wesen eigentümliche Übel dareinkommt, eine Seele oder überhaupt ein anderes Wesen vernichtet werden könne, – diese Behauptung können wir logisch von niemandem zulassen.

Nun, sagte er, das wird doch niemand nachweisen wollen,[391] daß die Seelen der Sterbenden durch den Tod z.B. ungerechter werden!

Wenn jemand aber, sprach ich weiter, dennoch unserer Schlußweise keck ins Messer laufen und behaupten wollte, daß ein Mensch durch das Sterben ungerechter werde, um nämlich sich nicht gezwungen zu sehen, die Unsterblichkeit der Seelen einräumen zu müssen, – so werden wir, die Wahrheit jener Behauptung einmal als wahr angenommen, hierauf für erwiesen halten können, daß die Ungerechtigkeit für ihren Inhaber geradeso tödlich wie eine Krankheit sei, daß die von der Ungerechtigkeit Behafteten, je nach dem Grade ihrer Teilnahme, früher oder später, von nichts anderem den Tod erleiden als eben von der Ungerechtigkeit infolge ihrer natürlichen Tötungskraft, und daß nicht, wie bis auf diese Stunde, die Ungerechten von einer anderen, außer ihnen befindlichen Macht, von der der strafenden Gerechtigkeit, ihren Tod finden.

Wahrhaftig, versetzte er, nicht so ganz fürchterlich würde die Ungerechtigkeit erscheinen, wenn sie für den damit Behafteten tödlich sein würde; denn eine Befreiung von bösen Menschen würde sie in diesem Falle sein. Aber in der Wirklichkeit erscheint sie ganz als das Gegenteil: hier vernichtet sie, die Ungerechtigkeit, die andere Welt, wenn sie es vermag, und macht den damit Behafteten sehr lebenskräftig, und nicht bloß lebenskräftig, sondern auch wacker bei der Nacht; so weit ist die Ungerechtigkeit von der Gefahr entfernt, ihrem Inhaber tödlich zu sein!

Ganz richtig bemerkt, erwiderte ich; denn wenn die eigne Schadhaftigkeit und Schlechtigkeit nicht mächtig genug ist, die Seele zu vernichten, so wird offenbar schwerlich von einem zur Vernichtung eines anderen ganz verschiedenen Wesens bestimmten Übel eine Seele oder sonst etwas überhaupt vernichtet werden, mit Ausnahme des Wesens, zu dessen Untergang es ursprünglich bestimmt ist.

Jawohl, schwerlich, sagte er, wie sich offenbar aus dieser Schlußfolgerung ergibt.

Wenn sie also von gar keinem Übel in der Welt sich vernichten läßt, weder vom eigenen in sich noch von einem fremden außer sich, so folgt offenbar mit unbestreitbarer[392] Gewißheit, daß sie ein ewiges und, wenn ewiges, unsterbliches Wesen sein müsse.

Ja, sagte er, unbestreitbar.

So weit also dieser Beweis! fuhr ich fort. Hat er aber seine Richtigkeit, so siehst du ein, daß die Seelen auch an Zahl ebenso viele bleiben. Denn weder weniger können ihrer werden, wenn keine zugrunde geht, noch mehr. Wenn nämlich die unsterblichen Wesen irgend einer Art mehr werden könnten, so müßte der Zuwachs offenbar aus dem Bereiche des Sterblichen geschaffen werden, und so müßte zuletzt alles unsterblich sein.

Richtig bemerkt.

Aber, sprach ich weiter, an das wollen wir nicht glauben, weil es den allgemeinen Verstandesgesetzen widerstreitet, und wollen auch nicht glauben, daß die Seele, ihrem innersten Wesen nach betrachtet, so ein Ding sei, in dem nichts als eine große Buntscheckigkeit des Charakters, eine stündliche Veränderlichkeit und Inkonsequenz stecke.

Wie meinst du das? fragte er.

Es ist nicht wohl möglich, antwortete ich, daß etwas ewig ist, was mehrfache Bestandteile hat, ohne daß diese in der schönsten Harmonie zu einander stehen, wie sich es jetzt von der Seele herausgestellt hat.

Nein, aller Wahrscheinlichkeit nach nicht möglich.

Daß die Seele also ein unsterbliches Wesen ist, das beweisen unbestreitbar sowohl die hier eben als auch die sonst darüber geführten Untersuchungen; aber was ihr wirkliches Wesen im reinsten Lichte ist, das darf man nicht an ihr ersehen wollen nach ihrer Verunreinigung durch die Gemeinschaft mit dem Körper sowie durch andere verunstaltende Übel: ihr reines Wesen läßt sich vielmehr nur völlig durch das Auge des vernünftig forschenden Verstandes erschauen; und mit diesem Auge wird man ihr Wesen viel schöner erblicken, wird man Gerechtigkeiten und Ungerechtigkeiten, überhaupt alle vorhin erörterten Tugenden und Untugenden, klarer in die Augen springend finden. Die jetzt hier über ihr Wesen vorgetragenen Wahrheiten aber stehen im Verhältnisse zu dem Zustande, in dem sie gegenwärtig auf Erden sich zu erkennen gibt; wir haben sie jedoch nur in einem Zustande geschaut[393] wie die, welche den Meergott Glaukos sehen: Nicht leicht können diese nämlich seines ursprünglichen Wesens ansichtig werden, weil seine ursprünglichen Gliedmaßen teils zerschlagen, teils zerstoßen und von den Wellen auf allerlei Weise verunstaltet, teils auch, weil sie mit anderen, fremden Körpern, wie z.B. mit Muscheln, Seemoos und Gestein bewachsen sind, so daß er eher jedem Meerungeheuer gleicht als seiner ursprünglichen natürlichen Gestalt. Einen solchen von tausenderlei beschädigenden und verunstaltenden Übeln herbeigeführten Zustand bietet auch die Seele hier unserer Betrachtung dar; darum, mein Glaukon, muß man dahin die Blicke richten!

