Hermogenes: Sollen wir auch dem Sokrates da die Sache mitteilen;
Kratylos: Wenn dir's beliebt.
Hermogenes: Dieser Kratylos behauptet, o Sokrates, es gebe von Natur einen richtigen Namen für jedes Ding, und nicht das sei ein Name, den einige nach Übereinkunft einem Dinge beilegten – dabei ließen sie nur ein Teilchen von ihrer Stimme über es laut werden –, sondern es gebe eine Richtigkeit der Namen von Natur, und zwar für Hellenen und Barbaren, für alle ein und dieselbe. Ich frage ihn nun, ob ihm in Wahrheit der Name Kratylos gebühre oder nicht? – Er bejahte es. – »Welcher Name aber gebührt dem Sokrates?« sagte ich. – »Sokrates«, sagt er. – »Gehört denn nicht auch jedem unter allen übrigen Menschen der Name, den wir ihm beilegen?« – Da sagt er: »Dir gewiß nicht der Name Hermogenes, auch wenn dich alle Menschen so nennen.« Wie ich nun weiter frage und wissen will, was er eigentlich meint, gibt er mir durchaus keine deutliche Antwort, sondern verstellt sich gegen mich und tut, als überlege er bei sich und wüßte etwas über die Sache, und wenn er es nur sagen wollte, könnte er auch mich zum Zugeständnis bringen und für seine eigene Meinung gewinnen. Wenn du nun etwa das Rätsel des Kratylos lösen kannst, so würde ich es gerne hören; noch lieber aber würde ich deine eigene Meinung über die Richtigkeit der Namen (Wörter) erfahren, wenn es dir genehm ist, sie mitzuteilen.
Sokrates: O Sohn des Hipponikos, Hermogenes, es gibt ein altes Sprichwort. Schwer ist das Verständnis des Schönen, und das Verständnis der Namen ist keine geringe Aufgabe. Wenn ich schon beim Prodikos den Vortrag für fünfzig Drachmen gehört hätte, durch den man, wie jener sagt, hierüber aufgeklärt wird, so könntest du leicht sofort die Wahrheit über die Richtigkeit der Namen erfahren. Nun aber habe ich ihn nicht gehört,[543] sondern nur den Vortrag für eine Drachme: Daher kenne ich den wahren Sachverhalt in diesen Dingen nicht. Doch bin ich bereit, ihn mit dir und Kratylos gemeinsam zu untersuchen. Wenn er aber sagt, dir gebühre in Wahrheit nicht der Name Hermogenes, so spottet er, wie ich vermute. Denn er meint wohl, in all deinem Streben nach Geldbesitz hättest du doch jedesmal Unglück. Doch, wie gesagt, die Erkenntnis solcher Dinge ist schwer, aber man muß sie gemeinsam vornehmen und prüfen, ob du recht hast oder Kratylos.
Hermogenes: Ich habe zwar, o Sokrates, gar oft mit diesem hier und mit vielen anderen gesprochen, kann mich aber nicht überzeugen, daß es einen anderen Grund für die Richtigkeit eines Namens gebe als Verabredung und Übereinkunft. Denn mir scheint jeder Name, den man einem Dinge beilegt, der rechte zu sein, und wenn man ihn wieder mit einem anderen vertauscht und jenen nicht mehr gebraucht, so müsse man diesen späteren für nicht minder richtig halten als den früheren: wie z.B. wenn man den Sklaven andere Namen gibt, so sei der neue nicht minder richtig als der, den sie ursprünglich führten. Denn nicht von Natur komme jedem Dinge ein Name zu, nicht einem einzigen, sondern durch Gesetz und Gewohnheit, je nach der wechselnden Wahl der Benennung. Wenn sich aber die Sache anders verhält, so bin ich gern bereit zu lernen und zu hören, nicht bloß von Kratylos, sondern auch von jedem anderen sonst.
Sokrates: Vielleicht freilich hast du recht, Hermogenes; doch laß es uns überlegen: Der Name also gebührt jedem, den man ihm beilegt?
Hermogenes: Das ist meine Ansicht.
Sokrates: Und zwar gleichviel, ob ein Einzelner den Namen gibt oder der Staat;
Hermogenes: So meine ich.
Sokrates: Wie denn? Wenn ich irgend ein Ding benenne, z.B. was wir jetzt ›Mensch‹ nennen, wenn ich das ›Pferd‹ nennt, und was man jetzt ›Pferd‹ nennt, ›Mensch‹, wird ihm dann von Staats wegen der Name ›Mensch‹, von meinetwegen der Name ›Pferd‹ gebühren? Und von meinetwegen wieder der Name ›Mensch‹, von Staats wegen ›Pferd‹? Meinst du es so?
Hermogenes: Das ist meine Ansicht.
[544] Sokrates: Wohlan denn, beantworte mir folgendes: Unterscheidest du ›Wahres reden‹ und ›Falsches reden‹?
Hermogenes: Gewiß.
Sokrates: Also gibt es doch eine wahre Rede und eine, die falsch ist?
Hermogenes: Freilich.
Sokrates: Nicht wahr, die, welche sagt, wie das Seiende wirklich ist, ist wahr, die aber sagt, wie es nicht ist, ist falsch?
Hermogenes: Jawohl.
Sokrates: Also ist es möglich, in der Rede zu sagen, was ist, und es auch nicht zu sagen?
Hermogenes: Freilich.
Sokrates: Ist aber die wahre Rede ganz wahr, ihre Teile aber nicht wahr?
Hermogenes: Nein, auch die Teile sind wahr.
Sokrates: Sind nun die großen Teile wahr, die kleinen aber nicht, oder sind alle wahr?
Hermogenes: Alle, meine ich.
Sokrates: Gibt es noch einen anderen kleineren Teil der Rede als das Wort?
Hermogenes: Nein, das ist der kleinste Teil.
Sokrates: Das Wort in der wahren Rede wird doch ausgesprochen?
Hermogenes: Jawohl.
Sokrates: Dann ist es wahr nach deiner Meinung.
Hermogenes: Jawohl.
Sokrates: Das Teilchen der falschen Rede aber ist falsch?
Hermogenes: So meine ich.
Sokrates: Demnach ist es möglich, ein Wort als falsches und wahres auszusprechen, wenn anders auch eine wahre und falsche Rede möglich ist?
Hermogenes: Warum denn nicht?
Sokrates: Der Name gebührt also jedem Dinge, den jeder ihm beilegt?
Hermogenes: Jawohl.
Sokrates: Gebühren jedem Dinge auch so viele Namen, als man ihm gibt, und dann, wenn man sie ihm gibt?
Hermogenes: Ich wenigstens, o Sokrates, kenne keine andere Richtigkeit eines Namens als diese, daß ich das Recht habe,[545] jedes Ding mit einem anderen Namen zu benennen, den ich ihm gegeben habe, und du wieder mit einem anderen, den du ihm geben magst. So sehe ich auch, daß für eben dieselben Dinge in einzelnen Staaten besondere Namen bestehen, und zwar bei Hellenen im Gegensatz zu anderen Hellenen, und bei Hellenen im Gegensatz zu Barbaren.
Sokrates: Wohlan denn, laß uns zusehen, Hermogenes, ob es dir auch um die Dinge ebenso zu stehen scheint, daß jedes von ihnen für jeden ein besonderes Wesen habe, wie Protagoras behauptete, wenn er sagt, das Maß aller Dinge sei der Mensch, so daß also die Dinge für mich so sind, wie sie mir zu sein scheinen, und für dich wieder, wie sie dir erscheinen; oder scheinen sie dir in sich eine Wesensbestimmtheit zu besitzen?
Hermogenes: Ich war, o Sokrates, darüber schon einmal im Zweifel und fühlte mich zu der Meinung des Protagoras hingezogen. Doch scheint mir die Sache nicht ganz so richtig.
Sokrates: Wie? Warst du so weit schon gekommen, daß du nicht recht glauben konntest, es gebe einen schlechten Menschen?
Hermogenes: Nein, beim Zeus, sondern gar oft habe ich gerade diese Erfahrung gemacht und mußte gewisse Leute für ganz schlecht halten, und zwar gar viele.
Sokrates: Wie weiter? Ganz brave Menschen hast du wohl noch nicht kennengelernt?
Hermogenes: Gar wenige.
Sokrates: Doch einige?
Hermogenes: Jawohl.
Sokrates: Wie erklärst du das? Etwa so: die ganz braven für ganz vernünftig, die ganz schlechten aber für ganz unvernünftig?
Hermogenes: So meine ich's.
Sokrates: Ist's nun möglich, wenn Protagoras recht hätte und das die Summe der »Wahrheit« ist, daß für jeden alles ist, wie es ihm zu sein scheint, – ist's dann möglich, daß die einen von uns vernünftig sind, die anderen unvernünftig?
Hermogenes: Sicherlich nicht.
Sokrates: So viel nimmst du also wenigstens, scheint mir, ganz sicher an: wenn es eine Vernunft gibt und Unvernunft,[546] so könne Protagoras unmöglich recht haben. Denn es könnte doch wohl in Wahrheit keiner vernünftiger nein als der andere, wenn anders für jeden wahr sein soll, was ihm so scheint.
Hermogenes: So ist's.
Sokrates: Doch du nimmst gewiß auch nicht mit dem Euthydemos an, daß allen alles auf gleiche Weise zugleich und immer zukomme. Denn auch nicht einmal so wären die einen brav, andere schlecht, wenn auf gleiche Weise allen, und zwar immer, Tugend und Schlechtigkeit zukäme.
Hermogenes: Du hast recht.
Sokrates: Wenn daher weder allen alles gleicherweise zugleich und immer zukommt, noch für jeden jedes Ding verschieden ist, so haben die Dinge offenbar eine eigene, sich gleichbleibende Wesenheit, richten sich nicht nach uns und werden nicht durch uns bestimmt, als würden sie durch unsere Einbildung hin und her gezerrt, sondern sind selbständig in sich nach ihrer eigenen Wesenheit, so wie sie geartet sind.
Hermogenes: So ist's, meiner Meinung nach, o Sokrates.
Sokrates: Sind sie nur etwa selbst so beschaffen, ihre Tätigkeiten aber nicht auf dieselbe Weise? Oder sind sie nicht auch eine Art des Seienden?
Hermogenes: Allerdings.
Sokrates: Also nach ihrer eigenen Natur gehen auch die Tätigkeiten vor sich, nicht nach unserer Vorstellung; wenn wir z.B. ein Ding schneiden wollen, müssen wir dann jedes Ding schneiden, wie wir wollen und womit wir wollen, oder werden wir nur dann, wenn wir jedesmal nach der Natur des Schneidens (und Geschnittenwerdens) schneiden wollen und mit dem passenden Werkzeuge, in Wahrheit schneiden und Vorteil davon haben, wofern wir es aber wider die Natur tun, werden wir fehlgehen und nichts ausrichten?
Hermogenes: Das will ich meinen.
Sokrates: Und wenn wir also etwas zu brennen uns vornehmen, so darf man nicht nach jeder beliebigen Vorstellung brennen, sondern nach der rechten? Das heißt aber, es kommt auf die Natur der Sache an, die gebrannt werden und brennen soll, und auf die Natur des Mittels, womit es geschieht?
Hermogenes: So ist es.
Sokrates: Ist's nicht auch mit allem anderen ebenso?
[547] Hermogenes: Gewiß.
Sokrates: Ist nun nicht auch das Reden eine unter den Tätigkeiten?
Hermogenes: Ja.
Sokrates: Wird man nun so recht reden, wie es einem gerade einfällt, oder wird man nur dann etwas ausrichten und wahrhaft reden, wenn man so redet und mit dem betreffenden Mittel, wie die Natur der Dinge im Reden es verlangt, wo aber nicht, fehlgehen und nichts ausrichten?
Hermogenes: So meine ich, wie du sagst.
Sokrates: Ein Teil des Redens ist aber auch das Benennen; denn nur mittels des Benennen; redet man ja.
Hermogenes: Gewiß.
Sokrates: Ist nicht auch das Benennen eine Tätigkeit, wenn anders das Reden eine war, die sich auf die Dinge bezieht?
Hermogenes: Ja.
Sokrates: Die Tätigkeiten aber waren nach unserer Ansicht nicht subjektiv, sondern hatten ihre eigentümliche Natur?
Hermogenes: So ist's.
Sokrates: So muß man auch benennen, wie die Natur der Dinge das Benennen fordert, und mit dem Mittel, das sie verlangt, nicht aber, wie wir wollen mögen, wenn dies ja mit dem Vorhergehenden übereinstimmen soll; Und nur so würden wir doch etwas ausrichten und benennen, anders aber nicht?
Hermogenes: Das gestehe ich zu.
Sokrates: Wohlan denn, was man schneiden mußte, mußte man doch, sagen wir, mit etwas schneiden;
Hermogenes: Ja.
Sokrates: Und was man weben mußte, mußte man mit etwas weben, und zum Bohren bedurfte man auch eines Mittels;
Hermogenes: Freilich.
Sokrates: Und was man danach benennen mußte, mußte man auch mit etwas benennen;
Hermogenes: So ist's.
Sokrates: Was aber war das, womit man bohren mußte?
Hermogenes: Ein Bohrer.
Sokrates: Womit aber mußte man weben?
Hermogenes: Mit einer Weberlade.
[548] Sokrates: Womit benennen?
Hermogenes: Mit einem Namen (Worte).
Sokrates: Gut. Also ist auch das Wort ein Werkzeug.
Hermogenes: Freilich.
Sokrates: Wenn ich nun fragte, was für ein Werkzeug war die Weberlade? Nicht das, mit dem wir weben?
Hermogenes: Ja.
Sokrates: Was tut man aber, wenn man webt? Zerteilt man nicht den Einschlag und die in einander gewirrte Kette?
Hermogenes: Ja.
Sokrates: Wirst du es nicht auch von dem Bohrer ähnlich angeben können und von den anderen Werkzeugen?
Hermogenes: O ja.
Sokrates: Kannst du es dann auch von dem Wort? Was machen wir, wenn wir benennen, mit dem Worte, da es ja auch ein Werkzeug ist?
Hermogenes: Das kann ich nicht angeben.
Sokrates: Teilen wir vielleicht einander etwas mit und zerteilen die Dinge je nach ihrer Art?
Hermogenes: Freilich.
Sokrates: Das Wort ist also ein mitteilendes und das Wesen zerteilendes Werkzeug, wie die Weberlade für das Gewebe.
Hermogenes: Ja.
Sokrates: Die Weberlade aber gehört zur Webekunst?
Hermogenes: Wie anders?
Sokrates: Der Weberkünstler also wird die Weberlade recht gebrauchen, recht aber heißt hier: nach der Webekunst; der Mitteilende aber wird das Wort recht gebrauchen, recht heißt da: nach der Kunst des Mitteilens.
Hermogenes: Ja.
Sokrates: Wessen Werk wird nun der Weber recht gebrauchen, wenn er sich der Weberlade bedient?
Hermogenes: Das des Drechslers.
Sokrates: Ist jeder ein Drechsler, oder nur der, der die Kunst versteht?
Hermogenes: Nur ein solcher.
Sokrates: Wessen Werk wird der Bohrende recht gebrauchen, wenn er den Bohrer gebraucht?
Hermogenes: Das des Schmiedes.
[549] Sokrates: Ist jeder ein Schmied, oder nur der, der die Kunst versteht?
Hermogenes: Nur dieser.
Sokrates: Gut. Wessen Werk aber wird der Mitteilende gebrauchen, wenn er sich des Wortes bedient?
Hermogenes: Auch das weiß ich nicht.
Sokrates: Das weißt du auch nicht zu sagen, wer uns die Worte gibt, deren wir uns bedienen?
Hermogenes: Nein.
Sokrates: Scheint es dir nicht das Gesetz (die Sitte) zu sein, das sie uns überliefert?
Hermogenes: Wohl.
Sokrates: Also eines Gesetzgebers Werkes wird der Mitteilende sich bedienen, wenn er ein Wort braucht?
Hermogenes: Das meine ich.
Sokrates: Hältst du jeden für einen Gesetzgeber, oder nur den, der die Kunst versteht?
Hermogenes: Nur diesen.
Sokrates: Also nicht jedermanns Sache ist es, Hermogenes, ein Wort zu bilden, sondern das gebührt nur einem Wortbildner. Das ist aber, scheint es, der Gesetzgeber, der offenbar unter den Künstlern am allerseltensten unter den Menschen auftritt.
Hermogenes: So scheint es.
Sokrates: Wohlan denn, überlege: Wonach richtet sich der Gesetzgeber, wenn er die Worte festsetzt? Überdenke es aber gemäß dem Vorhergehenden: Wonach richtet sich der Drechsler, wenn er die Weberlade macht? Nicht etwa nach etwas, dessen Natur das Weben ist?
Hermogenes: Gewiß.
Sokrates: Wie dann? Wenn ihm bei der Arbeit die Weberlade zerbricht, wird er dann nach der zerbrochenen sich richten, wenn er wieder eine neue machen will, oder nach jenem Bilde (Begriff), nach dem er auch die zerbrochene machen wollte?
Hermogenes: Nach ihm, dünkt mir.
Sokrates: Können wir jenes nicht mit vollem Recht die an sich seiende Weberlade (die Idee der Weberlade) nennen?
Hermogenes: So scheint mir's.
[550] Sokrates: Also alle Weberladen, ob er nun eine für dünnes Zeug oder für dickes, für Leinen oder Wolle oder was sonst machen soll, müssen den Begriff der Weberlade enthalten; die Beschaffenheit aber, durch die sie je für den Zweck am besten geeignet wird, muß er jedesmal in dem Werke wiedergeben?
Hermogenes: Jawohl.
Sokrates: Auch mit den anderen Werkzeugen hat es natürlich dieselbe Bewandtnis: Die naturgemäße Eigentümlichkeit je nach seinem Zweck muß man ausfindig machen und in jenem Stoffe wiedergeben, aus dem man das Werk bildet, nicht also eine willkürliche, sondern die natürliche. Denn man muß verstehen, die je nach dem Zweck naturgemäße Eigentümlichkeit des Bohrers in das Eisen hineinzulegen.
Hermogenes: Gewiß.
Sokrates: Und die naturgemäße Eigentümlichkeit der Weberlade je nach dem Zweck in das Holz.
Hermogenes: So ist's.
Sokrates: Denn von Natur gehört offenbar für jede Art von Gewebe eine besondere Weberlade, und in anderen Dingen ist es ebenso.
Hermogenes: Jawohl.
Sokrates: Muß demnach, mein Bester, nicht auch der Gesetzgeber die naturgemäße Eigentümlichkeit des Wortes in die Laute und Silben zu legen verstehen und sich richten nach eben jenem wahrhaft seienden Worte (der Idee des Wortes) und nach diesem alle Worte bilden und festsetzen, wenn einer ein tüchtiger Bildner von Worten sein will; Wenn aber nicht jeder Gesetzgeber in dieselben Silben einbildet, so darf uns das nicht befremden: denn auch nicht jeder Schmied bildet in dasselbe Eisen, obwohl doch jeder zu demselben Zwecke dasselbe Werkzeug fertigt. Vielmehr hat es gleichwohl seine Richtigkeit mit dem Werkzeug, wenn er nur dieselbe Idee einbildet, wenn auch in anderes Eisen, mag er hier oder unter den Barbaren es verfertigen. Nicht wahr?
Hermogenes: Gewiß.
Sokrates: So wirst du also auch über den hiesigen Gesetzgeber und einen unter den Barbaren urteilen, solange er nur den jedem Dinge zukommenden Begriff des Wortes wiedergibt, in[551] welchen Silben auch immer, sei der hiesige Gesetzgeber nicht schlechter als einer irgendwo sonst?
Hermogenes: Allerdings.
Sokrates: Wer wird nun erkennen, ob der richtige Begriff der Weberlade in dem Holze liegt, welches es auch sein mag? Der Drechsler, der sie verfertigte, oder der Weber, der sie gebrauchen soll?
Hermogenes: Wahrscheinlicher, o Sokrates, der, der sie gebrauchen soll.
Sokrates: Wer ist es nun, der das Werk des Lyrabauers gebrauchen soll? Ist es nicht der, der bei der Verfertigung am besten zu leiten verstände und dann auch zu erkennen, ob das fertige Werk geraten sei oder nicht?
Hermogenes: Gewiß.
Sokrates: Wer ist es?
Hermogenes: Der Zitherspieler.
Sokrates: Wer soll aber von der Arbeit des Schiffbauers Gebrauch machen?
Hermogenes: Der Steuermann.
Sokrates: Wer aber würde am besten die Arbeit des Gesetzgebers leiten und nach der Vollendung beurteilen können, hier und unter den Barbaren? Nicht der, der davon Gebrauch machen soll?
Hermogenes: Jawohl.
Sokrates: Ist das nicht der, der zu fragen versteht?
Hermogenes: Gewiß.
Sokrates: Und zugleich auch zu antworten?
Hermogenes: Jawohl.
Sokrates: Nicht wahr, wer zu fragen und zu antworten versteht, den nennst du einen Dialektiker?
Hermogenes: Gerade so.
Sokrates: Die Aufgabe des Zimmermanns ist es also, ein Steuerruder zu fertigen unter Leitung des Steuermanns, wenn das Steuerruder tüchtig sein soll.
Hermogenes: Es scheint so.
Sokrates: Die Aufgabe des Gesetzgebers aber, scheint es, das Wort zu fertigen unter der Leitung des dialektischen Mannes, wenn er Worte richtig festsetzen soll.
Hermogenes: So ist's.
[552] Sokrates: Demnach, o Hermogenes, muß doch deiner eigenen Meinung nach die Wortbildung keine gemeine und nicht gemeiner Leute und des ersten besten Aufgabe sein. Und Kratylos hat recht, wenn er behauptet, die Namen kämen von Natur den Dingen zu, und nicht jeder sei ein Meister der Worte, sondern der allein, der sich nach dem Worte richtet, das jedem Dinge von Natur zukommt, und seinen Begriff in die Buchstaben und Silben einzubilden versteht.