Wohin? fragte er.

Nach ihrer Wißbegierde, und hier beachte die Objekte ihres Verlangens und die Qualität ihres geistigen Verkehrs: dann nimm davon ab, wie sie mit dem Göttlichen, Unsterblichen und ewig Wesenhaften verwandt ist, und was sie erst werden könnte, wenn sie einmal jenem Göttlichen usw. mit ungeteilter Kraft folgt, wenn sie mittels solchen Schwunges aus der Meerestiefe, worin sie sich jetzt befindet, erhoben und das Gestein und Muschelwerk von sich abgestoßen hat, mit dem sie jetzt, weil sie sich nur mir Irdischem nährt, erdig und steinig ringsum bunt und wild bewachsen ist, und zwar infolge jener von der Welt als Glückseligkeit gepriesenen irdischen Genüsse. Und dann erst würde man ihr wahres ursprüngliches Wesen sehen können, ob sie vielgestaltig, ob sie eingestaltig, ob sie so oder so beschaffen ist. Für jetzt aber haben wir, denke ich wenigstens, ihre im irdischen Menschenleben sich zu erkennen gebenden Zustände und Formen gründlich genug dargestellt.

Ja, sagte er, allerdings.

Nicht wahr, sprach ich weiter, hier bei der Beantwortung unserer zweiten Hauptfrage haben wir uns überhaupt aller äußeren Rücksichten entledigt, insbesondere haben wir nicht die baren Belohnungen, nicht die äußeren Anerkennungen der Welt bei Gerechtigkeit in Anschlag gebracht, wie dies nach eurer Bemerkung Homer und Hesiod bei ihren Lobgesängen auf diese getan haben; sondern wir haben bei der Gerechtigkeit an und für sich, ohne alle Rücksicht auf Belohnung, gefunden, daß sie für den Hauptteil des Menschen, die Seele, das Beste sei, daß[394] sie gerecht handeln müsse, mag sie nun den Gygesring haben oder nicht, und zu solchem Ringe noch den Helm des Pluton dazu!

Sehr wahr bemerkt, sagte er.

Würde es denn also, fragte ich, mein lieber Glaukon, nunmehr ohne alle Besorgnis einer Verunglimpfung gegen die Gerechtigkeit und die übrige Geistestüchtigkeit geschehen können, daß man ihr zu jenen Vorteilen, die sie an sich hat, noch als Zulage die ganze Summe und Qualität aller jener baren Belohnungen wieder zustellte, die sie der Seele von seilen der Menschen wie der Götter nicht nur im Leben des Menschen hiernieden, sondern auch nach dessen Ende darbietet?

Ja, sagte er, allerdings können wir das.

Werdet ihr mir also die Tugendpreise jetzt wieder zurückgeben, die ihr während der Beantwortung der zwei Streitfragen über das Wesen und die absolute Vorzüglichkeit der Tugend euch als Vorsprung hattet geben lassen?

Was war denn das doch?

Ich habe euch dabei den Vorsprung gegeben, daß der Gerechte das Ansehen eines Ungerechten und der Ungerechte das Ansehen eines Gerechten haben solle. Denn ihr wäret der verständigen Ansicht, daß man, wenn auch diese Verhältnisse Göttern und Menschen nicht verborgen bleiben könnten, doch der streng wissenschaftlichen Untersuchung wegen diese vorläufige Annahme einräumen müsse, damit das reine Wesen der Gerechtigkeit, ohne Rücksicht auf Belohnung, im Vergleiche zum reinen Wesen der Ungerechtigkeit, ohne Rücksicht auf Strafe, sich endgültig beurteilen lasse; oder erinnerst du dich nicht mehr?

Es wäre von mir sehr unrecht, bemerkte er, wenn ich mich dessen nicht mehr erinnerte.

Nachdem nun diese endgültigen Urteile vorliegen, fuhr ich fort, so mache ich im Namen der Gerechtigkeit die Rückforderung, daß die wohltätigen Anerkennungen, die von selten der Götter und Menschen für sie wirklich statthaben, auch von uns als wirklich vorhanden zugegeben werden, damit sie auch jene Siegespreise davontrage, die sie von ihrem äußeren Ansehen erwirbt und unter ihre Anhänger verteilt, nachdem sie ausgemachterweise auch die von ihrem inneren reinen Sein und[395] Wesen entspringenden geistigen Güter verteilt und noch nicht diejenigen getäuscht hat, die sie im Geist und in der Wahrheit angeeignet haben.