Hermogenes: Ich weiß, o Sokrates, nichts auf deine Worte zu erwidern. Freilich ist es nicht leicht, so augenblicklich überzeugt zu werden; aber ich glaube, am leichtesten würdest du mich überzeugen können, wenn du mir zeigen wolltest, was eigentlich naturgemäße Richtigkeit eines Wortes ist, die du behauptest.
Sokrates: Ich, mein trefflicher Hermogenes, behaupte sie nicht, sondern du vergaßest wohl, was ich kurz vorher sagte, daß ich darüber nichts wüßte und nur mit dir gemeinsam untersuchen wollte. Jetzt aber scheint uns, mir und dir, bei unserer Untersuchung so viel, abweichend von der früheren Meinung, festzustehen, daß das Wort von Natur seine Richtigkeit hat, und daß nicht jeder verstehe, es für jedes beliebige Ding richtig zu bilden. Nicht so?
Hermogenes: Freilich.
Sokrates: Wenn du also wissen willst, worin eigentlich wieder seine Richtigkeit besteht, so müssen wir unsere Untersuchung weiter fortsetzen.
Hermogenes: Allerdings möchte ich es wissen.
Sokrates: Überlege also!
Hermogenes: Wie soll ich überlegen?
Sokrates: Die beste Art der Betrachtung, mein Freund, wäre die in Gemeinschaft mit den Sachverständigen, denen du dafür Geld zahlen und deine Dankbarkeit beweisen solltest. Das sind aber die Sophisten, denen auch dein Bruder Kallias viel Geld gezahlt hat, damit er für weise gelte. Da du aber deines väterlichen Erbes nicht Herr bist, mußt du in deinen Bruder dringen und ihn bitten, dir das Richtige über diese Dinge mitzuteilen, wie er es von Protagoras gelernt hat.
Hermogenes: Das wäre wahrlich, o Sokrates, eine wunderliche Bitte, wenn ich, obgleich ich die »Wahrheit« des Protagoras[553] überhaupt verwerfe, Behauptungen, die sich auf eine solche »Wahrheit« stützen, noch einigen Wert beimessen wollte.
Sokrates: Wenn dir das wieder nicht gefällt, so mußt du zum Homer in die Schule gehen und zu den übrigen Dichtern.
Hermogenes: Was sagt denn Homer über die Worte, lieber Sokrates, und wo?
Sokrates: An vielen Orten spricht er darüber; am wichtigsten und besten ist aber die Unterscheidung der Namen, die die Menschen und Götter denselben Dingen beilegen. Oder meinst du nicht, daß er darin eine wichtige und merkwürdige Bemerkung über die Richtigkeit der Worte mache? Denn offenbar nennen ja die Götter die Dinge mit den richtigen, naturgemäßen Namen. Oder glaubst du nicht?
Hermogenes: Wenn sie überhaupt Namen geben, bin ich überzeugt, daß sie es richtig tun. Aber was für Namen meinst du?
Sokrates: Weißt du nicht, daß er über den Fluß bei Troia, der mit Hephaistos den Einzelkampf aufnahm, sagt: welchen
Xanthos nennen die Götter, jedoch die Menschen Skamander –?
Hermogenes: Allerdings.
Sokrates: Wie nun? Hältst du es nicht für eine gar hochwichtige Sache, zu wissen, inwiefern man mit Recht jenen Fluß besser Xanthos nenne als Skamander? Oder, wenn dir das Beispiel lieber ist, wo er über den Vogel sagt:
Chalkis den Göttern er heißt, bei Menschen der ein Habicht, –
soll es eine unwichtige Erkenntnis sein, inwiefern derselbe Vogel richtiger Chalkis heiße als Habicht? Oder Batieia und Myrine und vieles andere bei diesem und anderen Dichtern? Doch übersteigt es vielleicht meine und deine Kräfte, dem auf den Grund zu kommen. Für Menschen mag es wohl eher und leichter zu durchschauen sein, was es mit Skamandrios und Astyanax für eine Bewandtnis habe, Namen, die der Sohn des Hektor trägt, und inwiefern der Dichter ihnen Richtigkeit zuschreibt. Denn du kennst doch wohl die Verse, in. denen das enthalten ist, was ich meine?
Hermogenes: Gewiß.
Sokrates: Welchen von beiden Namen trägt nun nach Homer der Knabe mit größerem Recht, Astyanax oder Skamandrios?
[554] Hermogenes: Das kann ich nicht sagen.
Sokrates: Dann überlege es so: Wenn man dich fragte, ob die Vernünftigen oder die Unvernünftigen die Namen richtiger beilegten...
Hermogenes: So würde ich offenbar sagen: die Vernünftigen.
Sokrates: Sind nun wohl in den Staaten die Weiber vernünftiger oder die Männer, um von der Klasse im ganzen zu reden?
Hermogenes: Die Männer.
Sokrates: Weißt du nicht, daß Homer sagt, das Kind des Hektor werde von den Troern Astyanax genannt; Skamandrios hieß er also offenbar bei den Frauen, da ihn ja die Männer Astyanax nannten?
Hermogenes: Wahrscheinlich.
Sokrates: Hielt auch Homer die Troer für verständiger als ihre Frauen?
Hermogenes: Ich glaube wohl.
Sokrates: Also hielt er den Namen Astyanax für den richtigeren Namen des Knaben als Skamandrios?
Hermogenes: So scheint es.
Sokrates: Wie denn eigentlich? Ich selbst wenigstens verstehe es noch nicht. Du aber verstehst es?
Hermogenes: Nein, wahrlich ich auch nicht.
Sokrates: Laß uns denn überlegen, warum eigentlich! Oder gibt er uns selbst das Warum am besten an die Hand? Denn er sagt:
Denn er allein beschützte die Stadt und die Mauern
im Umkreis.
Deshalb heißt mit Recht der Sohn des Beschützers Astyanax oder Herrscher der Stadt, die sein Vater zu schützen wußte, wie Homer angibt.
Hermogenes: Das leuchtet mir ein.
Sokrates: Aber weiter, mein Guter: auch dem Hektor gab doch Homer selber diesen Namen?
Hermogenes: Woraus schließt du das?
Sokrates: Weil mit auch dieser Name dem Astyanax ziemlich ähnlich vorkommt und diese Namen hellenischen gleichen. Denn Anax (anax), der Herrscher, und Hektor (hektôr), der Herr, bedeuten so ziemlich ein und dasselbe [und beides sind königliche Namen]. Denn worüber einer Herrscher ist, darüber ist er doch wohl auch Herr: denn offenbar hat er[555] Macht darüber, besitzt es und hat es zu eigen. Oder bin ich wohl im Unrecht und täusche gar mich selbst, wenn ich der Meinung des Homer über die Richtigkeit der Namen gleichsam auf der Spur zu sein glaube?
Hermogenes: Nein, wahrlich nicht, meines Bedünkens; vielmehr bist du wahrscheinlich auf der Spur.
Sokrates: Wenigstens ist es meiner Ansicht nach in der Ordnung, daß der Sprößling des Löwen ›Löwe‹ heiße und der des Pferdes ›Pferd‹. Ich meine nicht etwa, wenn, gleichsam ein Wunder, von einem Pferde etwas anderes als ein Pferd geboren wird, sondern das meine ich, was nach der Natur ein Sprößling der Gattung ist. Wenn widernatürlicherweise ein Pferd den naturgemäßen Sprößling einer Kuh geboren hätte, so soll man es nicht ›Füllen‹ nennen, sondern ›Kalb‹. Auch wenn von einem Menschen nicht ein menschlicher Sprößling geboren würde, sondern nur wenn der rechte Sprößling geboren wird, soll man ihn ›Mensch‹ nennen. Und eben das gilt von den Bäumen und allem übrigen; oder bist du nicht einverstanden?
Hermogenes: O ja.
Sokrates: Gut. Gib nur acht auf mich, daß ich dich nicht irgendwie in die Irre führe! Denn nach derselben Rede muß man auch einen Nachkommen eines Königs ›König‹ nennen. Ob aber der Name in anderen Silben dasselbe bedeutet, tut nichts zur Sache. Auch nicht, ob ein Buchstabe zutritt oder weggelassen wird, – das tut auch nichts, wenn nur das Wesen des Dinges in dem Namen sich kundzugeben imstande ist.
Hermogenes: Wie meinst du das?
Sokrates: Ich meine gar nichts Absonderliches; nur, weißt du, wie man auch für die Laute Namen angibt und nicht bloß die Laute selbst nennt, mit Ausnahme von vieren, nämlich e, y, o, ô. Den anderen Vokalen aber und den Konsonanten fügt man noch andere Buchstaben an und bildet so Namen für sie. Allein solange man nur die Eigentümlichkeit des Buchstabens hineinträgt, so daß sie sich kundgeben kann, nennt man ihn mit Recht mit diesem Namen, der ihn für uns bezeichnen soll; wie z.B. das b (beta). Du siehst, durch Zusetzung des e, i und a ist ihm nichts Schlimmes widerfahren, so daß nicht die Natur jenes Lautes in dem ganzen Namen doch deutlich hervorträte, wie[556] es der Gesetzgeber wollte. So gut verstand er, den Buchstaben ihre Namen zu geben.
Hermogenes: Darin hast du wohl recht.
Sokrates: Gilt nun derselbe Satz auch über einen König? Denn es wird wohl von einem König ein König, und von einem Guten ein Guter, und von einem Schönen ein Schöner, und überhaupt in dieser Weise von jeder Gattung ein anderer Sprößling derselben Art stammen, wenn nicht ein Wunder geschieht. Daher sind sie mit demselben Namen zu benennen. Dagegen ist es erlaubt, in die Silben Mannigfaltigkeit zu bringen, so daß die Worte einem Laien verschieden erscheinen können, obwohl sie dieselben sind. Ähnlich erscheinen uns die Arzneien der Ärzte, weil in den Farben oder Gerüchen Mannigfaltigkeit herrscht, verschieden, wenn sie auch dieselben sind; aber der Arzt erkennt sie als gleich, weil er das Wesen der Arzneien betrachtet und sich von den Zusätzen nicht irren läßt. So betrachtet vielleicht auch der Wortverständige das Wesen der Worte und läßt sich nicht irren, ob ein Buchstabe zugesetzt oder versetzt oder ausgelassen ist, oder ob die Bedeutung des Wortes in durchaus anderen Buchstaben liegt. Wie in dem Beispiel, das wir oben hatten: Astanax und Hektor haben gar keine Buchstaben gemein als nur das t, und doch haben sie dieselbe Bedeutung. Und welche Gemeinschaft nach den Buchstaben hat Archepolis (Stadtherr) mit ihnen? Dennoch aber hat es denselben Sinn. So gibt es viele andere Namen, die nichts anderes als ›König‹ bedeuten. Andere bezeichnen dagegen einen Feldherrn, wie Agis (Führer), Polemarchos (Kriegsherr) und Eupolemos (Kriegsstark), andere den Beruf eines Arztes, wie Iatrokles (Heilberühmt) und Akesimbrotos (Heilmann). Überhaupt könnten wir leicht viele andere Worte finden, die nach den Silben und Buchstaben verschieden lauten, aber doch denselben Sinn ausdrücken. Glaubst du's, oder nicht?
Hermogenes: Allerdings.
Sokrates: Daher muß man den naturgemäßen Nachkommen auch denselben Namen zuteilen.
Hermogenes: Gewiß.
Sokrates: Was gebührt dagegen den widernatürlichen Nachkommen, die einem Wunder gleich entstanden sind? Wenn z.B. von einem braven und gottesfürchtigen Manne ein ruchloser[557] abstammte, sollen wir den nicht behandeln, wie wir vorher angaben: wenn nämlich ein Pferd den Sprößling einer Kuh geboren hätte, so solle es nicht nach der Mutter benannt werden, sondern nach der Gattung, zu der es gehöre?
Hermogenes: Freilich.
Sokrates: So muß man dem gottlosen Nachkommen des Gottesfürchtigen den Namen seiner Gattung zuteilen.
Hermogenes: So ist's.
Sokrates: Nicht also Theophilos (Gottlieb), auch nicht Mnesitheos (Gotthold), noch einen ähnlichen Namen darf er führen, sondern einen, der den entgegengesetzten Sinn hat, wenn dem Namen Richtigkeit zukommen soll.
Hermogenes: Ganz sicher, o Sokrates.
Sokrates: So scheint auch Orestes, o Hermogenes, seinen Namen mit Recht zu tragen, mag ihn nun ein Zufall oder auch ein Dichter ihm gegeben haben, denn er drückt das Tierartige in seiner Natur und Wilde aus, wenn man ihn mit oreinon (bergig) zusammenstellt.
Hermogenes: So scheint es, o Sokrates.
Sokrates: Auch sein Vater scheint ja einen seiner Natur entsprechenden Namen zu führen.
Hermogenes: Vermutlich.
Sokrates: Denn Agamemnon ist ja ein Mann, der, was er einmal beschlossen hat, mit Ausdauer durchzuführen imstande ist, indem er mit tapferem Sinn seine Beschlüsse zum Ziele bringt. Ein Beweis dafür ist das mutige Ausharren des Heeres vor Troia. Daß dieser Mann bewundernswert (agastos) sei im Ausharren (epimonê), deutet daher der Name Agamemnon an. Vielleicht trifft es auch beim Atreus zu. Denn der Mord, den er an Chrysipos beging, und seine rohen Taten gegen Thyestes sind allesamt strafbar und unsittlich (atêra pros aretên). Die Bedeutsamkeit des Namens tritt allerdings ein wenig zurück und ist verhüllt, so daß er nicht allen das Wesen des Mannes offenbart. Denen aber, die sich auf Namen vergehen, gibt er deutlich genug zu erkennen, was es heißen will – Atreus! Denn man mag an ateires (unbeugsam) oder atreston (ohne Furcht und Zittern) oder atêron (unsittlich) denken, so hat er nach allen Seiten seinen Namen verdient. Auch Pelops hat, dünkt mir, seinen Namen mit Fug und Recht. Denn[558] dieser Name bedeutet einen Mann, der auf das Nahe sieht (pelas und ops) [und wer das tut, verdient diesen Beinamen].
Hermogenes: Wieso?
Sokrates: Wird ja doch von jenem Manne erzählt, er sei bei der Ermordung des Myrtilos nicht imstande gewesen, die Folgen, die in der Ferne sein Geschlecht trafen und die Fülle des Unheils, das er auf es häufte, zu ahnen oder vorauszusehen, weil er nur das Naheliegende und das Augenblickliche sah – das heißt aber pelas (Nahe) – und auf jede Art die Vermählung mit der Hippodameia begehrte. Daß ferner Tantalos einen richtigen und treffenden Namen erhalten hat, wofern die Geschichten wahr sind, die man von ihm erzählt, kann jeder sehen.
Hermogenes: Welche Geschichten?
Sokrates: Die vielen Unglücksfälle, die ihn noch bei Lebzeiten trafen, die zuletzt auch sein ganzes Vaterland ins Verderben brachten, und dann nach seinem Tode das Schweben (talanteia) des Steines über seinem Haupte im Hades, stimmt überraschend mit seinem Namen zusammen. Es sieht gerade aus, als hätte man ihn den Allerunglücklichsten (talantatos) nennen wollen und hätte dafür verhüllend Tantalos gesagt. So hat auch seinen Namen das Geschick der Sage gebildet. Auch sein angeblicher Vater Zeus scheint gar passend seinen Namen zu führen. Es ist aber nicht leicht zu erkennen. Denn gerade wie ein ganzer Satz ist der Name Zeus. Man hat ihn aber in zwei Hälften geteilt, und die einen bedienen sich der einen, die anderen der anderen Hälfte. Denn einige nennen ihn Zeus, Akkusativ Zêna, andere Dia. Verbinden wir beide mit einander, so offenbaren sie das Wesen des Gottes, und gerade das, behaupten wir, soll der Name zu erzielen imstande sein. Denn es gibt für uns und alles übrige nichts, was in höherem Grade Ursache des Lebens (zên) wäre, als der Herr und König über alles. Daher wird mit Recht dieser Gott durch seinen Namen als der bezeichnet, durch (dia) welchen alle übrigen lebenden Wesen das Leben haben. Aber, wie gesagt, der Name ist geteilt, obwohl eigentlich eins, in Dia und Zen. Daß er der Sohn des Kronos sein soll, könnte man beim ersten Hören für frevelhaft halten, muß es aber für treffend erkennen, daß Zeus der Sohn eines großen Verstandes sei. Denn koros heißt hier nicht das Kind, sondern das Reine und Ungetrübte seines Verstandes[559] (nous). Er ist nach der Sage der Sohn des Uranos. Der Aufblick nach oben wird mit Recht so genannt: himmlisch (ourania), der da sieht, was oben ist (horôsa ta anô). Daher stamme denn auch, sagen die Meteorologen, der reine Verstand, und Uranos trage seinen Namen mit Recht. Wenn ich noch das Geschlechtsregister des Hesiod im Gedächtnis hätte und die Vorfahren, die er noch höher hinauf angibt, so würde ich die Bedeutsamkeit ihrer Namen darzutun nicht eher aufhören, bis ich die Wirkungen dieser Weisheit durchversucht hätte, die jetzt so plötzlich mich überfallen hat, ohne daß ich weiß, woher, und bis ich wüßte, ob sie mir einmal den Dienst versagen würde, oder nicht.
Hermogenes: Allerdings scheinst du mir, Sokrates, gerade wie die Begeisterten plötzlich in Orakeln zu reden.
Sokrates: Ich vermute, lieber Hermogenes, daß sie zumeist von Euthyphron aus Prospalta auf mich übergegangen ist; denn heute von früh an war ich lange mit ihm zusammen und hörte ihm zu. Nun hat er mir wahrscheinlich in seiner Begeisterung mit seiner übermenschlichen Weisheit nicht bloß die Ohren erfüllt, sondern auch die Seele in Beschlag genommen. Daher, denke ich, machen wir es so, daß wir uns für heute ihrer bedienen und noch das Weitere über die Namen durchgehen, morgen aber, wenn es euch so recht ist, wollen wir ihr den Laufpaß geben und uns reinigen lassen, wenn wir einen ausfindig machen, der sich auf dergleichen Reinigungen versteht, sei es ein Priester, sei es ein Sophist.
Hermogenes: Wohl! Ich bin's zufrieden. Denn gar zu gern möchte ich noch das Weitere über die Namen vernehmen.
Sokrates: Gut! So soll's geschehen. Womit sollen wir nun unsere Betrachtung beginnen, da wir ja doch einmal eine gewisse Methode eingeschlagen haben, um zu sehen, ob uns die Namen selbst dafür Zeugnis ablegen, daß sie nicht schlechthin nach Zufall gegeben seien, sondern eine gewisse Bedeutsamkeit haben? Die gewöhnlichen Namen der Heroen und Menschen jedoch könnten uns vielleicht irreführen. Denn viele führen Namen, die denen ihrer Vorfahren gleichbedeutend sind, und manchem kommt der seinige nicht zu, wie wir anfangs ausgesprochen haben; viele Namen sind aber auch gleichsam als Wünsche hingestellt, wie Eutychides (Glückskind), [560] Sosias (Heil), Theophilos (Gottlieb) und viele andere. Dergleichen Namen müßten wir also wohl auf sich beruhen lassen. Viel mehr Wahrscheinlichkeit hat es, Richtigkeit bei denen zu finden, die sich auf ewige Wesen beziehen; denn darauf muß die Bildung der Namen am meisten Fleiß verwandt haben. Vielleicht sind aber auch einige von ihnen mehr infolge göttlichen als menschlichen Einflusses festgesetzt worden.
Hermogenes: Du scheinst mir recht zu haben, o Sokrates.
Sokrates: Ist es also nicht recht, die Betrachtung mit den Göttern zu beginnen und zu untersuchen, inwiefern denn eigentlich die Götter gerade diesen Namen theoi mit Recht erhalten haben?
Hermogenes: Natürlich.
Sokrates: Ich vermute also folgendes: Die ersten Menschen, die Hellas bewohnten, scheinen für Götter allein das gehalten zu haben, was jetzt noch viele Barbaren dafür ansehen: Sonne, Mond, Erde, Sterne und Himmel. Weil sie nun alles dieses immer in rascher Bewegung und laufen sahen, haben sie von dieser Eigenschaft des Laufens (thein) sie Läufer (theoi) genannt; obwohl sie dann später die übrigen kennenlernten, nennen sie doch alle schon mit diesem Namen. Ist meine Behauptung wahrscheinlich oder nicht;
Hermogenes: In hohem Grade.
Sokrates: Was sollen wir nun hiernach vornehmen; Offenbar doch Dämonen, Heroen und Menschen?
Hermogenes: Die Dämonen.
Sokrates: Ja wahrlich, Hermogenes, was soll wohl der Name Dämon bedeuten; Bedenke, ob wohl meine Annahme richtig ist?
Hermogenes: Sprich sie nur aus!
Sokrates: Weißt du, was nach Hesiod die Dämonen sind?
Hermogenes: Ich entsinne mich nicht.
Sokrates: Nicht, daß nach ihm zuerst unter den Menschen ein goldenes Geschlecht lebte?
Hermogenes: Das weiß ich.
Sokrates: Also darüber sagt er:
Doch als dieses Geschlecht ins Dunkel entrückte das Schicksal,
Wurden der unteren Welt hochhehre Dämonen genannt sie,
Edle, des Leids Abwender, die Hüter der sterblichen Menschen.[561]
Hermogenes: Was willst du damit?
Sokrates: Er nennt, denke ich, das goldne Geschlecht nicht ein aus natürlichem Golde Bestehendes, sondern ein gutes und edles. Zum Beweise dient mir, daß er auch uns das eiserne Geschlecht nennt.
Hermogenes: Du hast recht.
Sokrates: Glaubst du nicht, er werde auch von den jetzigen Menschen zu jenem goldenen Geschlechte jeden zählen, der gut ist?
Hermogenes: Wahrscheinlich.
Sokrates: Die Guten sind vernünftig, nicht wahr?
Hermogenes: Ja.
Sokrates: So also nennt er vorzüglich, wie mir dünkt, die Dämonen. Weil sie vernünftig und sinnig (daêmones) waren, nannte er sie Dämonen (daimonas). Auch findet sich in unserer alten Sprache so das Wort. Daher hat er recht, und andere Dichter auch, wenn sie sagen, wenn ein Guter gestorben sei, so erlange er großen Preis und Ehre und werde ein Dämon nach der Eigenschaft der Vernunft. Danach behaupte auch ich, jeder Mann, der gut ist, sei dämonisch im Leben und im Tode und heiße mit Recht ein Dämon.
Hermogenes: Auch ich muß dir, Sokrates, ganz beistimmen. Was wäre aber ein Heros?
Sokrates: Das ist gar nicht schwer zu erkennen. Denn ihr Name ist ein wenig verschoben und deutet ihre Abkunft vom Eros an.
Hermogenes: Wie meinst du das?
Sokrates: Weißt du nicht, daß die Heroen Halbgötter sind?
Hermogenes: Nun?
Sokrates: So sind sie doch alle aus der Liebe eines Gottes zu einer Sterblichen oder eines Sterblichen zu einer Göttin entstanden. Wenn du auch dies nach der altattischen Aussprache betrachten willst, wirst du es besser verstehen. Denn dann wird dir klar werden, daß von dem Namen des Eros, dem die Heroen ihre Entstehung verdanken, nur wenig abgewichen ist, um des- neuen – Namens willen. Entweder also bezeichnet der Namenbildner die Heroen in diesem Sinn, oder weil sie weise waren und gewaltige Redner (rhêtores) und Dialektiker und das Fragen (erôtan) verstanden; denn eirein heißt so viel als reden.[562] Wie ich denn eben sagte, in der attischen Mundart heißen die Heroen Redner (rhêtores) und Fragekünstler (erôtêtikoi), und der Heroenstamm wird daher zu einem Geschlecht der Rhetoren und Sophisten. Doch das ist nicht schwer zu verstehen; viel schwieriger, warum die Menschen eigentlich anthrôpoi heißen: oder weißt du's?
Hermogenes: Woher, mein Bester, soll ich's wissen? Doch auch, wenn ich imstande wäre, es aufzufinden, würde ich mir den Kopf nicht zerbrechen, weil ich glaube, du wirst es leichter finden als ich.
Sokrates: Du traust, scheint es, der Eingebung Euthyphrons?
Hermogenes: Natürlich.
Sokrates: Daran tust du wohl. Denn auch jetzt, dünkt mir, ist mir das fein in den Sinn gekommen, und wenn ich mich nicht in acht nehme, werde ich vielleicht heute noch weiser werden, als ich sollte. Bedenke also, was ich meine: Denn zunächst muß man bei den Worten das festhalten, daß man bei der Benennung nach dem auszudrückenden Sinn oft Buchstaben einschiebt, andere ausstößt und die Akzente verändert. Zum Beispiel Dii philos (Gott geliebt): Damit dieser Satzteil ein Wort werde, wirft man das eine Iota aus und betont die mittlere Silbe, statt scharf, schwertonig (Diphilos). In anderen Fällen dagegen fügt man Buchstaben ein und betont vorher schwertonige Silben scharf.
Hermogenes: Du hast recht.
Sokrates: Also eine dieser Umgestaltungen hat, wie mir vorkommt, auch der Ausdruck für Menschen (anthrôpoi) erfahren. Denn es ist aus einem Satz ein Wort geworden, indem ein Buchstabe, das a nämlich, ausfiel und das Ende schwertonig wurde.
Hermogenes: Wieso?
Sokrates: Folgendermaßen: Es bedeutet dieses Wort anthrôpos (Mensch), daß, während die Tiere nichts überlegen noch vergleichen noch bedenken, was sie gesehen, daß der Mensch nicht bloß gesehen hat – dies bedeutet das opôpe, sondern daß er, was er gesehen hat, auch bedenkt (anathrei) und vergleicht. Daher also heißt unter den Geschöpfen allein der Mensch mit Recht anthrôpos, weil er bedenkt, was er gesehen hat (anathrôn ha opôpen).[563]
Hermogenes: Was nun? Darf ich dich weiter fragen über das, worüber ich gern Auskunft hätte?
Sokrates: Freilich.
Hermogenes: Hiermit scheint mir also eine andere Sache nah verwandt. Denn wir reden doch von Teilen des Menschen, von Seele und Leib?
Sokrates: Allerdings.
Hermogenes: Laß uns daher auch diese Worte zu zerlegen versuchen, wie die früheren!
Sokrates: Du meinst, wir sollen in Betrachtung ziehen, inwiefern die Seele den Namen psychê verdiene, dann auch sôma (den Leib) vornehmen?
Hermogenes: Ja.
Sokrates: Um es also so aus dem Stegreif zu sagen, so glaube ich, hatten die, die ihr den Namen psychê gaben, dabei im Sinne, daß sie durch ihr Einwohnen im Leibe der Grund seines Lebens ist, da sie das Atmen möglich macht und ihn stets neu belebt (anapsychei), während der Leib hinsinkt und abstirbt, wenn der belebende Hauch ihn verläßt. Daher, meine ich, nannte man die Seele psychê. Doch, wenn du willst, halt einmal! Denn ich glaube eine Erklärung wahrzunehmen, die den Anhängern Euthyphrons noch glaubhafter sein wird. Denn diese würden sie geringschätzig ansehen und für schwerfällig erklären. Bedenke aber, ob die folgende auch deinen Beifall hat?
Hermogenes: Sag sie nur!
Sokrates: Was sonst hält (echei) und trägt (ochei) wohl die Natur (physis) des ganzen Leibes, daß er leben und umherwandeln kann, als die Seele?
Hermogenes: Nichts sonst.
Sokrates: Ferner: Glaubst du nicht auch mit Anaxagoras, daß die Vernunft und die Seele auch die Natur aller übrigen Dinge ordne und zusammenhalte?
Hermogenes: Gewiß.
Sokrates: Nach dieser Eigenschaft also verdiente sie wohl physechê zu heißen, als das die Natur tragende und haltende Prinzip, hê physin ochei kai echei; man kann aber auch in zierlicherer Form psychê sagen.
Hermogenes: Allerdings, und diese Ableitung kommt mir auch kunstvoller vor als jene.[564]
Sokrates: So ist es auch. Lächerlich freilich sieht der Name aus, so wie er hingestellt ward.
Hermogenes: Doch wie soll's nun mit dem folgenden stehn?
Sokrates: Du meinst sôma (den Leib)?
Hermogenes: Ja.
Sokrates: Der Name hat ja, scheint es, eine vielfache Bedeutung; und zwar noch in hohem Grade, auch wenn man nur wenig abändert. Denn einige halten ihn für das Grabmal (sêma) der Seele, als wäre sie im jetzigen Leben begraben. Wiederum heiße er auch darum mit Recht ein sêma (Zeichen), weil durch ihn die Seele zeige, was sie zeigen wolle. Doch haben meiner Ansicht nach eigentlich die Anhänger des Orpheus diesen Namen aufgestellt, weil nach ihnen die Seele für ihre Vergehen zu büßen hat. Sie habe aber im Leibe einen Umbau, nach dem Bilde eines Gefängnisses, damit sie darin aufbewahrt werde (sôzêtai). Es sei also, wie man es nenne, das sôma (Gewahrsam) der Seele so lange, bis sie die verdiente Strafe abgebüßt habe; so brauche man auch nicht einen einzigen Buchstaben abzuändern.
Hermogenes: Dieser Name ist, denke ich, hinreichend erklärt. Könnten wir aber auch die Namen der Götter, wie du eben über den des Zeus sprachest, in derselben Weise durchnehmen und ergründen, inwiefern sie eigentlich ihre Namen mit Recht tragen?
Sokrates: Ja, mein Hermogenes, wir könnten es gewiß, wenn wir vernünftig wären, auf eine, und zwar eine sehr gute, Weise, nämlich daß wir über die Götter nichts wissen, weder über sie selbst noch über ihre eigentlichen Namen, mit denen sie sich selbst nennen. Denn offenbar geben sie sich die wahrhaftigen Namen. Eine zweite Weise, die ebenfalls richtig ist, besteht darin, daß auch wir sie nennen, wie und wonach sie selbst benannt zu werden gern haben, wie es in den Gebeten Sitte ist sie anzurufen, da man weiter nichts weiß. Denn diese Sitte dünkt mich gut. Wenn du nun willst, so laß uns unsere Betrachtung so einrichten, als hätten wir den Göttern im voraus gesagt, daß wir über sie uns kein Urteil anmaßen wollen – denn wir glauben dazu nicht befähigt zu sein –, sondern nur über die Vorstellung, nach welcher die Menschen ihnen ihre Namen beilegten. Denn das ist unverfänglich.[565]
Hermogenes: Du sprichst bescheiden, o Sokrates. So laß es uns machen!
Sokrates: Wollen wir nicht mit der Hestia den Anfang machen, wie es Brauch ist?
Hermogenes: Das schickt sich.
Sokrates: Was mag wohl der gedacht haben, der ihr den Namen Hestia gab?
Hermogenes: Wahrhaftig, die Antwort darauf halte ich nicht für leicht.
Sokrates: Die ersten Namenbildner, guter Hermogenes, scheinen wenigstens nicht untüchtige Leute gewesen zu sein, sondern gar scharfsinnige, himmelskundige Männer.
Hermogenes: Wieso denn?
Sokrates: Ich muß die Namenbildung für das Werk solcher Leute halten. Wenn man die ausländischen Ausdrücke mitbetrachtet, so findet man erst recht den Sinn von jedem Wort. So z.B. auch bei dem, was wir ousia (Wesen) nennen, sagen einige essia, andere dagegen ôsia. Zunächst nun ist es annehmbar, daß nach der einen Form das Wesen der Dinge Hestia (Hestia) heiße. Wenn wir Athener andererseits hestia nennen, was an dem Sein Anteil hat, so hieße das danach ebenfalls mit Recht Hestia. Denn wahrscheinlich hat man auch bei uns vor alters essia statt ousia gesagt. Wenn man ferner an die Opfer denkt, wird es glaublich, daß die Namenbildner wirklich diesen Gedanken hatten. Denn zuerst vor allen Göttern müssen der Hestia diejenigen opfern, welche das Wesen von allem Hestia benannt haben. Die aber andererseits ôsia sagen, die mögen wohl mit Herakleitos glauben, daß alle Dinge in Bewegung sich befinden und nichts Bestand habe. Daher sei die Ursache und das Prinzip desselben das Stoßende (ôthoun), und daher heiße es mit Recht ôsia. Doch auch dies wollen wir nur so gesagt haben, als verständen wir nichts davon. – Nach der Hestia verdienen Rhea und Kronos in Betracht zu kommen. Doch den Namen des Kronos haben wir schon durchgenommen. Indessen habe ich vielleicht nicht recht.
Hermogenes: Wieso denn, o Sokrates?
Sokrates: Bester, ich sehe einen ganzen Schwarm von Weisheit.
Hermogenes: Wie ist er denn?[566]
Sokrates: Lächerlich klingt es freilich; doch hat die Sache wohl einige Wahrscheinlichkeit für sich.
Hermogenes: Wieso denn?
Sokrates: Ich glaube zu erkennen, daß Herakleitos ganz uralte Lehrsätze vorbringt, die sich ganz und gar auf Kronos und Rhea beziehen, und zwar, was auch Homer schon sagte.
Hermogenes: Wie meinst du das?
Sokrates: Herakleitos sagt doch, alles bewege sich und nichts habe Bestand, und indem er die Dinge mit dem Strom eines Flusses vergleicht, sagt er: Zweimal kannst du in denselben Fluß nicht hinabsteigen.
Hermogenes: So ist's.
Sokrates: Wie weiter? Scheint dir der, der den Stammeltern aller Götter die Namen Rhea und Kronos gab, der Ansicht des Herakleitos sehr fern zu stehen? Glaubst du, er habe zufällig beiden Namen von Strömen gegeben? Wie auch Homer den Okeanos nennt den Erzeuger der Götter und als Mutter die Tethys. Ich glaube, auch Hesiod. Orpheus aber sagt irgendwo:
Erst Okeanos hielt, der edelflutende Hochzeit
Der sich die Tethys freite, von Mutterseite ihm Schwester.
Bedenke also, daß dies unter einander stimmt und ganz auf Herakleitos' Ansicht hinauskommt!
Hermogenes: Darin, scheint es, liegt etwas Wahres. Doch was der Name Tethys soll, verstehe ich nicht.
Sokrates: Doch so viel sagt er ja fast selbst, daß er der Name einer Quelle sei, nur verhüllt. Denn das Durchsiebende und Durchsickernde (diattômenon und êthoumenon) ist das Bild einer Quelle. Aus diesen beiden Worten aber ist der Name Tethys zusammengesetzt.
Hermogenes: Das ist fein, o Sokrates.
Sokrates: Sollt' es auch nicht? Doch was folgt weiter? Den Zeus hatten wir schon.
Hermogenes: Ja.
Sokrates: So laß uns seine Brüder nehmen, den Poseidon und Pluton und den anderen Namen, den man ihm gibt!
Hermogenes: Gut.
Sokrates: Dem Poseidon hat wohl der erste Namenbildner seinen Namen daher beigelegt, weil ihn die Natur des Meeres im[567] Schreiten aufhielt und nicht weiter vorgehn ließ, sondern ihm gleichsam zu einer Fessel der Füße wurde. Den Gott, der über diese Kraft herrscht, nannte er daher Poseidon, als wäre er posidesmos, fußgefesselt. Das e ist vielleicht des Wohlklangs halber eingesetzt. Vielleicht drückt er auch nicht das aus, sondern statt des s wurden ursprünglich zwei l gesprochen, weil der Gott viel wisse – polla eidôs. Vielleicht heißt er auch vom Erschüttern der Erschütternde (ho seiôn). Dann sind p und d eingesetzt. Der Name Pluton aber bezieht sich auf die Gabe des Reichtums, ploutos, weil aus der Tiefe der Erde der Reichtum heraufkommt. Der Name Hades aber bezeichnet wohl nach der Annahme der meisten das Unsichtbare (aeides), und weil sie den Namen fürchten, heißen sie ihn Pluton.
Hermogenes: Was hältst aber du davon, Sokrates?
Sokrates: Mir scheint es, die Menschen haben über die Natur dieses Gottes vielfach irrige Vorstellungen und fürchten ihn ohne Grund. Denn sie fürchten ihn, weil jeder von uns, wenn er einmal tot ist, stets dort ist; und weil die Seele des Leibes bar zu ihm hingeht, auch das fürchten sie. Mir scheint dies ganz auf ein und dasselbe hinzuzielen, das Reich des Gottes und sein Name.
Hermogenes: Wie doch?
Sokrates: Ich will dir meine Ansicht sagen. Sage mir doch, welches ist für irgend ein Wesen das stärkere Band, daß es irgendwo bleibe: Zwang oder Neigung?
Hermogenes: Weit stärker, Sokrates, ist die Neigung.
Sokrates: Würden also wohl dem Hades nicht viele entrinnen, wenn er nicht alle, die dorthin kommen, mit dem stärksten Bande fesselte?
Hermogenes: Offenbar.
Sokrates: Also fesselt er sie mit einer Neigung, wie's scheint, wenn er sie überhaupt mit dem mächtigsten Bande fesselt und nicht mit Zwang.
Hermogenes: So scheint es.
Sokrates: Gibt es nicht wieder viele Neigungen?
Hermogenes: Ja.
Sokrates: Folglich fesselt er sie mit der mächtigsten Neigung unter den Neigungen, wenn er sie ja mit dem mächtigsten Bande halten will.[568]
Hermogenes: Ja.
Sokrates: Gibt es eine mächtigere Neigung, als wenn einer im Verkehr mit einem anderen das Mittel sieht, selber besser zu werden?
Hermogenes: Wahrlich keineswegs, o Sokrates.
Sokrates: Darum also, laß uns sagen, wolle keiner von dort hierher zurückkehren, auch selbst die Sirenen nicht, sondern sie seien mit allen übrigen bezaubert. So schöne Reden weiß Hades vorzutragen, und, nach diesem Satz wenigstens, ist Hades ein vollkommener Sophist und großer Wohltäter seiner Umgebung, da er ja auch den hiesigen Menschen so viele Güter heraufsendet. So vielen Überfluß hat er dort, und davon erhielt er den Namen Pluton. Daß er ferner mit den Menschen nicht verkehren will, solange sie ihre Leiber haben, sondern erst dann mit ihnen in Verbindung treten will, wenn die Seele rein von allen dem Leibe anhaftenden Übeln und Begierden ist, – scheint er dir darin nicht Philosoph, der wohl bedacht hat, daß er sie durch diese Bande mittels ihrer Neigung zur Tugend halten könnte; hätten sie aber die rasenden Triebe des Leibes, so könnte nicht einmal sein Vater Kronos sie bei sich zurückhalten, wenn er sie auch mit den Banden fesselte, die, wie man sagt, er selber trug?
Hermogenes: Da hast du wohl recht, o Sokrates.
Sokrates: So ist es denn weit entfernt, Hermogenes, daß der Name Hades von aeidês (unsichtbar) stamme; sondern vielmehr weil er alles Schöne immer weiß (aei eidôs), hat ihn danach der Gesetzgeber Hades benannt.
Hermogenes: Gut. Doch weiter: wie erklären wir Demeter, Hera, Apollon. Athene, Hephaistos, Ares und die übrigen Götter?
Sokrates: Demeter hat offenbar nach der Gabe der Speise, die sie gibt wie eine Mutter (didousa hôs mêtêr), ihren Namen. Hera aber ist gar liebenswürdig, eratê, wie denn auch Zeus sie aus Liebe genommen haben soll. Doch vielleicht hat auch der Gesetzgeber als Himmelskundiger die Luft, aêr, Hera genannt und das verhüllt, indem er den Anfang ans Ende setzte. Das kann man erkennen, wenn man den Namen Hera oft hinter einander ausspricht. Pherrephatta aber – auch vor dem Namen fürchten sich viele, wie vor Apollon, aus Unbekanntschaft[569] wohl mit der wahren Bedeutung der Namen. Denn sie denken an die Veränderung in Phersephone (die Todbringende), und dann kommt er ihnen schrecklich vor. Er bedeutet jedoch, daß die Göttin weise (sophê) sei. Denn weil die Dinge in Bewegung (pheromena) sind, so mag Weisheit (sophia) sein, was sie anhält, betastet und ihnen folgen kann. Pherepapha also wäre der rechte Name der Göttin, wegen ihrer Weisheit und der Betastung des Bewegten (epaphê tou pheromenou). Daher ist auch Hades, ihr Gemahl, der Weise, weil sie dieselbe Eigenschaft besitzt. Jetzt aber verdreht man ihren Namen, weil man den Wohlklang höher achtet als die Wahrheit, und nennt sie Pherrephatta. Ebenso geht es, wie gesagt, auch mit Apollon. Viele sind vor dem Namen des Gottes in Angst, als wenn er etwas gar Furchtbares bedeute. Oder hast du das nicht bemerkt?
Hermogenes: Allerdings, du hast recht.
Sokrates: Und doch ist er meines Bedünkens dem Wesen des Gottes gar trefflich angepaßt.
Hermogenes: Wieso?
Sokrates: Ich will versuchen, dir meine Ansicht mitzuteilen. Denn es ist unmöglich, daß ein einziger Name besser für die vier Eigenschaften des Gottes passen könnte, so daß er an alle anklänge und gewissermaßen die Kunst der Musik, des Wahrsagens, der Heilkunde und des Bogenschießens offenbarte.
Hermogenes: Nur heraus damit! Denn der Name muß nach deinen Worten etwas ganz Absonderliches sein.
Sokrates: Wohlgefugt ist er, weil der Gott musikalisch ist. Denn zunächst das Reinmachen und die Reinigungen der Heilkunst und der Wahrsagerei, ferner die Räucherungen, die Bäder, die dabei vor kommen, und Besprengungen, sei es im Dienst der Heilkunde oder der Wahrsagekunst, alles dies hat nur ein Ziel: den Menschen rein darzustellen an Leib und Seele. Nicht?
Hermogenes: Allerdings.
Sokrates: Sollte er also nicht der Gott sein, der da reinigt, abwäscht (ho apolouôn) und von den betreffenden Übeln erlöst (apolyôn)?
Hermogenes: Sicherlich.