Ja, sagte er, gerecht sind deine Forderungen.

Da werdet ihr mir nun, sprach ich, erstlich dies zurückgeben, daß der Gottheit gewiß nicht verborgen bleibt, welchen Charakter jeder von beiden hat?

Ja, sagte er, das wollen wir.

Bleiben sie aber nicht verborgen, so muß der eine Gott lieb, der andere Gott verhaßt sein, wie wir auch im Anfange einräumten.

Es ist so.

Werden wir hierauf hinsichtlich des von Gott geliebten Gerechten nicht weiter zugeben müssen, daß alle von Gottes Hand kommenden Schickungen ihm allemal als die möglichst besten zuteil werden, mit Ausnahme des Falles, daß ihm von einem früheren Vergehen eine nach der moralischen Weltordnung unabwendbare Büßung bevorstand?

Jawohl.

Es ist also bei dem gerechten Manne, wenn er in Armut, Krankheit oder in einem anderen scheinbaren Übel sich befindet, anzunehmen, daß ihm diese scheinbaren Übel endlich doch zu irgend einem Gut ausschlagen werden, in diesem Leben oder nach dem Tode. Denn offenbar wird von der Gottheit der nicht verlassen, wer sich eifrig bemühen will, gerecht zu werden und durch Übung der Tugend Gott ähnlich zu weiden, soweit es einem Menschen möglich ist.

Ja, sagte er, sicherlich wird ein solcher Mann Gottes von seinesgleichen nicht verlassen.

Nicht wahr, von dem Ungerechten müssen wir das Gegenteil von allem dem denken?

Ja, durchaus!

Dieses wären denn einmal die von Seiten der Gottheit dem Gerechten zukommenden äußeren Siegespreise.

Ja, das sind sie, meines Bedünkens wenigstens, sagte er.

Wie steht es nun, fuhr ich fort, zweitens mit denen von menschlicher Seite? Wenn man in dieser Beziehung das eigentlich wahre Verhältnis ausdrücken soll, spricht sich das nicht in folgendem Gleichrusse aus? Geht es nicht den Meistern in der[396] Ungerechtigkeit einerseits wie allen den Wettläufern, die in der Rennbahn hinunter gut laufen, herauf aber nicht? Zuerst bei ihrem Auslaufe geht es frisch und munter; aber am Ende werden sie ein Gegenstand des Spottgelächters, wenn sie die Ohren bis auf die Achseln hängen lassen und ohne Siegeskranz davoneilen; die wahren Laufkünstler dagegen gelangen an das bestimmte Ziel, empfangen ihre Siegespreise und werden bekränzt. Ist das nun nicht auch bei den Gerechten meist der Fall? Am Ende eines jeden Geschäftes, eines jeden menschlichen Verhältnisses sowie am Ende des Lebens gewinnen sie das Ansehen in den Augen der Welt und bekommen auch von Seiten der Menschen die Preise der Tugend.

Ja, das ist sicher meist der Fall.

Wirst du nun nichts dagegen haben, wenn ich von solchen Gerechten da behaupte, was du deinerseits von den Ungerechten behauptetest? Denn ich werde doch nun behaupten dürfen, daß die Gerechten, wenn sie älter geworden sind, in ihrem Staate die Ämter haben, wenn sie wollen, daß sie aus einer Familie heiraten, aus welcher sie wollen, daß sie ihre Töchter verehelichen, an wen sie wollen, und überhaupt alle äußeren Vorteile, die du von deinen Ungerechten behauptest, behaupte ich nun von meinen Gerechten. Und andererseits werde ich doch auch von Ungerechten sagen dürfen, daß die meisten von ihnen, wenn sie auch in den früheren Jahren unentlarvt bleiben sollten, am Ende ihrer Laufbahn erwischt und zuschanden werden; daß sie im späteren Alter im Elende leben; daß sie von Mitbürgern wie Fremdlingen bittere Mißhandlungen, Peitschenhiebe und alles andere erleiden, dessen Aufzählung nach deiner Aussage allerdings etwas plump lautet: alle diese Qualen denke auch von mir aufgezählt gehört zu haben, in der Überzeugung, daß sie den Ungerechten widerfahren; aber sieh zu, ob du nicht gegen diese meine Behauptung noch etwas einzuwenden hast!

Gar nichts, sagte er; denn deine Behauptungen sind gerecht.

Das wären also, fuhr ich fort, die äußeren Preise, Belohnungen und Geschenke, die dem Gerechten schon in diesem Leben auf Erden von Göttern und Menschen außer jenen inneren Gütern zuteil werden, die die Gerechtigkeit an sich schon gewährt.[397]

Ja, sagte er, herrliche und sichere Belohnungen!

Diese hier erwähnten Resultate, sprach ich weiter, sind nun doch nichts, weder an Menge noch an Größe, im Vergleich mit jenen, die beide (den Gerechten und den Ungerechten, Tilgend und Laster) nach dem Tode erwarten. Aber diese letzteren Folgen nach dem Tode muß man auch noch hören, damit jeder von beiden seine vollständige Auszahlung von dem erhält, was unsere Untersuchung ihm zu verkünden schuldig ist.

O rücke doch damit heraus! sagte er. Denn keine anderen Dinge in der Welt würde ich lieber hören!

Ich werde jedoch, sagte ich, keine Erzählung eines Freundes von Mären, wie Alkinoos einer war, sondern eines Mannes von Ehren berichten, von Er, dem Sohne des Armenios, eines Pamphyliers von Geburt. Dieser war einst in einer Kriegsschlacht gefallen, und als nach zehn Tagen die Leichname bereits verwest aufgehoben wurden, ward er noch unversehrt gefunden; nach Hause gebracht, lebte er im Augenblicke seiner Bestattung am zwölften Tage auf dem Scheiterhaufen wieder auf, und nach seinem Wiederaufleben erzählte er die Dinge, die er im Jenseits gesellen habe. Er sprach aber wie folgt: Nachdem seine Seele aus ihm gefahren, sei er mit vielen anderen gewandelt, und sie seien an einen wunderbaren Ort gekommen, wo in der Erde zwei nahe an einander stoßende Öffnungen gewesen seien, und am Himmel gleichfalls oberhalb zwei andere ihnen gegenüber. Zwischen diesen Öffnungen seien nun Richter gesessen: diese hätten allemal, nachdem sie ihren Urteilsspruch getan, den Gerechten befohlen, den Weg rechts und durch den Himmel zu wandern, nachdem sie ihnen zuvor vorn ein Zeichen von beurteilten Taten angehängt; die Ungerechten aber hätten sie nach der Öffnung zur linken Hand, und zwar nach unten (unter die Erde), verwiesen, und auch diese hätten ihre Zeichen, aber hinten, anhängen gehabt über alles das, was sie verübt hätten. Als nun auch er vorgekommen sei, hätten sie ihm bekannt gemacht, er müsse den Menschen ein Verkündiger des Jenseits werden, und sie hätten ihn aufgefordert, alles an diesem Orte zu hören und zu schauen. Da habe er denn nun gesehen, wie nach der einen Öffnung in dem Himmel (rechter Hand) und nach der andern in der Erde[398] (linker Hand) die Seelen abgegangen seien, nachdem sie jedesmal ihren Urteilsspruch vernommen hätten; aus den beiden anderen neben jenen beiden seien aus der in der Erde Seelen hervorgekommen voll Schmutz und Staub, aus der im Himmel dagegen seien andere, von jenen verschiedene, reine Seelen herabgestiegen. Und die jedesmal ankommenden Seelen hätten den Anschein gehabt, als kämen sie von einer langen Wanderung, wären sehr vergnügt auf der bekannten Wiese angelangt und hätten wie zu einer festlichen Versammlung sich hingelagert. Die mit einander Bekannten hätten sich gegenseitig begrüßt, und die aus der Erde Angekommenen hätten bei den andern sich um die Verhältnisse des Jenseits erkundigt, und die aus dem Himmel Kommenden hätten jene gefragt, wie es bei ihnen herginge. Da hätten sie nun einander erzählt, die einen klagend und weinend, indem sie sich erinnerten, wie große und was für Leiden und Anblicke sie auf der Wanderung unter der Erde gehabt hätten (die Wanderung dauere nämlich tausend Jahre); die anderen dagegen aus dem Himmel hätten von ihrem Wohlergehen erzählt und von dem unbeschreiblich Schönen, das sie geschaut hätten. Die vielen Dinge nun, o Glaukon, die er gesehen, ausführlich zu erzählen, erforderte eine lange Zeit; die Hauptsache aber, jagte er, sei dies: Für alle Ungerechtigkeiten, die nur jeder einzelne an einem verübt gehabt, dafür habe er wegen jeder einzelnen eine besondere Strafe bekommen, nämlich wegen eines jeden Vergehens eine zehnfache (d.h. jede einzelne Strafe dauert hundert Jahre, weil dies das Maß des menschlichen Lebens sei), so daß man für eine ungerechte Handlung eine zehnfache Strafe entgelte. So hätten diejenigen, die dadurch, daß sie Städte oder Heere verraten und in Knechtschaft gestürzt oder sonst ein großes Unglück mit angefangen hatten, eines mehrfachen Todes schuldig waren, für jede einzelne aller dieser Taten zehnfache Peinen bekommen; und waren sie andererseits Urheber einiger Wohltaten, auch gerecht und fromm, so empfingen sie auch dafür ihren Preis nach demselben Maßstabe. In bezug auf die, welche, sobald sie geboren waren, nicht lange lebten, erzählte er auch mancherlei, was aber hier der Erwähnung nicht wert ist. Für Ruchlosigkeit und Ehrfurcht gegen Götter und Eltern sowie für eigenhändigen Mord gibt es seiner Erzählung nach eine[399] Vergeltung in größerem Maßstabe. So stand er nämlich, wie et sagte, neben einem anderen, der von einem anderen gefragt wurde, wo Ardiaios der Große sei. Dieser Ardiaios aber war in einer Stadt Pamphyliens schon damals vor tausend Jahren Tyrann gewesen, hatte seinen greisen Vater und seinen älteren Bruder ermordet und natürlich auch noch viele andere Freveltaten verübt, wie die Sage ging. Jener Gefragte nun, wie er sagte, habe geantwortet: »Er ist nicht hierher gekommen«, habe er gesagt, »und wird auch wohl gar nicht hierher kommen. Denn wir sahen unter anderen schrecklichen Schauspielen auch dieses: Nachdem wir nahe bei der Öffnung und im Begriffe waren, nach Ausstehung aller übrigen Leiden, herauszutreten, da erblickten wir jenen Ardiaios auf einmal nebst vielen anderen, meistenteils Tyrannen: es waren nämlich darunter auch solche, die nichts mit dem Staate zu tun gehabt, aber zu den größten Verbrechern gehörten. Als diese meinten, daß sie nun heraussteigen könnten, da gestattete es die Öffnung nicht, sondern ließ jedesmal ein Gebrüll hören, wenn einer von diesen in ihrer Seelenverderbnis Unheilbaren oder einer, der noch nicht hinlänglich gebüßt hatte, herauszutreten wagen wollte. Da waren nun«, sagte er, »gleich wilde und feurig aussehende Männer bei der Hand, die jenen Laut verstanden, einige ergriffen und wegführten; dem Ardiaios aber und andern banden sie Hände, Füße und Kopf zusammen, warfen sie nieder, schunden sie recht, schleiften sie hernach aus dem Wege und marterten sie auf Dornhecken herum; dabei deuteten sie den jedesmal Vorbeigehenden an, weswegen sie dies erlitten, und daß sie abgeführt würden, um in den Tartaros geworfen zu werden.« Und so sei denn, sagte er, unter vielen und allerlei ihnen widerfahrenen Furchtbarkeiten am größten gewesen jene Furcht, es möchte in dem Augenblicke, da man herausstiege, jenes Gebrüll entstehen, und mit der größten Freude sei ein jeder, wenn es geschwiegen habe, herausgetreten.