Sokrates: Nach den Lösungen und Abwaschungen wäre[570] daher, weil er der Arzt dafür ist, sein rechter Name Apoluon. Mit Bezug auf die Wahrsagekunst aber, die Wahrheit und das Einfache (haploun) hieße er mit Recht, wie ihn die Thessalier nennen: Denn alle Thessalier nennen diesen Gott Aplun. Weil er ferner immer des Schusses mächtig ist durch seine Bogenschützenkunst, heißt er der Immertreffer, aei ballôn. In bezug auf die Musik muß man annehmen, daß das a, wie in akolouthos (Geleiter) und akoitis (Gemahlin) und oft, das Zusammen bedeutet, so auch hier das Zusammendrehen (polêsis) sowohl am Himmel, bei dem man ja von Polen (poloi) spricht, als auch bei dem Zusammenklang im Gesang, den man Symphonie nennt, weil alles dies, wie die Gelehrten in der Musik und Astronomie sagen, zusammen nach einer gewissen Harmonie sich drehe (polei). Dieser Gott aber hat die Harmonie unter sich und dreht alles zusammen (homopolôn) bei Göttern und Menschen. Wie man nun statt homokeleuthos und homokoizis sagte akolouthos (eleiter) und akoitis (Gemahlin) und an die Stelle von homo ein a setzt, so hat man auch den Gott Apollon benannt, weil er ein homopolôn, ein Zusammendreher, und hat ein l eingeschoben, weil er sonst gleichlautend würde mit dem unangenehmen Namen (apolôn, der da verderben wird). Diese Ableitung nehmen auch jetzt noch manche an, und weil sie die innere Bedeutung des Namens nicht richtig auffassen, fürchten sie sich davor, als bezeichne er eine Vernichtung. Er aber, wie gesagt, klingt an alle Eigenschaften des Gottes an: das Einfache (haploun), sein Immertreffen (aei ballôn), Abwaschen (apolouôn) und Zusammendrehen (homopolôn). – Die Musen aber und die musische Kunst überhaupt hat er wohl vom Nachsinnen (môsthai), dem Nachdenken und der philosophischen Tätigkeit, so benannt; Leto ferner von der Sanftmut der Göttin, weil sie nachgiebig ist, ethelêmôn, wenn man sie um etwas bittet; vielleicht aber nach der Aussprache der Ausländer: denn viele nennen sie Letho (Lêthô). Dann ist sie wohl von denen, die so sprachen, Leietho (Leiêthô) genannt worden, weil sie keinen rauhen, sondern einen sanften und geschmeidigen Charakter, leio nêthos, besitzt. Artemis aber bezeichnet das Frische, artemes, und Sittsame, wegen ihrer Vorliebe für die Jungfräulichkeit. Doch vielleicht hat der Namengeber sie[571] der Tugend kundig, aretês histora, genannt und vielleicht auch, weil sie des Mannes Pflug in dem Weibe haßt, aroton. Aus einem dieser Gründe, oder aus allen zusammen, gab der Namengeber der Göttin ihren Namen.
Hermogenes: Wie ist's aber mit Dionysos und Aphrodite?
Sokrates: Schwierige Fragen das, o Sohn des Hipponikos! Doch es gibt ja für diese Götter neben der ernsthaften auch eine scherzhafte Auffassung der Namen. Nach der ernsthaften frage andere Leute; die scherzhafte aber können wir gleich durchnehmen. Denn diese Götter lieben den Scherz. Dionysos nämlich würde als der Geber des Weines, didous oinon, Didoinysos im Scherze heißen. Weil aber der Wein, oinos, die meisten der Trinkenden glauben, oiesthai, macht, sie hätten Verstand, nous, während sie ihn nicht haben, würde er mit vollstem Rechte oionous (sich für verständig haltend) heißen. In betreff der Aphrodite aber darf man dem Hesiod nicht widersprechen, sondern muß ihm zugeben, daß sie wegen ihrer Entstehung aus dem Schaum, aphros, Aphrodite heiße.
Hermogenes: Aber Sokrates, als Athener wirst du doch der Athene nicht vergessen und des Hephaistos und Ares!
Sokrates: Das wäre auch nicht recht.
Hermogenes: Gewiß nicht.
Sokrates: Der Grund, warum sie den anderen Namen trägt, ist nicht schwer anzugeben.
Hermogenes: Welchen?
Sokrates: Pallas nennt man sie doch?
Hermogenes: Allerdings.
Sokrates: Wenn wir nun diesen Namen von dem Waffentanze herleiteten, hätten wir, denke ich, recht. Denn sich selbst oder etwas anderes von der Erde oder mit den Händen in die Höhe heben, nennen wir doch schwingen (pallein) und schwingen lassen (pallesthai), tanzen und tanzen lassen.
Hermogenes: Freilich.
Sokrates: Datier also Pallas.
Hermogenes: Doch was meinst du denn zu dem anderen?
Sokrates: Dem Namen Athene?
Hermogenes: Ja.
Sokrates: Der ist schon schwieriger. Wahrscheinlich haben[572] nämlich auch die Alten über die Athene denselben Glauben gehabt, wie jetzt die gelehrten Ausleger des Homer. Denn nach den Erklärungen der meisten Von ihnen soll der Dichter die Göttin als Verstand und Denken dargestellt haben, und eine ähnliche Vorstellung hat sich wahrscheinlich auch der Namenbildner von ihr gemacht, mit einem noch stärkeren Ausdruck aber nennt er sie Gottesvernunft (theou noêsis) und will gewissermaßen sagen: Das ist die Gottvernunft, ha theonoa; dabei wendet er nach ausländischer Mundart das a statt des ê an und läßt i und s weg. Vielleicht auch nicht einmal so, sondern weil sie das Göttliche denke (theia noei), nannte er sie im Unterschied von anderen Theonoë. Doch liegt auch die Annahme nicht ferne, daß er sie habe Ethonoë nennen wollen, weil diese Göttin die Vernunft in der Gesinnung sei, en tô êthei noêsis. Dann aber hat er selbst oder haben andere später den Namen schöner machen wollen, wie man glaubte, und nannten sie Athene.
Hermogenes: Weiter den Hephaistos? Was sagst du darüber?
Sokrates: Nach dem edlen Kenner des Lichtes, phaeos histôr, fragst du?
Hermogenes: Jawohl.
Sokrates: Das kann wohl jeder sehen, daß er Phaistas ist, ein Leuchtender, und das ê nur angenommen hat.
Hermogenes: Gut; wenn dir nicht etwa, wie's fast scheint, noch etwas anderes in den Sinn kommt.
Sokrates: Doch damit das nicht geschehe, frage nach dem Ares!
Hermogenes: Nun, so trage ich nach ihm.
Sokrates: Er mag also, wenn du willst, nach seinem männlichen und tapferen Wesen, arrhen kai andreion, Ares heißen. Doch auch nach seiner rauhen und unbeugsamen Natur – man nennt das arrhatos würde einem so durch und durch kriegerischen Gotte der Name Ares gebühren.
Hermogenes: Allerdings.
Sokrates: Laß uns jedoch nun, bei den Göttern, von den Göttern Abschied nehmen. Denn ich fürchte mich, über sie zu reden. Wenn du aber über einiges andere Auskunft wünschest, so lege es mir vor, damit du siehst, wie trefflich des Euthyphron Rosse.
[573] Hermogenes: Das will ich tun; nur gestatte mir noch eine Frage über Hermes, da Kratylos behauptet, ich sei kein Hermogenes, kein Hermessohn: Laß uns also zu erwägen suchen, welchen Sinn der Name Hermes hat, damit wir auch sehen, ob er wirklich recht hat!
Sokrates: Wahrlich, Hermes muß ja irgendwie auf die Rede gehen, Dolmetscher sein, hermêneus, und Bote, diebisch, täuschend in Reden und Meister im Marktverkehr: diese ganze Beschäftigung hat doch in der Kraft der Rede ihren Mittelpunkt. Was ich auch früher schon sagte, eirein (sagen) ist der Gebrauch der Rede; jenes Wort aber, das auch Homer oft gebraucht, emêsato sagt er, bedeutet ausdenken. Nach diesen beiden Worten befiehlt uns daher der Gesetzgeber den Gott, der das Reden und die Rede ausgedacht hat, [- das Reden heißt ja eirein -] zu nennen und sagt gleichsam: Ihr Menschen, der Gott, der das Reden erdacht hat (to eirein emêsato), verdiente bei euch den Namen Eiremes. Jetzt aber nennen wir ihn, wie wir glauben, mit einer Verschönerung des Namens Hermes. [Auch die Iris hat ja wohl von dem Reden (eirein) ihren Namen, weil sie Botin war.]
Hermogenes: Wahrlich, Kratylos hat doch recht, daß ich kein Hermogenes sei! Wenigstens in der Rede bin ich nicht sehr erfinderisch.
Sokrates: Daß ferner Pan, des Hermes Sohn, eine Doppelnatur hat, hat seinen guten Grund, mein Freund.
Hermogenes: Wieso?
Sokrates: Du weißt, daß die Rede alles, pan, andeutet und sich dreht und wendet. Auch ist sie doppelseitig, bald wahr, bald falsch.
Hermogenes: Gewiß.
Sokrates: Das Wahre an ihr ist glatt und göttlich und wohnt droben unter den Göttern, die Lüge aber unten unter dem größten Teile der Menschen, ist rauh und bockartig oder tragisch. Denn da in dem tragischen Lebenskreise gibt es auch die meisten Mythen und Lügen.
Hermogenes: Freilich.
Sokrates: Mit Recht wäre also der alles (pan) Andeutende und immer sich Wendende, aei polôn Pan Aipolos (Ziegenhirte), ein doppelgestaltiger Hermessohn, von oben glatt, nach[574] unten rauh und bocksgestaltig. Und sicherlich ist Pan die Rede oder der Rede Bruder, wenn er überhaupt des Hermes Sohn ist. Daß ein Bruder dem anderen gleiche, ist nicht zu verwundern. Doch, was ich eben sagte, mein Trefflicher, laß uns von den Göttern Abschied nehmen!
Hermogenes: Von dieser Klasse ja, mein Sokrates, wenn du's willst; warum solltest du dich aber nicht über solche auslassen, wie Sonne, Mond und Sterne, Erde, Äther, Luft, Feuer Wasser, Jahreszeiten und Jahr?
Sokrates: Du stellst mir freilich viele Aufgaben; doch will ich drangehen, wenn dir wirklich ein Gefallen damit geschieht.
Hermogenes: Wirklich, ein großer Gefallen.
Sokrates: Was willst du also zuerst? Oder sollen wir, wie du begannst, die Sonne vornehmen?
Hermogenes: Freilich.
Sokrates: Ihr Name Helios, hêlios also möchte leichter verständlich werden, wenn man die dorische Form zu Hilfe nimmt. Denn die Dorier sagen hali os. Halios aber mag sie in bezug darauf heißen, daß sie die Menschen zu demselben Zweck vereinigt, halizei, wenn sie aufgeht; oder auch darum, weil sie sich immer um die Erde drängt, aei heilei, in ihrem Laufe; vielleicht auch, weil sie auf ihrem Wege alles, was aus der Erde kommt, in Farbe kleidet: das aiolein aber heißt so viel als bunt färben.
Hermogenes: Ferner der Mond?
Sokrates: Dieser Name macht offenbar dem Anaxagoras sein Verdienst streitig.
Hermogenes: Wieso?
Sokrates: Er beweist ja ganz deutlich, daß der Satz, welchen jener neuerdings aussprach, viel älter ist, daß nämlich der Mond sein Licht von der Sonne erhalte.
Hermogenes: Inwiefern?
Sokrates: selas, Glanz, heißt doch so viel als Licht.
Hermogenes: Ja.
Sokrates: Dieses Licht aber ist immer, aei, gewissermaßen neu, neon, und alt, henon, am Monde, wenn nämlich die Anhänger des Anaxagoras recht haben. Denn bei ihrem Kreislauf um ihn herum wirft die Sonne immer neues Licht darauf, das alte aber bleibt aus dem vorhergehenden Monat.
[575] Hermogenes: Allerdings.
Sokrates: Es nennen ihn ja viele auch Selanaia.
Hermogenes: Allerdings.
Sokrates: Weil er immer alten und neuen Glanz hat, wäre der richtigste Name für ihn Selaenoneoaeia; zusammengezogen aber heißt er dann Selenaia.
Hermogenes: Der Name klingt freilich dithyrambisch, o Sokrates. Doch was sagst du zum Monat und zu den Sternen?
Sokrates: Der Monat, meis, sollte eigentlich vom Kleinerwerden (meiousthai) richtig meiês heißen. Die Gestirne aber, astra, führen, wahrscheinlich das Attribut des Blitzes, astrapê. Der Blitz aber wäre eigentlich, weil er die Augen blendet (anastrephei), eine Blendung, anastrôpê, jetzt aber heißt er des Wohllauts halber astrapê.
Hermogenes: Ferner Feuer und Wasser (pyr kai hydôr)?
Sokrates: Über pyr (Feuer) weiß ich nichts. Entweder scheint mich Euthyphrons Muse verlassen zu haben, oder es ist das gar schwer. Nun hab acht, welch ein Mittelchen ich für alle diese Namen in Anwendung bringe, die ich nicht zu erklären weiß!
Hermogenes: Nun, welches?
Sokrates: Das will ich dir sagen. Antworte mir nur: Könntest du mir etwa sagen, nach welchem Gesichtspunkt das Feuer, pyr, benannt ist?
Hermogenes: Ich wahrhaftig nicht.
Sokrates: So überlege dir, was ich darüber vermute: Denn ich glaube, daß die Hellenen, insbesondere solche, die unter der Herrschaft der Barbaren wohnen, viele Namen von den Barbaren genommen haben.
Hermogenes: Was willst du damit?
Sokrates: Wollte man die Bedeutsamkeit dieser Namen nach der hellenischen Sprache und nicht nach jener, aus der der Name stammt, untersuchen, so muß man, weißt du, ratlos werden.
Hermogenes: Freilich.
Sokrates: Vielleicht ist also auch der Name pyr ein Fremdwort. Denn man kann ihn einerseits nicht leicht mit einer hellenischen Mundart in Beziehung bringen; andererseits aber ist es eine bekannte Tatsache, daß die Phryger so sprechen, nur[576] mit einer geringen Abweichung. Geradeso ist es auch mit den Worten hydôr, Wasser, kynes, Hunde, und vielen anderen.
Hermogenes: Gut.
Sokrates: Solchen Worten darf man also keine Gewalt antun. Denn es ließe sich ja wohl etwas darüber sagen. Feuer und Wasser halte ich mir auf diese Art vom Leibe. Heißt dagegen, mein Hermogenes, nicht die Luft offenbar darum aêr, weil sie die Dinge von der Erde aufhebt (airei)?. Oder weil sie immer in Strömung ist (aei rhei)? Oder weil aus ihrer Strömung Wind entsteht? Denn die Dichter nennen doch des Windes Wehen aêtas. Vielleicht also heißt es aêtorrhoun, wie wenn man von Windströmungen redete. So etwa vermutlich auch, daß der Äther, aithêr, weil sein Strom immer um die Luft läuft, aei thei, richtig aeitheêr hieße. Der Sinn von gê (Erde) wird klarer, wenn man sie gaia nennt. Denn gaia würde nach Homer der richtige Ausdruck für Erzeugerin sein. Denn er braucht gegaasi für das Erzeugtwerden. Doch genug. Was hätten wir danach zu erklären?
Hermogenes: hôrai, die Jahreszeiten, o Sokrates, und eniautos und etos, das Jahr.
Sokrates: Die Hören muß man offenbar attisch nach alter Weise sprechen, wenn man die Angemessenheit des Namens verstehen will. Denn sie sind Grenzen, horai, weil sie Winter und Sommer, die Winde und die Zeit der Reife der Erdfrüchte begrenzen, horizein. Also weil sie begrenzen, verdienen sie den Namen horai. eniautos und etos scheinen zusammen einen Satz zu bilden. Denn was das Wachsende und Werdende jedes der Reihe nach ans Tageslicht bringt und in sich selber prüft, das nennen – wie oben den Namen Zeus in zwiefacher Scheidung die einen Zêna, die anderen Dia nannten – auch hier ebenso die einen eniautos, weil es in sich selbst, en heautô, die andern etos schlechthin, weil es prüft, etazei; der ganze Satz aber bezeichnet das in sich selbst Prüfende, zwiefach, obwohl es nur eines ist, so daß dadurch zwei Namen entstanden sind, eniautos und etos, aus einem Satze.
Hermogenes: Sokrates, du machst aber entschieden große Fortschritte!
Sokrates: Ich treibe bereits, denke ich, offenbar auf der Höhe der Weisheit.
[577] Hermogenes: Allerdings.
Sokrates: Bald wirst du das noch mehr sagen.
Hermogenes: Nach dieser Klasse wünschte ich gern eine Erörterung über die Bedeutsamkeit der herrlichen Namen, die auf die Tugend sich beziehen, z.B. phronêsis, Denken, synesis, Einsicht, dikaiosynê, Gerechtigkeit, und alle anderen derartigen Worte.
Sokrates: Da bringst du keine schlechte Klasse von Worten in Anregung. Doch da ich einmal das Löwenfell angezogen habe, darf ich nicht feige werden, sondern muß denn auch Denken, Einsicht, Meinung, Erkenntnis und alle übrigen schönen Worte, von denen du eben sprachst, in Betracht ziehen.
Hermogenes: Vorher dürfen wir sicherlich nicht ablassen.
Sokrates: Wahrhaftig, beim Hunde, der Gedanke, den ich schon eben hatte, ist keine üble Ahnung, daß es nämlich den Menschen der Urzeit, die die Namen gaben, erging wie auch den meisten Weisen unserer Zeit: Wenn sie das Wesen der Dinge untersuchen wollen, wird ihnen von dem häufigen Hinundherdrehen schwindelig, und dann kommt es ihnen vor, als ob die Dinge sich drehten und ganz und gar in Bewegung wären. Sie messen aber dann nicht dem Zustand in ihrem eigenen Inneren die Schuld dieser Vorstellung bei, sondern behaupten, die Dinge selbst seien so beschaffen, es gebe nichts Stetiges und Bleibendes darin, sondern immerfort seien sie im Fluß und in Bewegung und voll von jeder Art von Bewegung und Werden. Ich sage das aber mit bezug auf alle jetzt in Frage stehenden Worte.
Hermogenes: Inwiefern denn, o Sokrates?
Sokrates: Du hast vielleicht nicht bemerkt, daß die eben genannten Worte den Dingen durchaus in der Voraussetzung beigelegt sind, als seien diese in Bewegung, im Fluß und Werden begriffen?
Hermogenes: Das habe ich gerade nicht gemerkt.
Sokrates: Gleich fürwahr das zuerst genannte Wort schließt diese Voraussetzung in sich.
Hermogenes: Welches?
Sokrates: Die phronêsis, Denken. Denn sie ist die Bewegung und des Flusses Wahrnehmung, phoras kai rhou[578] noêsis. Man könnte auch annehmen, Genuß der Bewegung, phoras onêsis; jedenfalls aber geht sie auf Bewegung. Wenn du ferner willst, die gnômê, Meinung, bezeichnet durchaus eine Betrachtung und Abwägung des Werdens, gonês nômêsis. Denn Abwägen, nôman, und Betrachten, skopein, ist einerlei. Ferner die noêsis Wahrnehmung, selber ist das Langen nach dem Neuen, neou hesis. Daß das Seiende neu sei, heißt so viel, als es sei immer im Werden begriffen. Daß danach nur die Seele verlange, bekundet der, welcher diesen Namen, neoesis, gebildet hat; denn vor alters hieß es nicht noêsis, sondern statt des ê mußte man zwei e sprechen, noeesis. Die sôphrosynê, Besonnenheit, ist die Bewahrung, sôtêria, der eben erst betrachteten phronêsis. Doch weiter, epistêmê, Erkenntnis, deutet an, daß die gediegene Seele den Dingen in ihrer Bewegung nachfolge und weder zurückbleibe noch voreile. Daher muß man nur das e abwerfen und sie pistêmê, Treubleib, nennen. Synesis, Einsicht, ferner mag ein Zusammenfassen bedeuten. Wenn man aber synienai, einsehen, sagt, so sagt man damit ganz dasselbe wie mit epistasthai, wissen. Denn synienai bedeutet, daß die Seele mit den Dingen gehe. Sodann sophia, Weisheit, bezeichnet gewiß das Anhalten der Bewegung. Es klingt nur etwas zu dunkel und fremdländisch. Aber man muß lieh nur aus den Dichtern erinnern, daß sie gar oft von einem Gegenstand sagen, der rasch sich vorwärts zu bewegen beginnt: esythê, d.h. er stürzte fort, sagen sie. So hatte auch ein Lakonier, der zu den wohlangesehenen Bürgern zählte, den Namen Sus; denn die Lakedaimonier verstehen darunter den raschen Ansturm. Das Anhalten, epaphê, nun dieser Bewegung, da die Dinge in Bewegung sein sollen, bezeichnet sophia. Ferner das Wort agathon, gut, will auf das Bewundernswerte, agaston, in der ganzen Natur bezogen sein. Denn da ja die Dinge sich bewegen, so wohnt ihnen Schnelligkeit inne und Langsamkeit. Also ist nicht alles Schnelle bewundernswert, sondern nur einiges. Unter dem Schnellen (thoon) dem Bewundernswerten (tô agastô) kommt nämlich dies Attribut zu: tagathon, das Gute.
Ferner dikaiosynê, Gerechtigkeit: Leicht läßt sich schließen, daß dieser Name auf die Einsicht in das Gerechte, dikaiou[579] synesis, geht; das Gerechte, dikaion, selbst aber ist schwierig zu enträtseln. Denn bis auf einen gewissen Punkt stimmen, scheint es, viele überein, dann aber gehen die Ansichten auseinander. Denn alle, welche glauben, das All sei in Bewegung, schreiben ihm größtenteils keine andere Aktion zu, als daß es sich vorwärts bewege; durch all dies aber gehe etwas durch, mittelst dessen das Werdende überhaupt werde. Dies sei sehr rasch und fein. Denn es könnte sonst nicht durch all das Gehende hindurchgehen, wenn es nicht sehr fein wäre, so daß nichts es zurückhalten könne, und so rasch, daß im Verhältnis zu ihm das übrige ruhig stehe. Da es nun in seinem Durchgehen, diaion, über alles übrige die Herrschaft übt, so nannte man es treffend dikaion, indem man nur des Wohllauts wegen noch die Hilfe des K in Anspruch nahm. Bis auf diesen Punkt nun, wie wir eben schon sagten, stimmen viele über das Wesen des Gerechten (dikaion) überein. Weil ich, lieber Hermogenes, in diesem Stück sehr eifrig bin, habe ich das alles im Vertrauen erfahren, daß das Gerechte und Ursächliche darin besteht – denn ursächlich heißt etwas, durch (dia) das ein anderes entsteht – und auch den Zeus Dia zu nennen, sagte mir einer, sei aus diesem Grunde recht. Wenn ich sie nun nichtsdestoweniger weiter frage: »Was ist denn nun, mein Bester, bei diesem Sachverhältnis eigentlich das Gerechte?« – dann, scheint es fast, frage ich schon mehr, als billig ist, und überspringe die Schranken. Dann sagen sie, ich hätte genug gehört, und suchen, um mich zufriedenzustellen, der eine dies, der andere das vorzubringen, und harmonieren nicht mehr unter einander. Der eine nämlich behauptet, die Sonne sei das Gerechte; denn sie allein durchwandle (diaionta) und erwärme (kaonta) und verwalte so die Welt. Wenn ich das nun in meiner Herzensfreude jemandem mitteile und denke, ich hätte eine kostbare Wahrheit vernommen, so lacht mich der aus und fragt, ob ich denn glaube, es gebe in der Welt nichts Gerechtes mehr, wenn die Sonne untergegangen sei. Wenn ich nun. um seine eigene Meinung in ihn dringe, nennt er mir das Feuer. Das ist aber nicht leicht zu begreifen. Ein anderer meint, es sei nicht das Feuer, sondern eben die Wärme, die in dem Feuer ist. Wieder ein anderer erklärt alle diese Meinungen für lächerlich und meint, das Gerechte sei, wie es Anaxagoras[580] bestimme: die Vernunft nämlich; denn sie sei unbeschränkt in ihrer Herrschaft, mit nichts gemischt, und so ordne sie alle Dinge, indem sie alle durchdringe. Da bin ich denn, mein Lieber, in weit größerer Ratlosigkeit, als ehe ich über das eigentliche Wesen des Gerechten etwas zu erfahren suchte. Doch, worüber wir ja die Erörterung anfingen, seinen Namen führt es offenbar aus dem angegebenen Grunde.
Hermogenes: Diese Ansicht, Sokrates, hast du offenbar von jemand gehört und schüttelst sie nicht aus dem Ärmel.
Sokrates: Wie aber das übrige?
Hermogenes: Das gerade nicht.
Sokrates: Höre nur: denn vielleicht kann ich dich auch in dem Kommenden täuschen, als spräche ich nicht vom Hörensagen. Was bleibt uns nach der Gerechtigkeit noch übrig? Die Tapferkeit, andreia, haben wir, glaube ich, noch nicht durchgenommen. Denn adikia, Ungerechtigkeit, bezeichnet ganz klar ein wirkliches Hindernis für das Durchgehende (das Gerechte); andreia (Tapferkeit) aber weist daraufhin, daß im Kampfe die Tapferkeit ihren Namen erhalte. Kampf aber kann in Wahrheit, wenn alles im Fluß ist (rhei), nichts anderes sein als die entgegengesetzte Strömung. Wenn man nur das d aus dem Worte andreia wegnimmt, so macht der Name anreia die Sache selber kund. Offenbar ist jedoch nicht die jeder beliebigen Strömung entgegengesetzte Strömung (rhoê) Tapferkeit, sondern die allein, die dem Strome gegen das Gerechte entgegentritt. Denn sonst würde man die Tapferkeit nicht loben. Auch arrhen, das Männliche, und anêr, der Mann, beziehen sich auf etwas Ähnliches, den Aufstrom, anô rhoê. Gynê aber, das Weib, soll offenbar das Gebären, gonê, bezeichnen. thêly dagegen, das Weibliche, scheint von thêlê, der Mutterbrust, benannt. thêlê aber sagt man doch, Hermogenes, weil die Mutterbrust das Gedeihen, tethêlenai, gleichsam des Angefeuchteten, befördert.
Hermogenes: Natürlich, Sokrates.
Sokrates: Doch das thallein, Gedeihen, selbst scheint mir das Wachstum der Kleinen darzustellen, weil dies so rasch und plötzlich vor sich geht. Das hat man ungefähr durch das Wort nachgebildet, das aus thein, laufen, und hallesthai, springen, zusammengefügt ist. Doch merkst du nicht, daß ich vom[581] Wege abschweife, sobald ich auf ebene Bahn komme? Wir haben aber noch viele Worte übrig, die zu den wichtigen zählen. Hermogenes: Du hast recht.
Sokrates: Dazu gehört auch technê, die Kunst, dessen Grundbedeutung man erforschen muß.
Hermogenes: Allerdings.
Sokrates: Bezeichnet es nicht das Haben der Vernunft, hexin nou, wenn man nur das t wegläßt und das ou zwischen ch und n und ê einschiebt?
Hermogenes: Die Erklärung ist ja gar schlüpfrig, o Sokrates!
Sokrates: Mein Bester, du weißt nicht, daß schon die ersten Namen, gleich als sie gebildet waren, von anderen verdunkelt wurden, die ihnen einen hochtrabenden Klang beibringen wollten und deshalb um des Wohllauts willen Buchstaben einsetzten und wegließen und sie von allen Seiten drehten und wendeten, aus Sucht zu verschönern und durch den Einfluß der Zeit. Denn kommt dir nicht auch in dem Worte katoptron, Spiegel, die Einschiebung des r albern genug vor? Das tun, denke ich, Leute, die sich um die Wahrheit nicht kümmern und nur eine mundgerechte Aussprache zu bilden suchen, so daß sie es durch ihre vielen Zusätze an die ersten Worte zuletzt dahin bringen, daß nicht ein einziger Mensch den eigentlichen Sinn des Wortes versteht. So nennt man auch die Sphinx statt Phinx Sphinx, und vieles andere ähnlich.
Hermogenes: Das ist leider so, o Sokrates.
Sokrates: Wenn man jedoch jeden in die Worte einschieben und daraus wegnehmen läßt, was ihm beliebt, so wird es leicht dahin kommen, daß man jedes Wort für jedes Ding passend machen kann.
Hermogenes: Du hast recht.
Sokrates: Recht gewiß; doch, denke ich, du unser weiser Präses, mußt auch auf Maß und Wahrscheinlichkeit achten.
Hermogenes: Gern.
Sokrates: Ich will dir helfen, Hermogenes; aber, mein Trefflichster, sei nicht allzuscharf, daß du mich nicht entkleidest der Kraft! Denn ich komme zur Krone der besprochenen Ausdrücke, wenn wir nur nach der technê erst noch mêchanê, der Kunstgriff, betrachtet haben werden. Denn mêchanê ist wohl,[582] wie mir scheint, ein Ausdruck für ein ausgedehntes Vollbringen. Denn mêkos, Länge, bezeichnet eine Ausdehnung. Daher ist das Wort mêchanê aus diesen beiden, mêkos (Länge) und anein (vollbringen), zusammengesetzt. – Doch was ich eben erst sagte, wir müssen zur Krone der besprochenen Ausdrücke übergehen: Den Sinn der Namen aretê, Tugend, und kakia, Schlechtigkeit, nämlich müssen wir erforschen. Das eine kann ich noch nicht recht durchschauen, das andere aber scheint mir klar. Denn es stimmt mit allem Früheren. Denn weil ja die Dinge im Gange sind, so wäre alles, was schlecht geht, kakôs ion, Schlechtigkeit, kakia. Wenn aber diese Eigenschaft eine Seele beherrscht, daß sie schlecht an die Dinge geht, so hat sie recht eigentlich das Attribut des Ganzen – nämlich Schlechtigkeit. Die Grundbedeutung des kakôs ienai, schlecht gehen, tritt, glaub' ich, auch in dem Worte deilia, Feigheit, hervor, das wir noch nicht durchnahmen, sondern übergingen, obwohl wir es gleich nach der Tapferkeit hätten in Betracht ziehen sollen. Freilich haben wir ja auch noch vieles andere übergangen. Die Feigheit, deilia, bezeichnet aber eine starke Fessel der Seele. Denn das Wort lian, zu sehr, ist ein außerordentlicher Grad von Stärke. So wäre denn die Feigheit die allzugroße und mächtigste Fessel (desmos von dei, fesselt) der Seele. So ist gewiß auch die aporia, Ungewißheit, etwas Schlechtes und alles, scheint es, was nur dem Bewegen und Fortkommen, poreuesthai, hinderlich sein mag. Das Schlechtgehen drückt also offenbar die gehemmte und gehinderte Bewegung aus; wenn dann gar die Seele diesen Zustand in sich hat, wird sie der Schlechtigkeit voll. Wenn aber der Name Schlechtigkeit auf derartige Verhältnisse geht, so dürfte die Tugend, aretê, das Gegenteil davon sein und zunächst die leichte Bewegung, euporia, bezeichnen; dann, daß der Strom der guten Seele immer frei sei. Wenn daher das, was ungehemmt und immer ungehindert strömt (aei reon), wie's scheint, als Attribut diesen Namen erhalten hat, so spricht man richtig aeireitê, die Immerströmende. Vielleicht nennt sie aber der Sprachbildner auch hairetê, die Vorzügliche, weil diese Seelenbeschaffenheit am meisten vorzuziehen sei. Beides ist zusammengezogen, und man spricht aretê. Doch vielleicht wirst du[583] mir wieder Einbildung vorwerfen; ich aber behaupte, wenn meine vorangehende Erklärung von kakia richtig ist, so muß es auch richtig sein mit diesem Worte aretê.
Hermogenes: Was soll aber nun das Wort kakon (schlecht) bezeichnen, durch das du im Vorhergehenden vieles erklärt hast?
Sokrates: Er kommt mir, beim Zeus, sonderbar vor und schwer zu enträtseln. Ich muß daher auch hierbei jenen Kunstgriff anwenden.
Hermogenes: Welchen denn?
Sokrates: Daß ich auch dies als Fremdwort bezeichne.
Hermogenes: Es sieht wenigstens aus, als hättest du recht; doch, wenn du willst, lassen wir das und versuchen wir zu erkennen, inwiefern die Worte kalon, schön, und aischron, häßlich, wohlgewählt sind.
Sokrates: Der Sieg von aischron scheint mir gleich auf der Hand zu liegen, denn auch dies Wort entspricht dem Vorausgehenden. Denn alles, was den Strom der Dinge hindert und hemmt, schmäht offenbar der Namenbildner; so hat er auch dem, was den Strom immer hemmt (aei ischon ton rhoun), diesen Namen aeischoroun, das Immerstromhemmende, gegeben; jetzt hat man es zusammengezogen und spricht aischron.
Hermogenes: Ferner das Schöne, kalon?
Sokrates: Das ist schwieriger zu verstehen. Gleichwohl ist es nur wenig im Klange und in der Länge des on verändert.
Hermogenes: Wieso?
Sokrates: Dieses Wort ist wohl ein Attribut des Denkens.
Hermogenes: Wie meinst du das?
Sokrates: Wohlan, worin siehst du den Grund der Benennung eines jeden unter den Dingen? Nicht in jenem, was die Namen festgestellt hat?
Hermogenes: Allerdings wohl.
Sokrates: Soll das nicht das Denken entweder der Götter oder der Menschen oder beides sein?
Hermogenes: Ja.
Sokrates: Ist demnach nicht das, was die Dinge benannt hat (kaloun), und das Schöne (kalon) ein und dasselbe, nämlich das Denken?
[584] Hermogenes: Freilich.
Sokrates: Nicht wahr, alles was Verstand und Denken gemacht hat, ist lobenswert, was nicht, verdient Tadel?
Hermogenes: Allerdings.
Sokrates: Die Arzneikunde bringt Arzneikundiges und die Baukunde Baukundiges hervor: oder meinst du anders?
Hermogenes: Nein, so.
Sokrates: So auch das Schöne also Schönes?
Hermogenes: Notwendig.
Sokrates: Ist das aber, was wir sagen, das Denken?
Hermogenes: Gewiß.
Sokrates: Daher gehört dies Attribut, das Schöne, mit Recht der Einsicht, die Dinge hervorbringt, die wir freudig begrüßen, indem wir sie für schön erklären.
Hermogenes: Offenbar.
Sokrates: Was ist weiter noch übrig von solchen Worten?
Hermogenes: Die mit dem Guten und Schönen zusammenhängenden Begriffe: zuträglich, vorteilhaft, nützlich, gewinnbringend, und ihre Gegensätze.
Sokrates: Nun, das Zuträgliche, xympheron, könntest auch du schon finden: du brauchst es nur dem Vorhergehenden gemäß zu betrachten. Denn offenbar ist es verschwistert mit der Erkenntnis, epistêmê; denn es bezeichnet weiter nichts als die den Dingen entsprechende Bewegung der Seele, und das, was dadurch geschieht, heißt natürlich sympheronta und symphora, weil es mit herumbewegt wird, von symperipheresthai. Kerdaleon, das Gewinnbringende, kommt von kerdos Gewinn. Der Sinn des Wortes kerdos aber ritt hervor, wenn man an die Stelle des d das n wieder einsetzt. Denn es bezeichnet das Gute nach einem anderen Gesichtspunkt: Weil es sich nämlich bei seinem Durchgehen durch alles hindurch mit allem mischt, kerannytai, gab der Namenbildner ihm diesen Namen, um so sein Wesen zu benennen. Dann setzte er statt des n ein d ein und sprach kerdos.
Hermogenes: Was ist ferner lysiteloun, das Vorteilhafte?
Sokrates: Natürlich, Hermogenes, nicht wie die Krämer das Wort brauchen, wenn es die Schuld auslöscht; nicht danach scheint er mir das Vorteilhafte zu benennen, sondern weil es, als das Allerschnellste, was es gibt, die Dinge nicht zum Stillstand[585] kommen und die Bewegung kein Ende des Bewegens finden, stille stehen und aufhören läßt, sondern die Ruhe, telos, immer aufhebt, lyei, wenn sie sich in jene einzuschleichen sucht, und die Bewegung so unaufhörlich und unsterblich macht; in diesem Sinne pries er wohl das Gute als das Vorteilhafte. Denn was das Ende, telos, der Bewegung aufhebe (lyei), das nannte er lysiteloun. ôphelimon, nützlich, aber ist ein Fremdwort, dessen sich auch Homer vielfach bedient in ophellein: das ist aber eine Bezeichnung des Mehrens und in guten Stand Setzens.
Hermogenes: Wie steht's denn um die Gegensätze hierzu?
Sokrates: Alle schlechthin verneinenden brauchen wir, denke ich, gar nicht durchzugehen.
Hermogenes: Welche meinst du?
Sokrates: Axymphoron, unzuträglich, anôpheles, unnütz, alysiteles, unvorteilhaft, akerdes, gewinnlos.
Hermogenes: Du hast recht.
Sokrates: Doch blaberon, schädlich, und zêmiôdes, nachteilig?
Hermogenes: Ja.
Sokrates: Das blaberon, schädlich, soll gewiß das bezeichnen, was dem Strom schadet blapton ton rhoun. Das blapton, Schadende, bedeutet wieder: was halten will, boulomenon haptein. Halten (haptein) und fesseln dein ist aber einerlei; dies Wort tadelt durchweg. Was also den Strom halten will, würde ganz treffend boulapteroun sein; aber des Wohlklangs wegen sagt man, glaube ich, blaberon.
Hermogenes: Die Worte, o Sokrates, kommen ja ganz bunt heraus. Dann aber kam es mir fast vor, als hättest du das Vorspiel des Festlieds der Athene ausgeflötet, als du das Wort boulapteroun aussprachst.
Sokrates: Nicht ich bin schuld, Hermogenes, sondern die Wortbildner.
Hermogenes: Du hast recht; doch was soll denn zêmiôdes, das Nachteilige, sein?
Sokrates: Was eigentlich zêmiôdes, nachteilig, wäre? Sieh, Hermogenes, daß ich mit Recht behaupte, daß man durch Zusetzen und Wegnehmen von Buchstaben den Sinn der Worte so ganz verändert, daß manchmal, wenn man nur ganz wenig[586] dreht und wendet, die entgegengesetzte Bedeutung erfolgt: Wie z.B. in dem Worte deon, das Nötige. Denn bei dem, was ich dir sagen wollte, fiel mir eben ein und erinnerte ich mich, daß unsere neue Aussprache, die schöne, auch deon und zêmiôdes gerade zur entgegengesetzten Bedeutung umgewandt hat, indem sie den Sinn verdunkelte, während die alte Aussprache die Grundbedeutung beider Worte hervortreten läßt.
Hermogenes: Inwiefern?
Sokrates: Ich will es dir sagen. Du weißt, daß sich unsere Vorfahren des i und d gar gern bedienten, besonders die Weiber, die überhaupt am meisten an der alten Aussprache festhalten. Jetzt setzt man aber statt des i entweder e oder ê, statt des d aber z, als hätten diese Buchstaben einen besseren Klang.
Hermogenes: Wieso?
Sokrates: So nannten z.B. die ganz Alten den Tag himera, andere dann hemera, und jetzt sagt man hêmera.
Hermogenes: So ist es.
Sokrates: Weißt du, daß nur das alte Wort den Gedanken des Wortbildners hervortreten läßt? Denn weil den Menschen zur Lust und Wonne (himeirousin) das Licht aus dem Dunkel erschien, deswegen sagt man himera.
Hermogenes: Offenbar.
Sokrates: Jetzt aber, in der hochtrabenden Form, kann man nicht einmal erkennen, was hêmera heißen soll. Gleichwohl glauben einige, der Tag habe deshalb diesen Namen bekommen, weil er ja zahm, hêmera, mache.
Hermogenes: Das läßt sich hören.
Sokrates: Ferner das Joch, zygon, nannten doch bekanntlich die Alten dyogon.
Hermogenes: Gewiß.
Sokrates: zygon hat gar keinen Sinn; es heißt aber wegen der Verbindung zweier, dyo, zur Lenkung, agôgê, mit Recht dyogon. Jetzt aber sagt man zygon. Und so steht's mit vielen anderen Worten.
Hermogenes: Offenbar.
Sokrates: Danach bezeichnet zunächst deon, so wie es gesprochen wird, gerade das Gegenteil von allen auf das Gute bezüglichen Ausdrücken. Denn obwohl es eine Art des Guten ist, scheint deon doch eine Fessel, desmos, und ein Hindernis[587] der Bewegung zu sein, als wäre es mit dem blaberon, schädlich, verschwistert, das den Strom aufhalten will.
Hermogenes: Freilich, Sokrates, den Anschein hat die Sache in hohem Grad.
Sokrates: Jedoch nicht, wenn man das alte Wort braucht, das natürlicherweise viel richtiger sein muß als das jetzige; ja es wird mit den früheren Ausdrücken für das Gute stimmen, wenn man ihm für das e das i zurückgibt, wie es vor alters war. Denn dion, hindurchgehend, nicht deon, fesselnd, bezeichnet wieder das Gute, und das lobt er natürlich. So widerspricht sich auch der Wortbildner nicht selbst, sondern nötig, nützlich, vorteilhaft, gewinnbringend, gut, zuträglich, zugänglich sind offenbar identisch und bezeichnen in verschiedenen Formen das Ordnende, alles Durchdringende als das Lobenswerte, das Hemmende und Fesselnde als das Tadelhafte. Wenn du nun nach der alten Aussprache dem zêmiôdes statt des z sein d wiedergibst, so wird dir die Beziehung des Namens auf das, was das Gehende bindet, deon to ion, klar werden, welches daher dêmiôdes benannt ward.
Hermogenes: Wie ist es ferner mit hêdonê, Lust, lypê, Schmerz, epithymia, Begierde, und dergleichen Ausdrücken, o Sokrates?
Sokrates: Sie kommen mir nicht sehr schwierig vor, Hermogenes. Denn hêdonê, die Lust, hat offenbar diesen Namen als ein Zustand, der nach Wohlbefinden, onêsis, hinstrebt; das d ist eingeschoben, so daß es hêdonê heißt statt hêonê. Lypê, der Schmerz, ist natürlich von der Auflösung, dialysis, des Leibes benannt, der in diesem Zustand den Leib erfaßt. Auch ania, die Trauer, ist ein Hindernis des Bewegens, ienai. Algêdôn, Kummer, halte ich für ein Fremdwort, benannt von algeinon, dem Schmerzlichen. Odynê, Gram, hat offenbar seinen Namen von dem Eindringen, endysis, des Schmerzes. Daß aber achthêdôn, die Beschwerde, der Schwerfälligkeit der Bewegung gleicht, sieht jeder. Chara, Freude, dagegen heißt es wahrscheinlich nach dem leichten Erguß, diachysis, des Stromes, rhoê, der Seele. Terpsis, Entzücken, kommt von terpnon, entzückend; terpnon aber ist dem Hauche, pnoê, nachgebildet von dem, was durch die Seele fährt und zuckt, herpsis. Füglich sollte es daher herpnoun[588] heißen; im Laufe der Zeit aber ward es in terpnon umgewandelt. Einer Erklärung von euphrosynê, Fröhlichkeit, Bedarfes kaum: denn das kann jeder sehen, daß sie diesen Namen erhielt, weil die Seele durch die Ereignisse froh bewegt wird, eu xympheresthai, also eupherosynê, wie es eigentlich heißen sollte; doch wir sagen euphrosynê. Auch epithymia, Begierde, ist nicht schwer: denn offenbar wurde dies Wort nach seiner in das Herz eindringenden Macht, epi ton thymon iousê, benannt. Herz, thymos, aber ist von dem Wallen, thysis, und Aufbrausen der Seele benannt. Das Verlangen heißt gewiß himeros, nach dem Strome (rhous), der am meisten die Seele zieht. Denn weil es strebend strömt, hiemenos rhei und nach den Dingen langt und so natürlich die Seele gewaltig nachzieht durch die Gewalt des Stromes, nach dieser ganzen Wirksamkeit heißt es himeros. Pothos ferner, Sehnsucht, sagt man, um zu bezeichnen, daß es nicht einem Anwesenden, sondern einem anderswo Befindlichen, allothi pou, und Abwesenden gilt, und daher heißt es pothos, Sehnsucht, während man dann, wenn der Gegenstand des Strebens da ist, himeros. Verlangen, sagt. Sobald dieser weg ist, heißt dieselbe Empfindung Sehnsucht, pothos. Erôs, Liebe, heißt es, weil sie von außen einfließt, esrei, und weil dieser Strom dem Erfaßten nicht eigentümlich ist, sondern durch die Augen von außen zugebracht wird; daher sagte man von esrein vor alters esros. Denn man bediente sich des o statt des ô; jetzt aber heißt es erôs, weil man das ô mit dem o vertauscht hat. – Doch warum bringst du nichts mehr vor, was wir in Betracht nehmen sollen?