Die Strafen und Büßungen seien also denn etwa von der erwähnten Art gewesen; die ihnen andererseits gegenüberstehenden Belohnungen beständen in folgenden: Nachdem nämlich die jedesmal Ankommenden auf jener Wiese sieben Tage zugebracht, hätten sie sich an dem achten aufmachen und von hier an weiterwandern müssen, und da wären sie dann am[400] vierten Tage in eine Region gekommen, wo man von oben herab einen durch den ganzen Himmelsraum über die Erde hin ausgebreiteten geraden Lichtstrom gesehen habe, wie eine Säule, ganz dem Regenbogen vergleichbar, aber heller und reiner. Nach einer Tagreise wären sie nun da hineingekommen und hätten dort mitten in jenem Lichte gesehen, wie die äußersten Enden der Himmelsbänder am Himmel angebracht seien; denn nichts anderes als jener Lichtstreif sei das Land des Himmelsgewölbes, wie etwa die verbindenden Querbänke an den Dreiruderern, und halte so den ganzen Himmelskreis zusammen; an jenen Enden aber sei die Spindel der Notwendigkeit angebracht, durch welche Spindel alle möglichen Sphären bewegt würden; daran seien nun Stange und Haken aus Stahl, der Wirtel aber habe aus einer Mischung von Stahl und anderen Metallarten bestanden. Die Beschaffenheit dieses Wirtels sei nun folgende gewesen: Die äußere Gestalt sei so gewesen, wie sie der Wirtel bei uns hat; man muß sich jedoch seiner Erzählung nach ihn so vorstellen, als wenn in einem großen und durch und durch ausgehöhlten Wirtel ein anderer eben solcher kleinerer eingepaßt wäre, so wie man Gefäße hat, die in einander passen; und auf dieselbe Weise muß man sich noch einen anderen dritten, vierten und noch vier Wirtel ineinander gepaßt denken. Denn acht Wirtel seien es insgesamt, die ineinander lägen und ihre Ränder von oben her als Kreise zeigten und um die Stange nur eine zusammenhängende Oberfläche eines einzigen Wirtels darstellten; jene Stange sei aber durch den achten mitten ganz durchgezogen. So habe nun der erste und äußerste Wirtel den breitesten Randkreis, der sechste den zweiten, den dritten der vierte, den vierten der achte, den fünften der siebente, den sechsten der fünfte, den siebenten der dritte, den achten der zweite. Der des größten Wirtels sei nun buntfarbig, der des siebenten am glänzendsten, der des achten erhalte seine Farbe von der Beleuchtung des siebenten, der des zweiten und fünften seien einander sehr ähnlich und zwar gelblicher als jene, der dritte habe die weißeste färbe, der vierte sei rötlich, der zweite aber übertreffe an Weiße den sechsten. Wenn nun so die ganze Spindel sich herumdrehe, so kreise sie zwar in demselben Schwünge; während des Umschwunges des Ganzen aber bewegten sich die sieben inneren Kreise langsamer,[401] in einem dem Ganzen entgegengesetzten Schwünge. Am schnellsten von ihnen gehe aber der achte; den zweiten Rang der Schnelligkeit hätten zugleich mit einander der siebente, sechste und fünfte; den dritten im Umschwünge, wie es ihnen geschienen, habe der vierte Kreis gehabt; den vierten der dritte, und den fünften der zweite. Gedreht aber werde die Spindel zwischen den Knieen der Notwendigkeit. Auf ihren Kreisen aber säßen oben auf jeglichem eine sich mit umschwingende Sirene, welche eine Stimme, jedesmal einen zum Ganzen verhältnismäßigen Ton, hören läßt: aus allen acht insgesamt aber erschalle eine Harmonie. Rings aber säßen drei andere Gestalten in gleicher Entfernung von einander, eine jede auf einem Throne, nämlich die Töchter der Notwendigkeit, die Parzen, in weißen Gewändern und mit Kränzen auf dem Haupte: Lachesis, Klotho und Atropos, und sängen zu der Harmonie der Sirenen; Lachesis besänge die Vergangenheit, Klotho die Gegenwart, Atropos die Zukunft. Und Klotho berühre von Zeit zu Zeit mit ihrer rechten Hand den äußeren Umkreis der Spindel und drehe sie mit, Atropos ebenso die inneren Umkreise mit der linken, Lachesis aber berühre abwechselnd die inneren und äußeren mit beiden Händen.