Hermogenes: Was urteilst du über doxa, Vorstellung, und dergleichen mehr?
Sokrates: Doxa, Vorstellung, hat den Namen entweder von der Verfolgung, diôxis, zu der die Seele sich aufmacht, wenn sie die Einsicht in das Wesen der Dinge verfolgt; oder von dem Schuß mit dem Bogen, toxou bolê. Dies letztere hat mehr für sich. Wenigstens stimmt oiêsis, Glauben, damit: denn es bezeichnet höchstwahrscheinlich eine Bewegung, oisis, der Seele nach dem Dinge und der Beschaffenheit, hoion estin, die jedem Dinge zukommt; wie denn auch boulê. Rat, auf den Schuß, bolê, hindeutet und boulesthai, wollen, das Streben und Sichberaten, bouleuesthai –,[589] bezeichnet. Alle diese Worte, die an doxa sich anschließen, sind offenbar Bilder des Schusses, wie denn auch das Gegenteil die aboulia, Ratlosigkeit, ein Ungeschick, atychia, zu sein scheint, als hätte man das Ziel nicht getroffen und erreicht, wonach man zielte und strebte, worüber man sich beriet und das man erzweckte.
Hermogenes: Jetzt scheinst du mir, Sokrates, die Worte in dichter gedrängten Scharen herbeizuführen!
Sokrates: Schon neigt die Begeisterung dem Ende zu; doch will ich noch anankê, Notwendigkeit, und griechisch, das Freiwillige, durchnehmen, weil sie sich an diese Begriffe anschließen. Was hekousion, das Freiwillige, angeht, so mag durch dieses Wort das Nachgebende (eikon), nicht sich Widersetzende, sondern, wie ich sage, das bezeichnet sein, was der Bewegung nachgibt, eikon tô ionti, und dem, was nach dem Willen geschieht. Anankaion aber, das Notwendige und Widerspenstige, das gegen den Willen geht, bezieht sich wohl auf Irrtum und Unwissenheit und ist dem Marsche durch enge Schluchten, ankê, verglichen, weil sie unwegsam, rauh und dicht bewachsen den Schritt hemmen. Daher wahrscheinlich ward es anankaion genannt, im Vergleich mit dem Marsch durch die enge Schlucht (ankos). – Solange aber noch Spannkraft da ist, laß uns nicht nachlassen; aber laß auch du nicht nach, sondern frage!
Hermogenes: So frage ich denn nach den wichtigsten und edelsten Begriffen, nach der Wahrheit, der Lüge, dem Seienden und danach selbst, woher der Gegenstand unserer jetzigen Unterhaltung, onoma, der Namen, seinen Namen hat.
Sokrates: Du kennst doch das Wort maiesthai, streben?
Hermogenes: Jawohl, es heißt so viel als suchen.
Sokrates: So gleicht denn Namen, onoma, einem aus einem Satze zusammengeschmiedeten Worte, des Inhalts, daß es das Seiende (on) ist, worauf sich das Suchen bezieht. Besser kannst du es noch an dem Ausdruck onomastos, namhaft, erkennen: denn da heißt es ausdrücklich, es sei das Seiende, nach dem ein Streben stattfinde, on hou masma. Was nun alêtheia, Wahrheit, anlangt, so ist auch dies Wort wie die anderen zusammengezogen; denn die göttliche Bewegung des Seienden scheint mit diesem Ausdruck benannt, weil sie eine [590] alê theia, ein göttliches Umherschweifen, sei. Pseudos aber, die Lüge, ist das Gegenteil der Bewegung: denn da haben wir wiederum einen Tadel gegen das Hemmende und zur Ruhe Zwingende; es wird aber verglichen mit den Schlafenden, katheudousi. Nur verhüllt der Zusatz des ps den Sinn des Wortes. On, das Seiende, und ousia, Sein, Wesen, entspricht der Wahrheit, nur daß es ein i verloren hat: denn es bezeichnet ein Gehendes, ion, und dagegen das Nichtseiende ganz, wie einige es auch nennen, ouki on (zu lesen ouk ion), das Nichtgehende.
Hermogenes: Recht tapfer hast du, Sokrates, wahrlich diese Worte zergliedert. Wenn nun aber einer nach der Bedeutung dieser Worte wie ion, Gehen (Bewegung), rheon, Strom, doun, Fessel, fragte –
Sokrates: Was wir ihm antworten würden, meinst du? Nicht wahr?
Hermogenes: Allerdings.
Sokrates: Ein Mittelchen hatten wir eben doch ausfindig gemacht, und unsere Antwort schien etwas für sich zu haben.
Hermogenes: Welches meinst du?
Sokrates: Daß wir als ein Fremdwort bezeichneten, was wir nicht ergründen können. Vielleicht könnte auch in Wahrheit von diesen Worten eins der Art sein, vielleicht aber mögen auch die ersten Worte, die Stammwörter, wegen ihres Alters unerklärbar sein. Denn weil die Worte überall hin und her gedreht werden, so wäre es gar kein Wunder, wenn die alte Aussprache im Vergleich mit der jetzigen einer fremden Sprache nichts nachgibt.
Hermogenes: Deine Annahme ist gar nicht aus der Art geschlagen.
Sokrates: Enthält sie doch Wahrscheinlichkeit. Jedoch die Streitfrage läßt, denke ich, keine Ausflüchte mehr zu; wir müssen dem Punkt noch genauer auf den Grund zu gehen uns anschicken. Laß uns aber das beherzigen: wenn man immer nach den Ausdrücken fragt, auf denen das Wort beruht, und wieder nach jenen, durch die diese Ausdrücke ihre Erklärung erhalten, und das ins Unendliche, muß dann nicht der Antwortende zuletzt alle weitere Auskunft ablehnen?
Hermogenes: Mir scheint es so.
[591] Sokrates: Wann mag er nun das Recht haben, abzulehnen und aufzuhören? Nicht dann, wenn er an die Worte gekommen ist, die gleichsam die Elemente der übrigen Sätze und Worte sind? Denn wenn dem so ist, kann doch bei diesen eine Zusammensetzung aus anderen Worten nicht mehr hervortreten, wie wir z.B. angaben, agathos, gut, sei aus agastos, bewundernswert, und thoos, schnell, zusammengesetzt. Vielleicht könnten wir auch von thoos noch behaupten, es sei aus anderen Worten, und jene wieder aus anderen, entstanden. Wenn wir aber einmal auf ein nicht mehr aus anderen Worten zusammengesetztes Wort getroffen sind, so können wir mit Recht sagen, jetzt seien wir an einem Grundwort, und das dürfe man nicht mehr von anderen Worten ableiten.
Hermogenes: Deine Meinung scheint mir begründet.
Sokrates: Sind nun die Worte, nach denen du eben fragst, auch Grundworte, und muß man ihre Bedeutsamkeit schon auf eine andere Weise erforschen?
Hermogenes: Wahrscheinlich.
Sokrates: Freilich wahrscheinlich, mein Hermogenes. Wenigstens scheinen doch alle früheren von diesen abgeleitet. Ist aber dem so, wie mir scheint, – wohlan, so überlege mit mir, damit ich keine Albernheiten begehe, wenn ich angeben will, worin die Bedeutsamkeit der Stammwörter besteht!
Hermogenes: Gib es nur an: soviel wenigstens in meinen Kräften steht, will ich's ergründen helfen.
Sokrates: Daß es also nur eine Richtigkeit und Bedeutsamkeit jedweden Wortes, sei es ein Stammwort oder ein abgeleitetes, ein erstes oder letztes, gibt, und daß danach in dem Werte des Wortes kein Unterschied stattfindet, das, denke ich, gibst auch du zu.
Hermogenes: Gewiß.
Sokrates: Die Richtigkeit der Wörter, die wir eben durchgenommen haben, sollte doch darin bestehen, daß sie das Wesen jedes Dinges kund gebe?
Hermogenes: Wie anders?
Sokrates: Diese Kraft müssen also die Stammwörter nicht minder haben als die abgeleiteten, wenn sie überhaupt Worte sein sollen.
Hermogenes: Gewiß.
[592] Sokrates: Und doch waren die abgeleiteten offenbar nur durch Vermittlung der Stammwörter dies zu leisten imstande.
Hermogenes: Natürlich.
Sokrates: Genug. Wie werden nun die Stammwörter, denen keine andern mehr zugrunde liegen, nach Kräften so gut als möglich die Dinge kund machen, wenn sie doch Worte sein sollen? Beantworte mir folgendes: Wenn wir keine Stimme und keine Zunge hätten, aber einander über die Dinge Mitteilung machen wollten, – würden wir nicht, wie jetzt die Stummen, versuchen, mit den Händen, dem Kopfe und dem übrigen Leibe uns Zeichen zu geben?
Hermogenes: Wie anders, Sokrates?
Sokrates: Wenn wir, denke ich, das Oben und das Leichte bezeichnen wollten, würden wir die Hand zum Himmel erheben und die Natur der Sache nachahmen; wenn das Unten und das Schwere, würden wir sie nach der Erde hinbewegen, und wollten wir ein Pferd oder ein anderes Tier im Laufe darstellen, weißt du, dann würden wir unseren Leib und unsere Gestalt jenen so viel wie möglich ähnlich machen.
Hermogenes: Notwendig müßte es wohl so sein, wie du sagst.
Sokrates: So entstände nämlich, denke ich, ein Zeichen für etwas mit dem Leib, indem dieser den Gegenstand nachahmte, den er bezeichnen sollte.
Hermogenes: Ja.
Sokrates: Da wir aber mit Stimme, Zunge und Mund bezeichnen wollen, so wird doch dann ein Zeichen für jedes Ding entstehen, das von diesen Werkzeugen ausgeht, wenn durch sie von irgend einem beliebigen Dinge eine Nachahmung stattfindet?
Hermogenes: Notwendig so.
Sokrates: Ein Wort ist also offenbar eine Nachahmung mit der Stimme von dem Gegenstand, den der Nachahmende mit der Stimme nachahmt und benennt, wenn er gerate will.
Hermogenes: Mir scheint es.
Sokrates: Aber, beim Zeus, mir scheint, mein Freund, die Erklärung gar nicht gut.
Hermogenes: Warum denn?
Sokrates: Wenn also Leute die Schafe nachahmen und[593] Hähne und andere Tiere, so würden wir genötigt sein, zuzugeben, daß sie das, was sie nachahmen, benennten.
Hermogenes: Da hast du recht.
Sokrates: Scheint dir also der Satz gut?
Hermogenes: Nein, wahrhaftig nicht! Doch welche Nachahmung, Sokrates, wäre dann der Name?
Sokrates: Zunächst, wie mich dünkt, nicht, wenn man in derselben Weise die Dinge nachahmt, wie man es in der Musik tut, obwohl es ja auch da mit der Stimme geschieht, und ferner glaube ich, wird man nicht benennen, wenn man dasselbe an den Dingen nachahmt wie die Musik. Ich meine es ungefähr so: Es hat doch jedes Ding eine Stimme (Klang) und Gestalt, viele haben auch Farbe?
Hermogenes: Gewiß.
Sokrates: Wenn also einer diese Eigenschaften nachahmte, so wäre das natürlich nicht die Kunst des Benennens; diese bezieht sich auch nicht auf diese Nachahmungen. Denn das ist die Musik und die Malerei, nicht wahr?
Hermogenes: Ja.
Sokrates: Was sagst du zu folgendem? Hat nicht auch jedes Ding ein Wesen, so gut wie eine Farbe und Eigenschaften, die wir eben angaben? Hat nicht zunächst die Farbe selbst und die Stimme jede ein Wesen, und so auch alles übrige, das man des Prädikates sein gewürdigt hat?
Hermogenes: Mir scheint es.
Sokrates: Wie nun? Wenn man eben dieses, das Wesen jedes Dinges, nachahmen könnte, und zwar in Buchstaben und Silben, würde man dann darstellen, was jedes ist, oder nicht?
Hermogenes: Gewiß.
Sokrates: Wie würdest du den nennen, der sich darauf versteht, wie du von den früheren den einen einen Musiker, den anderen einen Maler nanntest? Wie würdest du diesen nennen?
Hermogenes: Das, denke ich, Sokrates, ist der Mann, dem wir schon so lange nachtrachten, der Namen künstler.
Sokrates: Wenn also das wahr ist, so muß man jetzt wohl an jenen Worten, nach denen du fragtest, bei rhoê, Strom, ienai, Gehen, schesis, Halten, untersuchen, ob sie mit den Buchstaben und Silben das Seiende erfassen, so daß sie das Wesen nachahmen, oder ob das nicht der Fall ist?
[594] Hermogenes: Allerdings.
Sokrates: Wohlan denn, laß uns zusehen, ob diese Worte allein die Stammwärter sind, oder ob noch andere dazu gehören!
Hermogenes: Ich denke, wohl auch andere.
Sokrates: Wahrscheinlich. Doch worin mag das Maß der Scheidung liegen, wonach der Nachahmende nachzuahmen beginnt? Ist es nicht am geratensten, da ja die Nachahmung des Wesens durch Silben und Buchstaben vor sich geht, zunächst die Laute einzuteilen, wie die, welche in der Rhythmik sich versuchen wollen und darum zunächst den Wert der Laute bestimmen, dann den der Silben, und so erst zu der Betrachtung der Rhythmen übergehen, vorher aber nicht?
Hermogenes: Ja.
Sokrates: Also müssen auch wir in derselben Weise zuerst die Vokale abscheiden, dann von den übrigen Buchstaben nach Klassen die stummen und klanglosen. Denn so drücken sich etwa die Sachverständigen aus. Und dann wieder solche, die keine Vokale sind, aber auch nicht klanglos; ferner von den Vokalen alle, die unter einander verschiedene Klassen bilden. Und wenn wir das alles gehörig geschieden haben, müssen wir wieder an die Dinge gehen, denen man Namen beilegen soll, ob es Klassen gibt, auf die sich alle Dinge zurückführen lassen, wie die Laute, aus denen man sie erkennen kann, und ob es unter ihnen Klassen gibt nach demselben Gesichtspunkt wie bei den Lauten. Haben wir das alles richtig durchgemustert, so muß man wissen, jeden Laut nach der Ähnlichkeit anzubringen, mag nun für ein Ding nur ein Laut notwendig sein oder die Mischung vieler für eines, wie ja die Maler, um Ähnlichkeit zu erzeugen, bald nur Purpur nehmen, bald irgend eine andere Farbe, bald viele miteinander mischen, z.B. wenn sie Fleischfarben oder etwas der Art darstellen wollen, je nach dem, glaube ich, jedes Bild je seine Farbe zu erfordern scheint. So wollen denn auch wir die Laute an die Dinge halten, und zwar einen an eines, und je nach Bedürfnis auch viele zugleich, und daraus bilden, was man bekanntlich Silben nennt, und die Silben wieder verbinden, aus denen die Gegenstandswörter und Aussagewörter zusammengesetzt werden. Und aus den Gegenstands- und Aussagewörtern[595] wollen wir ein recht großes schönes Ganze zusammenfügen, wie dort in der Malerei das Gemälde, so hier den Satz, mittels der Namenkunst oder der Redekunst, oder welche Kunst es sein mag. Doch vielmehr nicht wir – in der Rede ließ ich mich hinreißen –, denn so haben es die Alten zusammengefügt, wie es jetzt vor uns liegt. Wir aber müssen, wollen wir all dies kunstmäßig zu betrachten verstehen, nach dieser Einteilung zusehen, ob in den Stammwörtern und den abgeleiteten Wörtern ein Prinzip sich ausprägt oder nicht. Planlos sie aneinander zu reihen, wäre übel und unmethodisch, mein lieber Hermogenes.
Hermogenes: Freilich, beim Zeus, o Sokrates.
Sokrates: Wie; Traust du dir selbst die Fähigkeit zu dieser Einteilung zu? Denn ich tue es nicht.
Hermogenes: Dann bin ich gar weit entfernt davon.
Sokrates: Sollen wir es also lassen, oder sollen wir es nach Kräften versuchen und, wenn wir auch nur einen geringen Einblick zu tun vermögen, indem wir voraus bemerken, wie vorher zu den Göttern: wir verständen nichts von der Wahrheit, nur die Vorstellungen der Menschen über sie suchten wir zu erraten; – wollen wir auch jetzt so vorwärts gehen, zuerst aber zu uns selbst sagen, wenn diese Einteilung in sachgemäßer Weise hätte geschehen sollen, entweder durch einen andern oder uns, so wäre das freilich wahr, jetzt aber werden wir uns damit beschäftigen müssen, wie man zu sagen pflegt, so gut wie's eben gehen wolle? Gefällt dir das, oder was meinst du?
Hermogenes: Mir scheint das ganz in der Ordnung.
Sokrates: Lächerlich wird es sich freilich ausnehmen, wenn die Nachahmung der Dinge durch Buchstaben und Silben zur Darstellung kommen soll. Gleichwohl muß es geschehen. Denn wir haben nichts Besseres, worauf wir die Bedeutung der Stammwörter zurückführen könnten, wir müßten denn auch gerade wie die Tragödiendichter zu den Maschinen ihre Zuflucht nehmen und Götter in Bewegung setzen, wenn sie in einer Verlegenheit sind, mit der Erklärung uns losmachen, daß die Götter die Stammwörter gegeben hätten, und deshalb seien sie richtig. Ist das auch für uns die überzeugendste Erklärung? Oder jene, wir hätten sie von gewissen Barbaren überkommen, und die Barbaren seien älter als wir? Oder wegen der Altertümlichkeit[596] könne man sie nicht ergründen, gerade wie die Fremdwörter? Denn alle diese gar fein ausgedachten Ausflüchte hätte man, wenn man über die Bedeutung der Stammwörter keine Rechenschaft geben wollte. Doch mit welcher Entschuldigung man auch immerhin die Richtigkeit der Stammwörter nicht kennen mag, so ist doch gewiß jede Einsicht in die abgeleiteten Worte unmöglich, wenn man jene nicht versteht, aus denen diese erklärt werden müssen. Wer hierin ein Kunstverständiger zu sein behauptet, der muß offenbar über die Stammwörter am besten und klarsten Auskunft zu geben wissen, oder er muß die Überzeugung haben, daß er über die abgeleiteten nur albernes Geschwätz vorbringen könne. Oder meinst du's anders?
Hermogenes: Nicht im mindesten, o Sokrates.
Sokrates: Meine Bemerkungen über die Stammwörter kommen mir sehr ungehobelt und lächerlich vor. Doch will ich sie dir mitteilen, wenn es dir recht ist. Wenn du aber sonst woher etwas Besseres herzunehmen weißt, so versuche auch mir es mitzuteilen!
Hermogenes: Ich will's tun; doch sprich nur dreist!
Sokrates: Zunächst also kommt mir das r gerade wie ein Werkzeug für alle Bewegung vor, von der wir auch noch nicht angegeben haben, warum sie den Namen kinêsis hat. Doch offenbar darum, weil sie ein Gehen, iesis, sein will. Denn vor alters brauchten wir kein ê, sondern nur ein e. Der Anfang kommt von kiein, einem Fremdwort; es heißt so viel als Gehen. Wollte man ihren alten Namen nach unserer jetzigen Aussprache gestalten, so wäre der rechte Ausdruck iesis; jetzt aber heißt es infolge des Fremdwortes kiein und der Veränderung des ê und der Einschiebung des n kinêsis, müßte aber kieinêsis heißen oder eisis. Stasis, Stillstand, soll eine Verneinung des Gehens, aiesis, sein; aber um des Wohlklangs willen sagt man stasis. Der Laut r also war, wie gesagt, ein vortreffliches Werkzeug der Bewegung für den Namengeber, um in die Worte das Bild des Treibens hineinlegen zu können. Dazu bedient er sich häufig dieses Lautes. Zuerst ahmt er in Strömen, rhein, und Strom, rhoê, selbst mittels dieses Buchstabens die treibende Kraft nach; ferner in Zittern, tromos, dann in rauh, trachys, dann in Zeitwörtern wie schüttern,[597] reiben, reißen, brechen, bröckeln, drehen (krouein, thrauein, ereikein, thryptein, kermatizein, rhymbein). Alles dies trifft er meist mittels des r. Denn er bemerkte wohl, daß die Zunge dabei gar nicht stocke, sondern am meisten erschüttert werde, und darum bediente er sich offenbar dieses Lautes für diese Begriffe. Das i dagegen braucht er für alles Feine, weil natürlich dies am besten alles durchdringen kann. Daher bildet er das ienai, dringen, gehen, und iesthai, sich erringen, durch das i nach, wie er ja durch ph, ps, s und z, weil diese Buchstaben mit starkem Hauch gesprochen werden, alle entsprechenden Begriffe im Benennen nachgebildet hat, wie das Frostige (psychron), Zischende zeon, erschüttern (seiesthai) und überhaupt jede Erschütterung (seismos). Wenn der Namenbildner irgend das Luftartige, physôdes, nachahmt, da bringt er offenbar eben meistenteils solche Buchstaben in Anwendung. Dagegen hielt er offenbar die Natur des d und t, wonach die Zunge zusammengepreßt und angedrückt wird, für brauchbar zur Nachahmung des Bindens (desmos) und Stillstehens (stasis). Weil er ferner sah, daß bei dem l die Zunge am meisten gleitet, so gab er nach diesem Bilde dem Glatten, dem Gleiten selbst, dem Öligen, Leimigen und allen ähnlichen Begriffen die Namen (leia, olisthanein, liparon, kollôdes). Weil aber auf das Gleiten der Zunge die Natur des g einen gewissen Einfluß übt, so bildete er danachglischron, glibberig, glyky, süß, glücklich, und gloiôdes, klebrig. Weil er ferner bemerkte, daß das n die innere Äußerung der Stimme sei, so benannte er danach das Innen und Drinnen, endon und entos, um das Bild der Sache in den Buchstaben wiederzugeben. Das a gab er dem Großen, Gewaltigen, megalô, – und der Länge, mêkei, das ê, weil die Buchstaben groß sind und lang. Weil er für das Runde, gongylon, des Zeichens o bedurfte, so mischte er ihm diesen Laut zumeist in den Namen. Und offenbar verfährt auch bei den übrigen Worten der Gesetzgeber ebenso, bildet entsprechend in Buchstaben und Silben für jedes Ding ein Zeichen, ein Wort, und setzt dann aus diesen Elementen das übrige mit denselben Mitteln nachahmend zusammen. Das also soll nach meiner Ansicht die Richtigkeit der Namen und Worte sein, Hermogenes, es sei denn, daß unser Kratylos eine andere Ansicht vorbrächte.