Sie hätten nun, nachdem sie angekommen seien, alsbald sich zur Lachesis begeben. Da habe eine Art von Prophet sie in eine Reihe gestellt; er habe hierauf aus dem Schoße der Lachesis Lose und Lebensmuster genommen, sei damit auf eine hohe Bühne gestiegen und habe da also geredet: »Es spricht die Jungfrau Lachesis, die Tochter der Notwendigkeit: Eintägige Seelen! Es beginnt mit euch eine andere Periode eines sterblichen und todbringenden Geschlechts; nicht euch erlost das Lebensverhängnis, sondern ihr wählt euch das Geschick. Sobald einer gelost hat, so wähle er sich eine Lebensbahn, womit er nach dem Gesetze der Notwendigkeit vermählt bleiben wird. Die Tugend ist aber unabhängig von jedem Herrn: von ihr erhält ein jeder mehr oder weniger, je nachdem er sie in Ehren hält oder vernachlässigt. Die Schuld liegt an dem, der gewählt hat. Gott ist daran schuldlos.« Auf diese Worte habe er die Lose auf sie hin geworfen. Ein jeder habe nun das neben ihm liegende Los aufgehoben, nur er selbst nicht; ihm habe er[402] es nicht gestattet. Wer es aber aufgehoben habe, dem sei klar gewesen, die wievielste Stelle er bekommen habe. Hierauf habe er sogleich die Muster der Lebensweisen vor sie auf den Boden gestellt in weit größerer Anzahl als die der Anwesenden. Da hätte es denn allerlei gegeben: Lebensweisen von allen Tieren und auch, versteht sich, alle menschlichen. Darunter hätten sich nun unumschränkte Tyrannenherrschaften befunden, zum Teil lebenslängliche, zum Teil auch solche, die mitten im Leben verloren gehen und mit Armut, Verbannung und mit dem Bettelstab endigen. Auch hätten sich darunter befunden Lebensweisen von wohlangesehenen Männern teils durch Gestalt, Schönheit und außerdem durch körperliche Stärke und Kampftüchtigkeit, teils ihrer Geburt und der Vorzüge ihrer Ahnen wegen; ferner ebenfalls Lebensweisen solcher, die in den genannten Rücksichten unansehnlich waren, und ebenso habe es sich mit den Weibern verhalten. Eine Seelenrangordnung habe aber nicht dabei stattgefunden, weil es eine unbedingte Notwendigkeit ist, daß eine Seele, welche eine andere Lebensweise wählt, auch eine andere wird. Im übrigen seien die Lebensweisen durcheinander gemischt und teils mit Reichtum oder Armut, teils mit Krankheit, teils mit Gesundheit verbunden; manche lägen auch zwischen den genannten Zuständen in der Mitte. Hier ist nun offenbar, mein lieber Glaukon, für den Menschen die allergrößte Gefahr. Und deshalb muß man besonders dafür sorgen, daß jeder von uns mit Hintansetzung aller anderen Wissenschaften nach jener besonders trachte und forsche, wodurch er zu erfahren und zu finden imstande ist, wer ihm die Geschicklichkeit und die Wissenschaft beibringen könnte, eine gute und schlechte Lebensweise zu unterscheiden und aus den jedesmal wählbaren überall die bessere herauszuwählen, dabei auch wohl in Anschlag zu bringen alle unsere obigen Lehren, gegenseitige Vergleichungen und Bestimmungen in bezug auf die vorzügliche Lebensweise; ferner zu wissen, was Schönheit, mit Armut oder Reichtum gemischt, tut, und bei welcher Beschaffenheit der Seele sie Gutes oder Schlimmes bewirkt; was ingleichen edle Geburt und niedere Abkunft, was stille Zurückgezogenheit und Staatsbeamtenstand, was körperliche Kraft und Schwäche, was Gelehrtheit und Ungelehrtheit, was für Wirkungen[403] überhaupt dergleichen ursprüngliche Eigentümlichkeiten der Seele und ihre dazu erworbenen Eigenheiten tun, wenn sie mit einander vermischt werden. Und so kann man erst nach Erwägung aller dieser Umstände imstande sein, mit Berücksichtigung der eigentlichen Natur der Seele bei seiner Wahl die schlechtere und bessere Lebensweise zu unterscheiden und dabei diejenige einerseits die schlechtere zu nennen, welche die Seele dahin bringt, daß sie ungerechter wird, die bessere andererseits diejenige, die sie immer mehr gerecht macht. Um alles übrige wird man dabei sein Herz unbekümmert lassen; denn wir haben gesehen, daß dies sowohl für das Leben als auch nach dem Tode die beste Wahl ist. Darum muß man eisenfest an dieser Meinung hängen, bis man in die andere Welt kommt, und darf auch dort von Reichtum und dergleichen Übeln nicht sich erschüttern lassen; ingleichen muß man auch auf seiner Hut sein, daß man nicht auf Tyrannenherrschaften und sonstige Geschäfte der Art verfällt und dadurch viele unheilbare Übel verübt, sich selbst aber eben dadurch noch weit größere zuzieht. Man verstehe vielmehr in Beziehung auf jene Lebensbeschäftigung die mittlere Laufbahn zu wählen und sowohl in diesem Leben hier als in dem ewigen der Zukunft die Extreme an beiden Seiten nach Kräften zu vermeiden; denn so wird ein Mensch am glücklichsten.

Und so habe denn auch damals, lautet die Botschaft aus jener Welt, jener Prophet sich ausgedrückt: »Auch den, der zuletzt hinzutritt, aber mit Vernunft wählt und mit Anstrengung aller Kräfte der Tugend lebt, erwartet ein Leben, mit dem er zufrieden sein kann, und das nicht schlecht ist. Darum sei weder der erste bei der Wahl unachtsam, noch lasse der letzte seinen Mut sinken!« Auf diese Worte habe der, sagte er, welcher zuerst gelost habe, in großer Hast sich die größte Tyrannenherrschaft gewählt; mit Unverstand und ehrsüchtigem Heißhunger sei er bei seiner Wahl verfahren, nicht mit reiflicher Erwägung aller obwaltenden Umstände, und darum habe er übersehen das damit unzertrennliche Geschick, das Essen seiner eigenen Kinder und sonstiges Unheil. Nachdem er aber mit der Zeit seine Wahl reiflicher überlegt hätte, da habe er sich darüber die Haare gerauft und gejammert und nicht die Vorerinnerung des Propheten bedacht; denn er habe von seinem[404] Unheil nicht sich die Schuld gegeben, sondern dem Schicksale, den Göttern und eher allem in der Welt als sich selbst. Er sei aber einer von denen gewesen, die aus dem Himmel gekommen, habe in einer geregelten Verfassung sein erstes Leben vollbracht und sei tugendhaft nur durch Gewöhnung, nicht durch wahre Wissenschaft (Philosophie) gewesen. Man könne daher behaupten, daß die aus dem Himmel Kommenden gar nicht die geringste Zahl seien, die durch dergleichen Dinge geangelt würden, weil sie in Mühseligkeiten unerfahren wären, während die meisten aus der Erde Anlangenden nicht so hastig ihre Wahlen machten, weil sie sowohl an ihrer eigenen Person als auch durch Beobachtung anderer Erfahrung von Leiden und Mühseligkeiten haben. Daher denn, und auch vom Zufall des Loses, die meisten Seelen einen Wechsel von Schlechtem und Gutem erführen. Sonst könnte jemand, wenn er jedesmal, sooft er in dieses Leben käme, sich mit Ernst der Wahrheit befleißigte, und wenn ihm dann das Los zur Wahl nicht unter den letzten falle, nach den Ankündigungen jener Welt ziemlich gewiß sein, daß er nicht nur hienieden glücklich sein, sondern daß er auch seine Wanderung aus dieser in jene Welt und aus der dortigen in diese wiederum zurück auf keinem unterirdischen und rauhen, sondern auf einem glatten und himmlischen Wege machen würde. Dieses Schauspiel nämlich, sagte er, sei sehenswert gewesen, wie jede Seele sich ihre Lebensweise gewählt habe; denn der Anblick habe Mitleid, Lachen und Bewunderung erregt. Meist hätten sie nach der Gewohnheit ihres früheren Lebens ihre Wahl getroffen. So hätte man z.B. die einst dem Orpheus gewesene Seele das Leben eines Schwanes wählen sehen, indem sie aus Haß gegen das weibliche Geschlecht wegen des von ihm erlittenen Todes von keinem Weibe habe wollen geboren werden; die des Thamyris hätte man das einer Nachtigall wählen sehen. So habe man dagegen von einem Schwan gesehen, daß er sich durch die Wahl eines Menschenlebens umgestaltet habe, und noch andere sangreiche Vögel, wie natürlich. Die zwanzigste Seele habe sich das Leben eines Löwen gewählt: und dies sei die des Telamoniers Aias gewesen, welche sich durchaus gesträubt habe, wieder ein Mensch zu werden, weil sie noch immer an das Waffengericht gedacht habe. Hierauf sei die[405] Seele Agamemnons herangekommen: auch diese habe aus Haß gegen das Menschengeschlecht wegen der von ihm erfahrenen Leiden das Leben eines Adlers eingetauscht. In der Mitte der Losenden sei Atalante gewesen, und da sie große Ehren eines kampfverständigen Mannes gesehen, habe sie nicht dabei vorübergehen können, sondern habe dieses Los genommen. Nach dieser habe man die Seele des Epeios von Panope in die Gestalt einer ränkevollen Frau übergehen sehen. Weit unter den letzten hätte man den Possenreißer Thersites erblickt, während er die Natur eines Affen annahm. Aus Zufall sei die Seele des Odysseus die letzte bei der Losung gewesen und wäre nun auch herangetreten, um zu wählen: im Andenken an die früheren Mühen und Gefahren sei sie von allem Ehrgeize ledig gewesen, sei lange herumgegangen und habe nach dem Leben eines von Staatsgeschäften entfernten Privatmannes gesucht; mit Mühe habe sie es endlich gefunden, wo es von allen übrigen verachtet gelegen habe, und sie habe bei dessen Anblick gesagt, daß sie ebenso bei ihrer Wahl verfahren wäre, wenn sie auch als erste zu losen gehabt hätte, und habe es darauf mit großer Freude zu sich genommen. Gleichermaßen seien außerdem auch Tiere in Menschen übergegangen, und auch eine Gattung in die andere: die unbändigen in wilde und die zu bändigenden in zahme, und so seien überall Verwandlungen vorgegangen.