[598] Hermogenes: Wahrlich, Sokrates, mir macht ja Kratylos oft und viel dadurch zu schaffen, wie ich von Anfang sagte, daß er trotz der Behauptung, es gebe eine Richtigkeit der Namen, sich durchaus nicht deutlich erklärt, worin sie bestehe, so daß ich nicht wissen kann, ob er absichtlich oder ohne Absicht allemal so undeutlich sich darüber ausdrückt. Daher erkläre dich also jetzt, o Kratylos, gegenüber dem Sokrates, ob des Sokrates Darstellung über die Worte deinen Beifall hat, oder ob du noch etwas Besseres vorzubringen weißt? Und wenn das, so bringe es vor, damit du entweder von Sokrates belehrt werdest oder uns beide belehrest!
Kratylos: Wie doch, Hermogenes? Hältst du es denn für leicht, sich so rasch über etwas, was es auch sei, belehren zu lassen oder zu belehren, geschweige gar über einen so gewichtigen Gegenstand, der zu den allerbedeutendsten gehört?
Hermogenes: Wahrhaftig, das sage ich nicht. Nur des Hesiod Ausspruch ist, denke ich, in der Ordnung: Wenn man zu wenigem auch wenig nur hinzufüge, so sei es doch förderlich. Wenn du daher auch nur wenig die Untersuchung vorwärts bringen kannst, so laß dich's nicht verdrießen, sondern leiste unserem Sokrates den guten Dienst; und auch mir bist du es schuldig.
Sokrates: Natürlich möchte auch ich, mein Kratylos, keine meiner Bemerkungen für sicher ausgeben; nur wie ich mir die Sache vorstellte, habe ich sie mit Hermogenes untersucht. Was also das anlangt, so bringe nur getrost deine Ansicht vor, wenn du eine bessere hast, und sei überzeugt, daß ich darauf eingehen werde! Denn du hast gewiß schon selbständig Untersuchungen darüber angestellt und von anderen dir Mitteilungen machen lassen. Wenn du also eine bessere Ansicht vorbringst, so darfst du auch mich in die Liste deiner Schüler über die Richtigkeit der Worte eintragen.
Kratylos: Allerdings, Sokrates, habe ich mich, wie du sagst, damit beschäftigt, und vielleicht kann ich in dir einen Schüler gewinnen. Doch fürchte ich, daß es gerade umgekehrt gehe. Denn es drängt mich, nun den Ausspruch des Achilleus anzuwenden, den er in den »Bitten« an den Aias richtet. Dort sagt er:
Aias, göttlicher Sohn des Telamon, Herrscher der Völker,
Alles hast du mir fast aus der Seele selber geredet.[599]
So sind auch, o Sokrates, deine Orakelsprüche ganz nach meinem Sinne ausgefallen, magst du nun durch Euthyphron begeistert gewesen sein, oder hat vielleicht auch schon lange eine andere Muse heimlich in dir gesteckt.
Sokrates: Schon lange, mein guter Kratylos, befremdet mich selbst die eigene Weisheit, und ich traue ihr nicht. Daher muß man wohl nochmals untersuchen, was dran ist. Das allerschlimmste Begegnis nämlich ist doch die Selbsttäuschung. Denn sollte es nicht übel sein, wenn doch der, der uns täuschen soll, nicht einen Augenblick sich entfernt, sondern immer bei uns ist? Daher muß man sich, denke ich, häufig wieder nach früheren Sätzen und Behauptungen zurückwenden und suchen, wie der Dichter sagt, zu schauen zugleich vorwärts und euch rückwärts. So laß uns denn auch jetzt unsere Resultate überblicken: Die Richtigkeit des Wortes, behaupten wir, besteht darin, die Beschaffenheit des Dinges kund zu tun. Soll diese Erklärung genügen?
Kratylos: Ich halte sie für ganz vollkommen genügend, o Sokrates.
Sokrates: Der Zweck der Worte ist also Mitteilung?
Kratylos: Gewiß.
Sokrates: Ist das auch eine Kunst, und gibt es Meister in ihr?
Kratylos: Gewiß.
Sokrates: Wer sind sie?
Kratylos: Die du anfangs nanntest, die Gesetzgeber.
Sokrates: Wollen wir weiter behaupten, daß auch diese Kunst unter den Menschen in derselben Weise vorkomme wie die übrigen, oder nicht? Ich meine es so: Unter den Malern gibt es doch schlechtere und bessere?
Kratylos: Gewiß.
Sokrates: Bringen nicht die besseren ihre Werke, die Gemälde, zu größerer Vollkommenheit, die anderen aber bringen es nur zu schlechteren? Ebenso bauen auch unter den Baumeistern die einen schönere, die anderen häßlichere Häuser.
Kratylos: Ja.
Sokrates: Stellen auch die Gesetzgeber ihre Werke teils vollkommen, teils mißlungen dar?
Kratylos: Das glaube ich nicht mehr.
[600] Sokrates: Also glaubst du nicht, daß es bessere und schlechtere Gesetze gibt?
Kratylos: Nein.
Sokrates: Danach glaubst du wahrscheinlich auch nicht, daß ein Wort schlechter sei, ein anderes besser?
Kratylos: Nein.
Sokrates: Folglich sind alle Namen und Worte richtig?
Kratylos: Wenigstens alle wahren Namen und Worte.
Sokrates: Wie also? Ein Beispiel, das eben vorkam: Wollen wir behaupten, unser Hermogenes führe gar nicht diesen Namen, sofern ihm nicht Abstammung von Hermes (Hermou genesis) zukommt, oder er führe ihn zwar, jedoch gewiß nicht mit Recht?
Kratylos: Ich bin der Ansicht, Sokrates, daß er den Namen nicht einmal führe, sondern nur zu führen scheine, daß aber dieser Name einem anderen gehöre, dessen Wesen mit dem in dem Namen ausgeprägten eins ist.
Sokrates: Sagt man dann auch nicht etwas Falsches, wenn man ihn für Hermogenes erklärt? Sollte nämlich auch die Behauptung nicht möglich sein, er sei Hermogenes, wenn er es nicht ist?
Kratylos: Wie meinst du?
Sokrates: War das der Kern deines Satzes, daß Falsches zu reden durchaus unmöglich sei? Denn es gibt viele, die das behaupten, lieber Kratylos, heute wie vor Zeiten.
Kratylos: Wie kann man denn, Sokrates, wenn man wirklich das sagt, was man sagt, nicht das sagen, was ist? Oder besteht nicht das Falschessagen darin, daß man sagt, was nicht ist?
Sokrates: Der Satz ist für meinen Verstand und meine Jahre zu hoch, mein Freund; doch sage mir so viel: Glaubst du, man könne Falsches zwar nicht behaupten, doch wohl sagen?
Kratylos: Auch nicht einmal sagen, glaube ich.
Sokrates: Auch nicht reden und anreden? Wenn dir z.B. jemand in fremdem Lande begegnete, dich bei der Hand faßte und sagte: »Sei gegrüßt, athenischer Fremdling, Sohn des Smikrion, Hermogenes«, – behauptete, oder sagte, oder sprach, oder redete er damit nicht dich an, sondern unseren Hermogenes, oder niemanden?
[601] Kratylos: Ich glaube, o Sokrates, er würde das ganz umsonst gesprochen haben.
Sokrates: Ich muß auch damit zufrieden sein. Denn würde er Wahres oder Falsches sprechen? Oder zum Teil etwas Wahres, zum Teil Falsches? Denn auch das würde genügen.
Kratylos: Ich möchte sagen, er mache nur ein Geräusch und setze seine Zunge wirkungslos in Bewegung, so gut als wenn er auf einem ehernen Kessel trommelte.
Sokrates: Wohlan denn, ob wir uns vielleicht ausgleichen, o Kratylos: Sollte nicht auch nach deiner Ansicht der Name verschieden sein von dem Gegenstand, dessen Name er ist?
Kratylos: Gewiß.
Sokrates: Gestehst du zu, daß auch der Name eine Nachahmung des Gegenstandes sei?
Kratylos: Ganz gewiß.
Sokrates: Sind nicht auch die Gemälde in anderer Weise Nachahmungen von Gegenständen?
Kratylos: Ja.
Sokrates: Wohlan denn! Vielleicht verstehe ich nur nicht den eigentlichen Inhalt deines Satzes; du aber kannst ganz recht haben. Kann man diese beiden Arten von Nachbildern, die Gemälde nämlich und jene Namen, unter die Dinge, deren Nachahmung sie sind, verteilen und mit ihnen zusammenstellen, oder nicht?
Kratylos: Jawohl.
Sokrates: So überlege denn zunächstfolgendes: Könnte man nicht das Bild des Mannes dem Manne zusprechen, das des Weibes dem Weibe, und so fort?
Kratylos: Allerdings.
Sokrates: Nicht auch umgekehrt das des Mannes dem Weibe und des Weibes Bild dem Manne?
Kratylos: Auch das ist möglich.
Sokrates: Sind beide Verteilungen richtig, oder ist es nur die eine?
Kratylos: Nur eine.
Sokrates: Die wohl, die jedem Ding das Entsprechende und Ähnliche zuspricht?
Kratylos: Das ist meine Ansicht.
Sokrates: Damit wir also in unserer Untersuchung nicht in[602] Kampf geraten, ich und du, zwei Freunde, so vernimm meine Ansicht: Ich nenne nämlich, mein Freund, eine derartige Verteilung bei beiden Arten der Nachahmung, den Gemälden und den Namen, richtig, bei den Namen aber außer richtig auch wahr; die andere aber, die Zuteilung und Zusammenstellung mit Unähnlichem, nicht richtig, und wenn sie sich auf Namen bezieht, auch falsch.
Kratylos: Doch daß nur nicht, lieber Sokrates, bei Gemälden eine unrichtige Verteilung wohl möglich ist, bei Namen aber nicht, sondern da immer eine richtige notwendig wäre.
Sokrates: Wie meinst du? Was ist da für ein Unterschied? Ist es nicht möglich, zu einem Manne hinzutreten und zu ihm zu sagen: »Das ist dein Porträt«, und ihm, wenn sich's trifft, wirklich sein Bild zu zeigen, wo nicht, das eines Weibes? Unter »zeigen« aber verstehe ich, etwas dem Sinne der Augen wahrnehmbar machen.
Kratylos: Gewiß.
Sokrates: Weiter: Kann man nicht wiederum zu ihm treten und zu ihm sagen: »Das ist dein Name«? Der Name ist doch auch eine Nachahmung, gerade wie das Gemälde. Folgendes also meine ich: Sollte man nicht zu ihm sagen können: »Das ist dein Name« und darauf dem Sinn des Gehörs, wenn sich's trifft, die wahre Nachahmung von jenem vernehmbar machen, indem man sagt, er sei ein Mann, oder, wenn sich's trifft, die Nachahmung des weiblichen Geschlechtes, indem man sagt, er sei ein Weib? Scheint dir das nicht möglich zu sein und bisweilen vorzukommen?
Kratylos: Ich will dir das zugeben, Sokrates, es mag so sein.
Sokrates: Da tust du wohl, mein Freund, wenn sich die Sache wirklich so verhält. Denn wir brauchen jetzt nicht gerade darüber einen Entscheidungskampf einzugehn. Wenn es also auch hierbei eine solche Art der Verteilung gibt, so wollen wir die eine wahr reden, die andere falsch reden nennen. Wenn dem aber so ist, und wenn es möglich ist, jedem Gegenstand die Namen nicht richtig zuzuteilen und die zukommenden zuzusprechen, sondern bisweilen auch die, die ihnen nicht zukommen, so mag es auch mit den Aussagewörtern ebenso zu machen möglich sein. Wenn man aber Aussagewörter und Gegenstandswörter so stellen kann, dann notwendigerweise[603] auch Sätze. Denn Sätze sind doch, glaube ich, die Verbindung dieser beiden. Oder wie meinst du, Kratylos?
Kratylos: Ebenso. Denn du scheinst mir recht zu haben.
Sokrates: Wenn wir nun wieder die Stammwörter mit Zeichnungen vergleichen, kann man es da ebenso machen, wie man bei Gemälden bald alle ihnen zu kommenden Farben und Züge anbringen, bald wieder nicht alle, sondern einige weglassen kann, andere auch hinzusetzen, bald mehr, bald weniger? Oder geht das nicht?
Kratylos: Gewiß.
Sokrates: Macht nun nicht der, der alles anbringt, die Zeichnungen und Bilder schön, wer jedoch zusetzt oder wegläßt, bringt zwar auch Zeichnungen und Bilder zuwege, aber schlechte?
Kratylos: Ja.
Sokrates: Ferner: Wer mittels Silben und Buchstaben das Wesen der Dinge nachahmt, – wird nicht auch in demselben Grade sein Bildschön sein, wenn er alle wesentlichen Bestandteile angebracht hat? Dies Bild aber ist eben das Wort. Wenn er aber manchmal weniges wegläßt oder zusetzt, so wird auch ein Bild entstehen, aber kein schönes? Also wird ein Teil der Worte schön gebildet sein, ein anderer schlecht?
Kratylos: Vielleicht.
Sokrates: Vielleicht also wird der eine ein guter Meister im Wortbilden sein, der andere ein schlechter?
Kratylos: Ja.
Sokrates: Hatte er nicht den Namen Gesetzgeber?
Kratylos: Ja.
Sokrates: Vielleicht also, beim Zeus, wird auch, wie in anderen Künsten, ein Gesetzgeber bald gut, bald schlecht sein, wenn uns jene Voraussetzungen zugestanden werden.
Kratylos: Gut. Aber du siehst doch, Sokrates, wenn wir diese Buchstaben, das a und b, und jeden einzelnen von den Lauten den Regeln der Schreibekunst in den Worten anbringen, und wenn wir dann einen, weglassen oder zusetzen oder versetzen, so haben wir zwar das Wort geschrieben, aber nicht richtig, oder vielmehr wir haben es ganz und gar nicht geschrieben, sondern gleich ist es ein anderes, wenn so etwas eintritt.
[604] Sokrates: Daß wir nicht etwa den unrichtigen Gesichtspunkt haben, wenn wir so schließen, o Kratylos!
Kratylos: Inwiefern?
Sokrates: Wohl alles, was notwendig aus einer bestimmten Zahl besteht oder sonst gar nicht existiert, mag dem von dir angeführten Satze unterworfen sein, wie z.B. die Zehnzahl selbst oder jede beliebige andere Zahl gleich eine andere wird, wenn man etwas wegnimmt oder zufügt. Die Richtigkeit eines qualitativ Bestimmten aber, und so jeder Abbildung, dürfte nicht darin bestehen, sondern im Gegenteil dürfte man nicht einmal durchweg alle Bestandteile anbringen, die dem Gegenstand der Abbildung gehören, wenn es noch ein Bild sein soll. Bedenke, ob ich recht habe: Wenn etwa zwei Dinge da wären, z.B. Kratylos und ein Bild des Kratylos, und ein Gott bildete nicht bloß deine Farbe und Gestalt ab, wie die Maler, sondern machte auch alle inneren Teile dergestalt, wie sie in dir sind, brächte dieselben Grade von Weichheit und Wärme an und gäbe dann Bewegung, Seele und Denken, ganz wie bei dir, hinein und, um es mit einem Worte zu sagen, stellte alles, was du hast, gerade so noch einmal neben dich, – wäre das dann Kratylos und ein Bild von Kratylos, oder zwei Kratylos?
Kratylos: Ich denke, Sokrates, zwei Kratylos.
Sokrates: Du siehst also, mein Lieber, daß wir die Richtigkeit des Bildes und der eben besprochenen Dinge in etwas anderem suchen müssen und nicht darauf bestehen dürfen, es sei kein Bild mehr, wenn etwas fehle oder zukomme. Oder merkst du nicht, wieviel den Bildern fehlt, bis sie die Gegenstände erreichen, deren Bilder sie sind?
Kratylos: Gewiß.
Sokrates: Wahrlich, Kratylos, in einen lächerlichen Zustand würden die Dinge, auf die sich die Namen beziehen, durch diese versetzt werden, wenn sie ihnen alle ganz und gar gleich gemacht würden! Denn alles würde verdoppelt, und man könnte gar nicht sagen, welches von beiden das Ding ist und welches der Name.
Kratylos: Du hast recht.
Sokrates: Sei also, mein edler Freund, ohne Sorge, und laß auch unter den Worten das eine treffend sein, das andere nicht, und wolle sie nicht zwingen, alle Buchstaben zu haben, damit[605] sie vollständig dem Gegenstände gleichen, auf den sie sich beziehen, sondern laß auch den nicht wesentlichen Buchstaben hinzubringen! Und wie einen Buchstaben, so auch ein Wort im Satze, und wie ein Wort, so laß auch einen Satz in einer Entwicklung vorbringen, der mit den Dingen nicht stimmt, und gib zu, daß nichtsdestoweniger das Ding genannt und daß gesprochen werde, solange nur der Charakter des Dinges drin liegt, von dem die Rede ist, wie in den Namen der Laute, wenn du dich dessen erinnerst, was ich vorhin mit Hermogenes besprach!
Kratylos: Ei gewiß.
Sokrates: Gut also. Denn wenn dieser drin liegt, so wird das Ding, auch wenn das Wort nicht alle zutreffenden Laute enthält, ausgesprochen, und zwar gut, wenn es eben alle, schlecht, wenn es nur wenige enthält. Daß aber gesprochen werde, laß uns zugeben, damit wir nicht in Strafe verfallen, wie die Leute, die in Aigina des Nachts spät auf der Straße umhergehen, und wir in den Augen der Wahrheit so bei den Dingen später, als wir sollten, angelangt zu sein scheinen! Oder suche die Richtigkeit des Wortes in etwas anderem und gib nicht zu, es sei ein Zeichen für ein Ding durch Silben und Buchstaben! Denn wenn du diese beiden Behauptungen aufstellen willst, kannst du unmöglich mit dir selbst im Einklang bleiben.
Kratylos: Allerdings, denke ich, bemerkst du das treffend, o Sokrates, und ich nehme es an.
Sokrates: Da wir nun hierin übereinstimmen, so laß uns Herauf folgendes erwägen: Soll das Wort, sagen wir, richtig sein, so muß es die ihm wesentlichen Buchstaben enthalten?
Kratylos: Ja.
Sokrates: Wesentlich sind ihm aber die, die den Dingen ähnlich sind?
Kratylos: Gewiß.
Sokrates: So also sind die treffend gebildeten Worte. Ein Wort aber, das nicht gut gebildet ward, bestände wohl meistens aus ihm wesentlichen und dem Dinge ähnlichen Buchstaben, wenn es überhaupt noch Bild sein soll; es kann aber auch etwas Unwesentliches enthalten, wodurch das Wort nicht gut und nicht richtig gearbeitet sein dürfte. Sagen wir so, oder anders?
Kratylos: Ich darf den Kampf nicht fortsetzen, Sokrates, obwohl[606] mir die Annahme nicht gefällt, es sei zwar ein Wort, jedoch richtig sei es freilich nicht.
Sokrates: Gefällt dir der Satz nicht, das Wort sei ein Zeichen für das Ding?
Kratylos: O ja.
Sokrates: Doch der Satz, die Worte seien teils aus anderen zusammengesetzt, teils Stammwörter, scheint dir wohl nicht richtig?
Kratylos: Doch.
Sokrates: Wenn nun aber die Stammwörter Zeichen für die Dinge werden sollen, weißt du eine bessere Art dafür anzugeben, wie sie Zeichen werden sollen, als daß man sie so viel wie möglich den Gegenständen ähnlich macht, die sie darstellen sollen? Oder gefällt dir die Art besser, die Hermogenes mit vielen anderen annimmt, die Worte seien Sache der Übereinkunft und bezeichneten nur für die, die übereingekommen wären, die Dinge aber im voraus kennten, und das sei die Richtigkeit eines Wortes, die Übereinkunft; es mache aber gar keinen Unterschied, ob man übereinkomme, wie jetzt die Worte bestimmt seien, oder auch auf das Gegenteil, und groß nenne, was man jetzt klein, und klein, was groß heißt? Welche Art gefällt dir besser?
Kratylos: Jedenfalls verdient es durchaus den Vorzug, o Sokrates, mit einer Verähnlichung zu bezeichnen, was man bezeichnen will, nicht aber mit jedem beliebigen Mittel.
Sokrates: Du hast recht. Wenn also das Wort dem Dinge ähnlich sein soll, müssen doch auch die Laute den Dingen ähnlich geartet sein, aus denen man die Stammwörter zusammensetzt. Ich meine es aber so: Würde wohl jemand, wovon wir ja eben sprachen, ein Gemälde zusammenstellen können, das einem Dinge gliche, wenn es nicht von Natur Farbstoffe gäbe, aus denen das künftige Gemälde zusammengefügt wird, die jenen Dingen ähnlich sind, die die Kunst des Malers nachahmt? Oder wäre das unmöglich?
Kratylos: Unmöglich.
Sokrates: Geradeso würden also auch nie Worte entstehen können, die einem Dinge gleichen, wenn nicht jene Teile, aus denen die Worte bestehen sollen, zuerst eine gewisse Ähnlichkeit mit den Gegenständen hätten, deren Nachahmungen die[607] Worte sind? Es sind aber die Laute, aus denen man zusammensetzen muß?
Kratylos: Ja.
Sokrates: Jetzt nimm denn auch du an dem Satze Anteil, wie eben Hermogenes: Sage, scheint dir die Annahme richtig, daß das p der Bewegung, dem Strome und der Rauhigkeit gleicht, oder nicht?
Kratylos: Richtig.
Sokrates: Das l dem Glatten und Milden und Begriffen, wie wir sie eben ja nannten?
Kratylos: Ja.
Sokrates: Weißt du, daß eben dasselbe, was wir sklêrotês (Rauhigkeit) nennen, die Eretrier sklêrotêr nennen?
Kratylos: Gewiß.
Sokrates: Entsprechen nun beide Laute, das r und das s, derselben Sache und stellt sie sich als das gleiche für jene dar, während r den Schluß macht, wie für uns, während es s tut, oder stellt sie sich dem einen von uns gar nicht dar?
Kratylos: Gewiß beiden.
Sokrates: Nun, inwiefern das r und das s ähnlich sind, oder inwiefern sie es nicht sind?
Kratylos: Insofern sie ähnlich sind.
Sokrates: Sind sie allseitig ähnlich?
Kratylos: Wenigstens wohl, sofern sie eine Bewegung darstellen.
Sokrates: Doch das eingeschobene l – bezeichnet es nicht das Gegenteil der Rauhigkeit?
Kratylos: Vielleicht, Sokrates, ist es auch mit Unrecht eingefügt. Wie in den Beispielen, die du dem Hermogenes vorhieltest, da du Buchstaben wegnahmst und einsetztest, je nach Bedürfnis – und mir schien das ganz richtig –, so muß man vielleicht auch jetzt r statt l sprechen.
Sokrates: Gut. Wie nun? Jetzt verstehen wir, wie wir sagen, einander nicht, wenn einer sklêron spricht, und auch du weißt jetzt nicht, was ich damit meine?
Kratylos: O ja, durch die Gewohnheit, mein Teuerster.
Sokrates: Wenn du »Gewohnheit« angibst, meinst du etwas von Übereinkunft Verschiedenes? Oder verstehst du unter »Gewohnheit« etwas anderes als ich: wenn ich das spreche, denke[608] ich mir das, du aber verstehst, daß ich mir das denke? Meinst du nicht so?
Kratylos: Ja.
Sokrates: Wird dir nicht, wenn du meine Worte verstehst, von mir eine Mitteilung?
Kratylos: Ja.
Sokrates: Und doch drücke ich es durch etwas dem Gedachten Unähnliches aus, wenn ja das l der Rauhigkeit, wie du sagst, unähnlich ist. Wenn aber dem so ist, nicht wahr, so bist du mit dir selbst übereingekommen, und die Richtigkeit des Wortes wird dir zu einer Übereinkunft, da ja mit Hilfe der Gewohnheit und des Übereinkommens die ähnlichen sowohl als unähnlichen Buchstaben bedeutsam werden? Wenn aber gar die Gewohnheit nicht ein Übereinkommen ist, so wäre der Satz nicht mehr richtig, die Ähnlichkeit sei eine Bezeichnung, sondern die Gewohnheit wäre es. Denn sie bezeichnet offenbar durch Ähnliches und Unähnliches. Da wir aber diesen Satz zugeben, Kratylos, – denn dein Schweigen will ich als Zugeständnis ansehen –, so muß doch auch Übereinkunft und Gewohnheit beitragen zur Darstellung unserer Gedanken in Worten. Denn, mein Bester, wenn du an die Zahlen gehen willst, woher sollte man nur ähnliche Worte nehmen, die man jeder einzelnen Zahl beilegte, wenn du für die Richtigkeit der Worte deiner Beistimmung und Übereinkunft keine Geltung zuerkennen läßt? Auch mir selbst kommt es darauf an, daß die Worte nach Möglichkeit den Dingen ähnlich seien; aber in Wahrheit mag, wie Hermogenes sagt, dieser Zug nach der Ähnlichkeit schlüpfrig und mag es notwendig sein, auch diesen Ballast, die Übereinkunft, für die Richtigkeit der Worte zu Hilfe zu nehmen, während vielleicht ein Ausdruck nach Möglichkeit am schönsten wäre, wenn er aus lauter oder möglichst vielen ähnlichen Teilen bestände – das sind solche, die dem Dinge wesentlich sind –, und im entgegengesetzten Falle am häßlichsten. Aber sage mir danach noch folgendes: Welche Wirksamkeit haben die Worte, und was sollen sie Gutes zuwege bringen?
Kratylos: Ich denke, sie teilen mit, o Sokrates, und das ist ganz einfach: Wer die Worte weiß, der kennt auch die Dinge.
Sokrates: Vielleicht meinst du nämlich, Kratylos, folgendes:[609] Wenn einer das Wesen des Wortes kennt – es ist aber gerade so wie das Ding –, muß er natürlich auch das Ding kennen, wenn es ja dem Worte ähnlich ist; es gibt also nur eine Kunst für alles, was einander ähnlich ist. In dieser Beziehung, glaube ich, behauptest du, wer die Worte kenne, der werde auch die Dinge kennen.
Kratylos: Ganz richtig.
Sokrates: Halt einmal! Laß uns zusehen, worin denn eigentlich diese Art der Mitteilung über die Dinge besteht, von der du eben sprichst, und ob es noch eine andere gibt, diese jedoch besser ist, oder ob es weiter keine gibt als diese. Wie meinst du?
Kratylos: So: es gibt gar keine andere, diese aber ist die einzige und beste.
Sokrates: Soll auch das Auffinden der Dinge damit zusammenfallen, daß, wer die Worte aufgefunden hat, auch die Dinge aufgefunden habe, deren Worte sie sind? Oder muß man auf andere Weise nachforschen und auffinden, lernen aber auf diese Weise?
Kratylos: Jedenfalls muß auch Nachforschen und Auffinden in bezug auf dieselben Dinge ganz mit dieser Weise zusammenfallen.
Sokrates: Wohlan denn, laß uns bedenken, Kratylos, ob jemand, wenn er über die Dinge nachforscht, den Dingen folgt und ergründet, was der Sinn eines jeden sei, – oder bemerkst du wohl, daß darin eine nicht geringe Gefahr der Täuschung besteht?
Kratylos: Inwiefern?
Sokrates: Offenbar hat ja der erste Namenbildner nach unserer Angabe die Worte so gestaltet, wie er sich die Dinge vorstellte. Nicht wahr?
Kratylos: Ja.
Sokrates: Wenn er also unrichtige Vorstellungen hatte und danach die Worte bildete, – wie soll es ausgehen, wenn wir ihm folgen? Nicht wahr, wir werden getäuscht werden?
Kratylos: Doch vielleicht mag es so nicht sein, o Sokrates, sondern notwendig so, daß der Namenbildner die Worte durchaus mit Erkenntnis bildete. Wo nicht, was ich früher wiederholt sagte, wären seine Gebilde auch keine Worte. Ein sehr starker Beweis aber, daß der Namengeber nicht von der[610] Wahrheit abgewichen ist, mag dir folgendes sein: es stünde nämlich sonst nicht alles in solcher inneren Übereinstimmung. Oder merktest du nicht während deiner eigenen Erklärungen, wie alle Worte nach demselben Prinzip und auf dasselbe Ziel hingebildet waren?
Sokrates: Doch darin, mein guter Kratylos, liegt gar kein Grund zur Verteidigung. Denn wenn der Wortbildner sich anfangs täuschte und dann alles übrige dem Muster anquälte und ihm innere Übereinstimmung abnötigte, so ist das gar nicht auffallend, wie bei mathematischen Figuren manchmal, wenn der erste geringfügige und unscheinbare Fehler entstand den ist, die folgenden noch in großer Zahl sich anschließen und doch mit einander stimmen. Jedermann muß eben die meiste Sorgfalt und das meiste Nachdenken auf den Anfang jeder Sache verwenden und zusehen, ob die Grundlage richtig ist oder nicht. Ist sie hinlänglich erforscht, so muß das übrige offenbar jenem konsequent sein. Indes sollte es mich doch wahrlich wundem, wenn die Worte wirklich mit einander übereinstimmten. Laß uns also nochmals überdenken, was wir vorher durchnahmen: Die Worte, sagen wir, bezeichnen das Wesen der Dinge in der Voraussetzung, daß alles in Gang, Bewegung und Fluß sei. Nicht wahr, in dieser Weise stellen sie deiner Meinung nach dar?
Kratylos: Ganz vollkommen, und sie bezeichnen ja das Wesen gewiß richtig.
Sokrates: Laß uns also zuerst das Wort epistêmê (Erkenntnis) nochmals vornehmen und bedenken, wie gar zweideutig es ist und wie es eher wohl bedeutet, daß sie unsere Seele bei den Dingen zum Stehen bringt (histêsin), als daß sie mit in die Bewegung sich fortreißen läßt. Auch ist es richtiger, wie jetzt den Anfang auszusprechen, als das e abzuwerfen und pistêmê zu sagen, ja vielmehr statt an dem e an dem i eine Einfügung vorzunehmen. Dann heißt es bebaion (sicher), weil es die Nachahmung einer Unterlage (basis) und eines Stillstandes (stasis) ist, nicht einer Bewegung. Ferner historia (die Geschichte) deutet wohl gar an, daß sie den Fluß zum Stehen bringt (histêsi ton rhoun). Auch piston (treu) deutet ganz und gar auf ein Stillstehn (histan). Ferner mnêmê (Gedächtnis) macht wohl jedem kund, daß es ein Bleiben[611] (monê) sei in der Seele und nicht eine Bewegung. Und wenn du willst, so wird hamartia (der Fehler) und xymphora (Mißgeschick), wenn man nach dem Worte schließen darf, sich als identisch herausstellen mit der genannten Einsicht (xynesis) und Erkenntnis (epistêmê) und allen anderen auf gewichtige Dinge bezüglichen Namen. Ferner auch amathia (Unwissenheit) und akolasia (Frechheit) steht offenbar diesen Bedeutungen nahe. Denn das eine, die amathia nämlich, ist ja der Marsch eines mit der Gottheit zugleich Gehenden (hama theô iontos), die Frechheit (akolasia) aber stellt sich ganz als das Gefolge (akolouthia) der Dinge dar. Auf diese Weise würden sich die Worte, die wir den schlechtesten Begriffen beigelegt denken, als ganz ähnlich mit den für die alleredelsten herausstellen. Wenn man sich aber Mühe gäbe, so würde man auch noch viele andere finden, aus denen man schließen könnte, der Namenbildner bezeichne die Dinge nicht als gehend und sich bewegend, sondern als beharrlich.
Kratylos: Aber, Sokrates, du siehst doch, daß die größte Zahl jenen Sinn darstellen.
Sokrates: Was beweist das, Kratylos? Sollen wir die Worte gegeneinander abzählen, wie Stimmsteine, und soll darauf die Richtigkeit sich gründen? Soll wirklich das die Wahrheit sein, was sich als die Bedeutung der meisten Worte herausstellt?
Kratylos: Das ziemte sich gewiß nicht.
Sokrates: Allerdings nicht im mindesten, mein Freund. Doch hier wollen wir das auf sich beruhen lassen [und folgendes erwägen, ob du auch darin beistimmst oder nicht: Also stimmten wir nicht eben darin überein, die jedesmaligen Namenbildner, in hellenischen so gut wie in ausländischen Städten, seien Gesetzgeber, und die Kunst, die sich darauf verstünde, sei die gesetzgeberische?
Kratylos: Gewiß.
Sokrates: So gib denn an: Bildeten die ersten Gesetzgeber die Stammwörter mit Erkenntnis der Dinge, denen, sie sie beilegten, oder in Unkenntnis derselben?
Kratylos: Ich denke doch, Sokrates, mit Erkenntnis.
Sokrates: Denn gewiß nicht, mein lieber Kratylos, in Unkenntnis.
Kratylos: Ich denke nicht.
[612] Sokrates: Laß uns denn wieder zu jenem Punkt zurückkehren, von dem aus. wir hierher gelangten! Denn eben in der vorhergehenden Erörterung hast du, wenn du dich erinnerst, behauptet, der Namenbildner bilde notwendig die Namen für die Dinge indem er sie kenne. Scheint dir das noch so, oder nicht?
Kratylos: Noch immer.
Sokrates: Behauptest du auch, daß der Bildner der Stammwörter sie kenne?
Kratylos: Jawohl.
Sokrates: Aus welchen Worten hatte er denn die Dinge kennen gelernt und erforscht, wenn die Stammwörter noch nicht da waren, während wir doch behaupten, man könne die Dinge unmöglich anders kennen lernen und erforschen als dadurch, daß man die Worte lerne oder selbst ihr Wesen ausfindig mache?
Kratylos: Da hast du wohl recht, lieber Sokrates.
Sokrates: In welcher Weise sollen sie also mit Erkenntnis die Worte gebildet haben oder Gesetzgeber sein, ehe auch nur irgend ein Wort vorhanden war und sie eines kennen konnten, wenn es doch nicht möglich ist, die Dinge anders kennen zu lernen als aus den Worten?
Kratylos: Ich denke, die richtigste Erklärung darüber sei, o Sokrates, eine übermenschliche Macht sei es gewesen, die den Dingen die ersten Namen gab, so daß sie notwendig richtig sein müssen.
Sokrates: Und dann, glaubst du, hätte der Bildner im Bilden sich selbst widersprochen, mochte es ein Dämon sein oder ein Gott? Oder sollte unsere Behauptung eben keinen Grund gehabt haben?
Kratylos: Doch mögen die einen davon gar keine richtigen Worte sein.
Sokrates: Welche denn? Die auf Ruhe hinleiten, oder die auf Bewegung? Denn nach unserer Behauptung, die wir eben aufstellten, wird das doch nicht durch Majorität entschieden.
Kratylos: Freilich wäre das auch gar nicht die rechte Art, Sokrates.
Sokrates: Da nun die Worte mit einander im Streite sind und die einen behaupten, sie seien der Wahrheit ähnlich, die anderen, nein, sie seien es, – wonach werden wir da entscheiden, oder nach welchem Maßstab? Doch wohl gewiß nicht nach[613] anderen, von diesen verschiedenen Worten. Das geht nicht; vielmehr muß man offenbar etwas anderes aufsuchen als die Worte, das uns ohne Worte deutlich machen kann, welche dieser beiden Wortklassen die Wahrheit enthält, indem es uns offenbar das wahre Wesen der Dinge enthüllt.
Kratylos: So scheint es mir.
Sokrates: Folglich ist es doch wohl, o Kratylos, möglich, ohne Worte die Dinge kennen zu lernen, wenn dem so ist.
Kratylos: Offenbar.
Sokrates: Durch welches andere Mittel erwartest du also noch sie kennen zu lernen? Etwa durch ein anderes als das wahrscheinlichste und sachgemäßeste, nämlich durch einander, wenn sie irgend verwandt sind unter sich, und durch sich selbst? Denn etwas anderes als sie und ihnen Fremdes möchte auch etwas anderes und Fremdes bezeichnen und nicht sie zur Darstellung bringen.
Kratylos: Da hast du offenbar recht.
Sokrates: Doch halt, beim Zeus! Haben wir nicht oft übereinstimmend erklärt, die richtig gebildeten Worte seien den Dingen, deren Namen sie sind, ähnlich und seien Bilder derselben?
Kratylos: Ja.
Sokrates: Gesetzt, es ist auch wirklich in hohem Grade möglich, die Dinge aus Worten kennen zu lernen, aber auch durch sie selbst,- welches wäre der schönere und sicherere Weg der Erkenntnis: aus dem Bilde zu erkennen, ob es selbst gut nachgebildet ist und die Wirklichkeit, die es abbildete, oder aus der Wirklichkeit sie selbst und ob das Abbild von ihr richtig geraten ist?
Kratylos: Aus der Wirklichkeit, scheint es mir notwendig.
Sokrates: In welcher Weise man also die Dinge kennen lernen oder ergründen muß, das zu erkennen geht vielleicht über meine und deine Kraft. Doch es muß auch das Zugeständnis schon genügen, daß man die Dinge nicht aus den Worten, sondern viel mehr aus sich selbst kennen lernen, und erforschen soll als aus anderen Worten.
Kratylos: Offenbar, Sokrates.
Sokrates: Laß uns also ferner noch folgendes erwägen, damit uns nicht die Beziehung der meisten dieser Worte auf ein Ziel und Prinzip täusche: Wenn nämlich wirklich die Wortbildner[614] mit dem Gedanken sie bildeten, alles sei immer in Gang und Fluß – denn auch ich glaube, daß sie von diesem Gedanken ausgingen, – wenn das wirklich stattfand, so verhält sich darum doch die Sache nicht so, sondern sie selbst sind gleichsam in einen Wirbel geraten, treiben darin herum, ziehen auch uns nach und stürzen uns mit hinein. Denn bedenke, mein trefflicher Kratylos, was ich mir oft träumen lasse: Sollen wir denn behaupten, es gebe etwas Schönes und Gutes an sich und von jedem einzelnen unter allen, was ist, ebenso, – oder nicht?
Kratylos: Ich meine, ja, o Sokrates.
Sokrates: Laß uns also jenes an sich betrachten, nicht ob ein Gesicht schön ist oder etwas dergleichen und das alles im Fluß zu sein scheint, sondern laß uns sagen: Ist das Wesen des Schönen an sich nicht immer einmal wie das anderemal?
Kratylos: Notwendig.
Sokrates: Wenn es sich uns also immer entzieht, ist es dann möglich, richtig von ihm auszusagen, und zwar zuerst, daß es jenes sei, und dann, daß es so beschaffen sei? Oder ist es notwendig, daß, während wir sprechen, es alsbald zu einem andere? werde, uns entweiche und nicht mehr so sich verhalte?
Kratylos: Notwendig.
Sokrates: Wie könnte nun das überhaupt ein bestimmtes Sein haben, das niemals sich gleichmäßig verhält? Denn wenn es sich je gleichmäßig verhält, so verändert es sich offenbar in jener Zeit nicht. Wenn aber etwas immer sich gleichmäßig verhält und dasselbe ist, – wie sollte das sich verändern oder in Bewegung sein, da es doch nie aus derselben Gestalt heraustritt?
Kratylos: Durchaus nicht.
Sokrates: Doch es könnte ja wahrlich auch nicht einmal von jemand erkannt werden. Denn sowie der herantritt, der es erkennen will, so würde es ein anderes und Verändertes: daher könnte seine Qualität oder sein Zustand nicht mehr erkannt werden. Gewiß erkennt doch keine Erkenntnis ihren Gegenstand, ohne daß er sich in einem bestimmten Zustande befände.
Kratylos: So ist es, wie du sagst.
Sokrates: Nicht einmal die Möglichkeit der Erkenntnis darf man annehmen, Kratylos, wenn alle Dinge sich verändern und[615] nichts Bestand hat. Denn wenn eben dieser Begriff, die Erkenntnis, sich darin nicht verändert, daß sie Erkenntnis ist, so würde die Erkenntnis immer Bestand haben und sein. Wenn aber auch selbst der Begriff der Erkenntnis sich verändert, so würde er zugleich in einen anderen Begriff als den der Erkenntnis sich verwandeln und wäre nicht mehr Erkenntnis. Wenn er sich aber gar immer verwandelt, so würde es nie eine Erkenntnis geben. Und aus diesem Grunde wäre weder ein Subjekt noch ein Objekt der Erkenntnis möglich. Wenn aber ein Subjekt der Erkenntnis existiert und ein Objekt, ferner das Schöne, das Gute und jede Art des Seienden existiert, so sind diese Begriffe offenbar nicht, wie wir jetzt behaupten, dem Strome und der Bewegung irgend ähnlich. Ob sich das allerdings eigentlich auf diese Weise verhält oder auf jene, wie die Anhänger des Herakleitos und viele andere behaupten, das mag nicht leicht sein zu ergründen; doch sollte auch ein Mensch, der Anspruch auf Vernunft macht, nicht sich selbst und die Pflege seiner Seele den Worten überlassen und im Vertrauen auf sie und die Wortbildner fest glauben, er wüßte was Rechtes, und über sich und das Seiende das Verdammungsurteil aussprechen, es gebe nichts Gesundes an keinem Ding, sondern alles laufe aus wie Tongeschirr, und glauben, die Dinge seien gerade in demselben Zustande wie die an Katarrh und Flüssen leidenden Menschen, und alle Dinge seien vom Fluß und Katarrh ergriffen. Vielleicht, mein Kratylos, verhält es sich wirklich so, vielleicht aber auch nicht. Daher mußt du tapfer und wacker nachdenken und nicht leicht ein Urteil annehmen – denn du bist noch jung und hast Jugendfrische –, sondern mußt forschen und, wenn du etwas findest, das Resultat auch mir mitteilen.
Kratylos: Ja, das will ich tun. Doch sei überzeugt, Sokrates, daß ich auch jetzt die Sache wohl überlegt habe; aber bei allem Nachdenken und aller Anstrengung scheint mir die Sache vielmehr so zu stehen, wie Herakleitos annimmt.
Sokrates: Ein andermal also, mein Freund, magst du es mir mitteilen, wenn du zurückkommst. Jetzt aber gehe, wie du vorhast, aufs Land! Unser Hermogenes wird dich begleiten.
Kratylos: Das soll geschehen, Sokrates. Doch versuche auch du, das noch weiter zu ergründen![616]
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