Nachdem nun alle Seelen so ihre Lebensweisen gewählt hatten, so seien sie in der Ordnung, wie sie gelost hätten, zur Lachesis geschritten; jene habe nun einem jeden den Genius der von ihm erwählten Lebensweise zum Beschützer seines Lebens und zum Vollstrecker seiner Wahl mitgeschickt. Dieser Genius habe nun seine Seele zunächst zur Klotho gebracht und unter ihre den Wirbel der Spindel treibende Hand geführt, um das Geschick, welches jene gelost, zu befestigen. Nachdem er diese berührt hatte, habe er seine Seele alsbald zur Spinnerei der Atropos geführt, um ihren angesponnenen Faden unveränderlich zu machen. Von hier sei er nun stracks unter den Thron der Notwendigkeit getreten. Und als er nach dem Vorgange der übrigen durch diesen hindurchgegangen wäre, seien sie sämtlich durch furchtbare Hitze und Stickluft hindurch auf das Feld der Vergessenheit gekommen. Da sei nun nichts von Bäumen und[406] allem dem gewesen, was die Erde trägt. Hier hätten sie sich nun nach schon angebrochenem Abend an dem Flusse Sorgenlos gelagert, dessen Wasser kein Gefäß zu halten vermöge. Notwendig müßten nun freilich alle ein gewisses Maß von diesem Wasser trinken; die aber durch Vernunft sich nicht wahren ließen, tränken über jenes Maß, und wer immerfort davon tränke, der vergesse alles. Nachdem sie sich nun niedergelegt hatten und Mitternacht gekommen war, sei ein Ungewitter und ein Erdbeben entstanden, und plötzlich seien sie dann wie Sternschnuppen der eine dahin, der andere dorthin gefahren, um ins Leben zu treten. Er selbst habe nun nicht von jenem Wasser trinken dürfen; aufweiche Art und Weise er jedoch wieder in seinen Körper gekommen sei, das wisse er nicht, sondern nur so viel, daß er des Morgens auf einmal die Augen aufgemacht und sich auf dem Scheiterhaufen liegend gefunden habe...

Und so, mein lieber Glaukon, ist denn dieser Mythos erhalten worden und ist nicht untergegangen, und er wird vielleicht auch unsere Seelen retten, wenn wir ihm nämlich folgen; wir werden dann glücklich über den Fluß Lethe setzen und uns an unserer Seele nicht besudeln. Wenn wir daher meiner Meinung folgen, so wollen wir fest daran halten, daß die Seele unsterblich ist und alle möglichen Übel überlebt und alles Gute bekommen könne, wollen immer den Weg nach oben im Auge haben, wollen mit vernünftiger Einsicht auf allen unseren Wegen Gerechtigkeit üben. Und so werden wir mit uns selbst befreundet sein und mit den Göttern, sowohl in diesem Leben als auch dann, wenn wir den Kampfpreis dafür davontragen, den wir wie siegreiche Kämpfer überall einsammeln, und werden sowohl hienieden als auch in der von uns beschriebenen tausendjährigen Wanderung glücklich sein.[407]

Quelle:
Platon: Sämtliche Werke. Band 2, Berlin [1940].
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Der Staat
Der Staat / Politeia: Griechisch - Deutsch
Der Staat
Staat: Kommentar
Der Staat
Der Staat

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Therese. Chronik eines Frauenlebens

Therese. Chronik eines Frauenlebens

Therese gibt sich nach dem frühen Verfall ihrer Familie beliebigen Liebschaften hin, bekommt ungewollt einen Sohn, den sie in Pflege gibt. Als der später als junger Mann Geld von ihr fordert, kommt es zur Trgödie in diesem Beziehungsroman aus der versunkenen Welt des Fin de siècle.

226 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon