Platon

Philebos

(Philêbos)

Sokrates · Protarchos · Philebos

Sokrates: So sieh denn zu, Protarchos, was für ein Satz es ist, den du von Philebos übernimmst, und wie unser Satz lautet, den du sofort bestreiten wirst, wenn er nicht nach deinem Sinn ist. Willst du, daß wir den einen und den andern bündig zusammenfassen?

Protarchos: Allerdings.

Sokrates: Philebos also behauptet, ein Gut für alles, was da lebe, sei die Freude, die Lust, das Vergnügen, und was sonst mit dieser Gattung zusammenstimmt. Wir aber bestreiten das und sagen, nicht dieses sei es; sondern das Einsichthaben, das Denken, das Sich-erinnern und was wieder mit diesem gleicher Gattung sei, richtige Vorstellung und wahre Vernunftschlüsse seien besser und wertvoller als die Lust für alles, was irgend daran teilnehmen könne. Ja für alle, die daran teilhaben können, sowohl gegenwärtig als in der Zukunft, sei das das Allernützlichste. – Ist es nicht dieses, mein Philebos, ungefähr, was jeder von uns behauptet?

Philebos: Vollkommen richtig, Sokrates.

Sokrates: Und du, Protarchos, übernimmst also den dir hiermit übergebenen Satz?

Protarchos: Ich muß ihn wohl übernehmen; denn der schöne Philebos ist uns ja müde geworden.

Sokrates: Auf jeden Fall muß also über jene Fragen das Wahre ermittelt werden. Protarchos: Das muß sein.

Sokrates: Wohlan denn! Zunächst wollen wir uns noch über folgendes verständigen.

Protarchos: Über was doch?

Sokrates: Daß jetzt jeder von uns versuchen, soll, eine gewisse Beschaffenheit und Verfassung der Seele aufzuzeigen, welche geeignet sei, allen Menschen ihr Leben zu einem glücklichen zu machen. Nicht so?

[7] Protarchos: Allerdings.

Sokrates: Und nicht wahr? Ihr meint nun die des Sich-freuens, wir aber die des Einsichthabens?

Protarchos: So ist es.

Sokrates: Wie aber, wenn nun eine andere zum Vorschein käme, die besser als jene beiden wäre? Würden da nicht, wenn jene der Lust sich als näher verwandt herausstellte, wir beide vor dem an derselben stetig festhaltenden Leben das Feld räumen müssen, so zwar, daß das der Lust doch den Vorzug behauptete vor dem der Einsicht?

Protarchos: Ja.

Sokrates: Ist dieselbe aber der Einsicht verwandter, so siegt doch wohl die Einsicht über die Lust, und es muß diese das Feld räumen? – Nehmt ihr dies so an als zugestanden, oder wie?

Protarchos: Ich denke wohl.

Sokrates: Wie aber Philebos? – Was sagst du dazu?

Philebos: Ich bin und bleibe durchaus der Ansicht, daß der Lust der Sieg gebührt. Du aber, Protarchos, wirst selbst Bescheid wissen.

Protarchos: Philebos, nachdem du die Untersuchung mir übergeben hast, steht es auch wohl nicht mehr in deiner Befugnis, dem Sokrates ein Zugeständnis zu machen oder das Gegenteil.

Philebos: Du hast recht, und so sage ich mich denn feierlich los und rufe jetzt die Göttin selbst dafür als Zeugin auf.

Protarchos: Und wir wollen dir gleichfalls mitbezeugen, daß du gesagt hast, was du sagst. Sofort aber wollen wir doch versuchen, mein Sokrates, die Besprechung des Weiteren, mag nun Philebos mithalten oder was sonst gewillt sein, zu Ende zu führen.

Sokrates: Versuchen wir es denn, und zwar von der Göttin aus, von welcher dieser behauptet, daß sie zwar Aphrodite genannt werde, ihr eigentlichster Name aber Lust sei.

Protarchos: Ganz recht.

Sokrates: Meine Scheu aber, Protarchos, hinsichtlich der Namen der Götter ist jederzeit nicht gewöhnlich menschlicher Art, sondern übersteigt selbst die größte Furcht. Auch jetzt will ich denn die Aphrodite ebenso benennen, wie es ihr selbst lieb ist. Von der Lust aber weiß ich, daß sie etwas Buntfarbiges[8] ist, und wenn wir von ihr ausgehen, wie ich sagte, müssen wir wohl beherzigen und erwägen, was für eine Natur sie hat. Denn so dem Wortlaut nach ist sie zwar einfach nur Eines, in der Tat aber hat sie doch allerlei und auf gewisse Art einander unähnliche Formen angenommen. Denn sieh nur, Lust, sagen wir, empfinde der ausschweifende Mensch, Lust empfinde aber auch der Besonnene eben dadurch, daß er besonnen ist; Lust empfinde auch der Unverständige und von unverständigen Meinungen und Hoffnungen Angefüllte, Lust aber hinwiederum auch der Vernünftige eben dadurch, daß er vernünftig ist; und wie könnte nun jemand von diesen beiden Lustzuständen sagen, sie seien einander ähnlich, ohne mit Recht als ein Tor zu erscheinen?

Protarchos: Freilich, Sokrates, kommen dieselben von entgegengesetzten Ursachen her, selbst aber sind sie sich gewiß nicht entgegengesetzt. Denn wie sollte nicht von allem, was es gibt, Lust mit Lust, dasselbe mit sich selbst, die größte Ähnlichkeit haben?

Sokrates: Ja, du Wundersamer, auch Farbe mit Farbe, und gewiß ist eben in bezug auf die Farbe im allgemeinen keine Verschiedenheit vorhanden. Ebenso gewiß aber erkennen wir alle an, daß das Schwarze und das Weiße neben ihrem Verschiedensein sich gerade am meisten entgegengesetzt sind. Und ebenso auch Figur der Figur. Der Gattung nach ist sie ein Ganzes; die Teile desselben aber sind einander sehr entgegengesetzt, oder sie haben doch tausenderlei Verschiedenheiten an sich. Und mit vielem anderen, können wir finden, verhält es sich ebenso, so daß du jener Lehre ja nicht trauen darfst, welche aus allem, auch dem Entgegengesetztesten, Eines machen will. Und so fürchte ich, daß wir auch gewisse Lustgefühle finden werden, die einander entgegengesetzt sind.

Protarchos: Vielleicht; aber warum soll das unserem Satze schaden?

Sokrates: Weil du, werden wir sagen, dem Unähnlichen noch einen anderen Namen gibst. Denn du behauptest ja, daß das Angenehme auch alles gut sei. Daß nun das Angenehme angenehm sei, ist ein Satz, den niemand bestreitet. Obgleich aber nun davon das meiste schlecht, anderes aber auch gut ist, wie wir sagen, nennst du doch alles gut, während du, wenn[9] dich jemand im Gespräch dazu nötigt, zugibst, daß es sich unähnlich sei. Was ist nun doch das ebenso in den schlechten als in den guten Lustgefühlen vorhandene Gleiche, daß du sie alle etwas Gutes nennst?

Protarchos: Wie meinst du, Sokrates? Glaubst du denn, daß jemand dir darin beitreten, daß jemand, nachdem er einmal angenommen hat, die Lust sei das Gute, es nachher sich gefallen lassen werde, wenn du behauptest, gewisse Lustgefühle seien gut, gewisse andere aber von ihnen seien schlecht?

Sokrates: Aber daß sie einander unähnlich und manche einander entgegengesetzt sind, wirst du doch zugeben?

Protarchos: Mitnichten, wenigstens sofern sie Lust sind.

Sokrates: Hiermit, Protarchos, werden wir wieder auf den vorigen Satz gebracht. Wir werden also sagen, daß Lust von Lust nicht verschieden, sondern daß alle Lust sich gleich sei; wir werden uns auch die vorhin angeführten Belege gar nicht anfechten lassen, uns dagegen in Reden versuchen, wie sie nur die allergemeinsten Leute und Leute, die zugleich in Untersuchungen der Art völlig unerfahren sind, vorbringen.

Protarchos: Was sagst du da?

Sokrates: Daß, wenn ich nun, um dich nachzuahmen und mich zu verteidigen, die Behauptung wage, das Unähnlichste sei dem Unähnlichsten am allerähnlichsten, ich damit ganz nur dasselbe sagen werde wie du, sowie daß wir uns dabei als über alle Gebühr unerfahren zeigen werden und unsere Untersuchung uns ganz im Sande verlaufen wird. Wir wollen sie also noch einmal umwenden; vielleicht daß wir dann ins gleiche Fahrwasser einlenkend miteinander zusammengehen können.

Protarchos: Sprich nur, wie?

Sokrates: Also noch einmal, Protarchos, setze, ich werde von dir gefragt!

Protarchos: Und zwar was?

Sokrates: Ob nicht Einsicht, Erkenntnis, Vernunft, und was alles ich gleich anfangs, auf die Frage nach dem Wesen des Guten, als etwas Gutes bezeichnet habe, dasselbe Schicksal haben werde wie dein Satz?

Protarchos: Wieso?

Sokrates: Als vielfältig werden uns nicht nur die sämtlichen[10] Erkenntnisse erscheinen, sondern manche derselben auch als einander unähnlich; gesetzt aber, einige stellten sich sogar als Gegensätze heraus, wäre ich da irgend wert, jetzt ein Gespräch zu führen, wenn ich aus Furcht davor gleichfalls behaupten wollte, keine Erkenntnis sei der anderen unähnlich, und dann infolge davon dieser unser Spruch uns wie ein Geschwätz zuschanden ginge, wir selbst aber uns nur noch mit irgend einem Widerspruch zu helfen wüßten?

Protarchos: Aber nein, das darf nicht geschehen, das Sich-zu-helfen-wissen abgerechnet. In der Tat, die Gleichheit deines und meines Satzes gefällt mir nicht übel. So möge es denn viele Lustzustände geben, die sich unähnlich, wie viele Erkenntnisse, die von einander verschieden sind.

Sokrates: Mit der Verschiedenheit also, Protarchos, sowohl meines Gutes als des deinigen wollen wir nicht mehr zurückhalten: sondern indem wir offen damit herausgehen, wollen wir es darauf wagen, ob uns die nähere Prüfung beider nicht einen Fingerzeig gebe, was man als das Gute bezeichnen müsse, ob die Lust oder die Einsicht oder ein anderes Drittes. Denn wir eifern jetzt ja doch über denselben Satz nicht deshalb mit einander, damit meine Aufstellung oder die deine den Sieg davontrage; sondern dem, was der Wahrheit am meisten entspricht, müssen wir doch wohl beide als Bundesgenossen zur Seite stehen.

Protarchos: Das müssen wir allerdings.

Sokrates: Sofort wollen wir denn jenen Satz durch gegenseitige Verständigung noch fester stellen.

Protarchos: Welchen doch?

Sokrates: Den, der allen Menschen zu schaffen macht teils mit ihrem Willen, teils auch manchen manchmal ohne ihren Willen.

Protarchos: Erkläre dich deutlicher!

Sokrates: Ich meine den eben jetzt uns unter die Hand gekommenen, seiner Natur nach sonderbaren Satz. Denn daß das Viele Eines und daß das Eine Vieles sei, das lautet doch sonderbar, und wer das eine oder andere behauptet, mit dem läßt sich leicht streiten.

Protarchos: Du meinst wohl so, wie wenn jemand sagt, mein, des Protarchos, Ich, das von Natur Eines ist, sei auch wieder[11] viele und einander entgegengesetzte Ich, indem er ebendenselben als groß und klein setzt, als schwer und leicht, und so tausend anderes mehr?

Sokrates: Was du da anführst, Protarchos, von den Sonderbarkeiten über das Eine und Viele, ist nur das, was bereits gemein geworden ist und mit dem man sich nach so ziemlich allgemeiner Meinung nicht mehr befassen darf, indem man darin nur eine Spielerei und leichte Ware sieht, die nur dazu diene, die Untersuchung recht aufzuhalten. Ja auch nicht einmal das gehört hierher, wenn einer im Gespräch die Glieder und übrigen Teile eines Gegenstandes unterscheidet und sich nun darüber verständigt, daß alle zusammen jener eine Gegenstand seien, um dann mit Lachen zu beweisen, daß er sich gezwungen sehe, wunder was zu behaupten, nämlich daß das Eine Vieles und Unbegrenztes und daß das Viele nur Eines sei.

Protarchos: Was meinst denn aber du, Sokrates, anderes, was noch nicht allgemein angenommen und gemein geworden wäre, über eben jenen Satz?

Sokrates: Dieses, mein Sohn, wenn jemand das Eine nicht als in den Bereich des Werdenden und Vergehenden fallend, wie wir vorhin getan haben, setzen würde. Denn in diesem Falle, und wenn es sich um ein solches Eins handelt, wie wir es jetzt eben bezeichnet haben, bedarf es zugestandenermaßen keines Beweises. Wenn aber jemand den Versuch macht, den Menschen als Eines und den Ochsen als Eines, und das Schöne als Eines und das Gute als Eines zu setzen, über diese und ähnliche Einheiten führt der große Eifer im Teilen zu Zweifel und Streit.

Protarchos: Inwiefern?

Sokrates: Einmal darüber, ob man annehmen muß, daß es solche wahrhaft seiende Einheiten gebe; sodann, wie diese Einheiten, und zwar jede Einheit für sich stets sie selbst, keinem Wechsel des Entstehens und Vergehens unterworfen, in Wahrheit aufs beharrlichste diese Einheit sei; hierauf wiederum, ob sie als im Werdenden und Unbegrenzten zerteilt und Vieles geworden, oder als Ganzes auch in der Abtrennung von sich selbst anzunehmen sei, was freilich das Allerundenkbarste sein dürfte, daß nämlich Eines und dasselbe sowohl in Einem als in Vielen zugleich sich vorfinde. – Dieses Eins und Vieles, nicht[12] aber jenes, Protarchos, ist bei dergleichen Untersuchungen die Ursache, daß sie, wenn es unrichtig verstanden wird, allwärts mißraten, dagegen wenn es richtig verstanden wird, wohl geraten.

Protarchos: Müssen wir also, Sokrates, nicht für jetzt zuerst dieses durchsprechen?

Sokrates: Ich wenigstens möchte es meinen.

Protarchos: Und demnach nimm nur an, daß wir dir alle darin beitreten. Den Philebos indessen wird es vielleicht das Beste sein, für jetzt nicht durch Fragen zu stören in seiner guten Ruhe.

Sokrates: Gut! Von welchem Punkte aus soll nun diese große und allseitige Schlacht über jene strittigen Fragen beginnen? Etwa von folgendem aus?

Protarchos: Von welchem?

Sokrates: Wir geben doch wohl zu, daß die Identität des Einen und Vielen im Sprachgebrauch überall und bei allem, was man bespricht, immer, wie vordem so noch jetzt, einem in den Weg läuft. Auch wird das so wenig je aufhören, als es jetzt erst angefangen hat, sondern, wie mir scheint, ist dieses eine unsterbliche und niemals veraltende Eigentümlichkeit der Sprache selbst bei uns. Und wer nun von den jungen Leuten das erstemal davon gekostet hat, der ist so froh, als hätte er einen Schatz von Weisheit gefunden. Außer sich vor Freude, vergnügt er sich damit, nun jede Rede hin- und herzubewegen, indem er sie jetzt nach der einen Seite hinwendet und in Eins zusammenknetet, dann wieder auseinanderwickelt und in Teile zerlegt. Und wie er damit vor allem sich selbst und am meisten in Verwirrung bringt, so nicht minder nachher jeden, dessen er irgend habhaft werden kann, gleichviel ob derselbe jünger oder älter oder gleichen Alters mit ihm ist; und dabei schont er weder des Vaters noch der Mutter noch irgend anderer, wenn sie nur auf ihn hören, und es fehlte nicht viel, selbst nicht die anderen lebenden Wesen, nicht nur den Menschen; denn selbst der Barbaren würde er keinen verschonen, wenn er nur irgendwoher einen Dolmetscher bekommen könnte!

Protarchos: Aber, Sokrates, siehst du nicht, daß wir unser viele sind, und das lauter junge Leute? Fürchtest du dich nicht, wir könnten, wenn du uns schmähst, mit dem Philebos zusammen über dich herfallen? Indessen – wir verstehen ja, was du meinst, – wenn es ein Mittel und einen Ausweg gibt, einer[13] solchen Störung unserer Besprechung in gütlicher Weise zu begegnen und einen anständigeren Weg als diesen für das Gespräch zu finden, so bemühe dich darum, und wir werden dir alle folgen, so gut wir können, denn unsere gegenwärtige Untersuchung, Sokrates, ist keine kleine.

Sokrates: Freilich nicht, ihr Kinder, wie euch Philebos zu benennen pflegt. In der Tat aber gibt es keinen besseren Weg, noch dürfte sich einer zeigen, als der, von dem ich jederzeit ein besonderer Liebhaber bin, und den ich noch niemals verloren habe, ohne dann verlassen und ratlos dazustehen.

Protarchos: Und welchen doch; Nur gesprochen!

Sokrates: Ihn zu zeigen ist gar nicht schwer, ihn zu benützen aber sehr schwer. Denn alles, was jemals kunstmäßig erfunden worden ist, ist auf demselben ans Licht gekommen. Sieh aber zu, welchen ich meine!

Protarchos: Sprich nur!

Sokrates: Ein Göttergeschenk an die Menschen, wie ich es wenigstens ansehe, ward einst durch irgend einen Prometheus zugleich mit einem Feuer der glänzendsten Art von Göttern herniedergeschleudert, und die Alten, welche besser waren als wir und Göttern näherstanden, haben es als eine Sage überliefert, daß alles, wovon wir immer sagen, es sei, zwar aus Eins und aus Vielem, das aber Begrenzung und Unbegrenztheit zusammengewachsen in sich habe, bestehe. Unsere Sache nun sei es, da dieses einmal also geordnet, immer in jedem einzelnen Falle bei allem eine Idee anzunehmen und sie aufzusuchen – und finden werde man eine, da sie darin sei. Hierauf, wenn wir sie erfaßt haben, müsse man nach dem Einen zwei in Betrachtung ziehen, wenn es etwa deren gebe, wenn nicht, drei oder irgend eine andere Zahl, und dann wieder mit jedem dieser Eins auf dieselbe Art verfahren, bis man von dem anfänglich Einen erkannt hat, nicht, daß es nur Eins und Vieles und unbegrenzt, sondern auch, wie vieles es ist. Die Idee des Unbegrenzten aber dürfe man nicht eher auf die Vielheit übertragen, bis man die ganze Zahl der letzteren, welche zwischen dem Unbegrenzten und dem Eins liegt, erkannt habe; dann erst dürfe man das einzelne Eins bei allem ins Unbegrenzte übergehen und so auf sich beruhen lassen. Die Götter also, wie gesagt, haben uns die Weisung gegeben, also zu untersuchen, zu lernen und uns gegenseitig[14] zu belehren. Die Weisen aber unter den jetzigen Menschen machen zwar ein Eins, wie es ihnen gerade aufstößt, und schneller und zögerlicher als nötig auch ein Vieles, aber ein Unbegrenztes unmittelbar nach dem Eins, während ihnen das in der Mitte Liegende entgeht. Darin aber beruht gerade der Unterschied des dialektischen Verfahrens von dem eristischen in unseren Besprechungen.

Protarchos: In einigem, Sokrates, glaube ich dich zu verstehen; über anderes aber muß ich erst deutlicher vernehmen, wie du es meinst.

Sokrates: Ganz deutlich, Protarchos, wird, was ich meine, dir an den Lautzeichen sein, und faß es nur einmal an diesen, die du ja auch erlernt hast, ins Auge!

Protarchos: Wieso?

Sokrates: Der Laut ist doch wohl im ganzen und einzelnen, wie er durch den Mund geht, nur Einer und doch wieder unbegrenzt vielfältig?

Protarchos: Wie sollte er nicht?

Sokrates: Und doch werden wir noch in nichts durch eines von diesen beiden sachverständig, weder dadurch, daß wir ihn als ein Unbegrenztes, noch dadurch, daß wir ihn als Eines kennen; sondern erkennen, wie viele und welcherlei Formen er habe: das ist es, was jeden von uns zum Sprachkundigen macht.

Protarchos: Sehr richtig!

Sokrates: Und auch mit dem, was erst den Tonkünstler macht, ist es dasselbe.

Protarchos: Wieso?

Sokrates: Der Laut ist doch wohl, auch was diese Kunst anlangt, in derselben Einer.

Protarchos: Wie anders?

Sokrates: Setzen wir aber nun zwei, ein Tiefes und ein Hohes, und noch ein Drittes, das Gleichtönige! Oder wie?

Protarchos: Ganz so.

Sokrates: Nun aber wirst du doch in der Tonkunst noch gar kein Sachverständiger, wenn du nur dieses von ihr weißt. Freilich, verstehst du nicht einmal das, so wirst du darin eigentlich noch gar nichts taugen.

Protarchos: Freilich nicht.

Sokrates: Sondern, mein Freund, erst wenn du begriffen hast,[15] wie viele es Intervalle des Tons, sowohl was die Höhe als Tiefe desselben betrifft, der Zahl nach gibt und wie beschaffen sie sind, sodann die Grenzen der Intervalle, und wie viele Tonsysteme auf denselben beruhen, die schon unsere Vorfahren erkannt und uns, ihren Nachkommen, unter dem Namen Harmonien überliefert haben, ferner noch andere hierher gehörige, aus den Bewegungen des Körpers sich ergebende Verhältnisse, welche man nach Zahlen messen und, wie sie weiter sagen, Takte und Maße nennen müsse, und hinsichtlich deren man zugleich wohlgemerkt jedes Eins und Vieles ebenso untersuchen muß, – wenn, sage ich, du dieses so begriffen hast, dann erst bist du ein Sachverständiger geworden. Und so mit jedem anderen Eins, was es auch sei, – erst wenn du es auf diese Weise untersucht und erfaßt hast, bist du zu einer Einsicht darüber gekommen. Die unbestimmte Vielheit aber des Einzelnen und im Einzelnen verleiht nur jedesmal auch deiner Einsicht ein unbestimmtes Wesen und macht, daß du, weil du durchaus in nichts ein Auge für die Zahl hast, auch selbst weder mitgerechnet noch mitgezählt werden kannst.

Protarchos: Sehr gut, Philebos, scheint mir Sokrates das eben Gesagte gegeben zu haben.

Philebos: Mir ebenfalls. Aber wozu wurde denn eigentlich diese Rede an uns gerichtet? Was will er damit?

Sokrates: Mit Recht, Protarchos, hat Philebos diese Frage an uns gestellt.

Protarchos: Allerdings; antworte ihm nur!

Sokrates: Ich werde es tun, wenn ich erst noch über denselben Gegenstand weniges auseinandergesetzt habe. Denn gleichwie, wenn jemand irgend welches Eins ins Auge gefaßt hat, derselbe nun, wie gesagt, nicht ohne weiteres den Blick auf die Natur des Unbegrenzten richten soll, sondern auf irgend eine Zahl, so muß auch umgekehrt, wenn nun jemand sich gedrungen sieht, zuerst das Unbegrenzte ins Auge zu fassen, derselbe nicht ohne weiteres nach dem Eins sich umsehen, sondern ebenfalls nach einer Zahl, die irgendwelche einzelne Vielheit zum Nachdenken darüber in sich hat, und zuletzt nach allem erst mit dem Eins abschließen. – Indessen wollen wir auch diesen Satz wieder an den Buchstaben ins Auge fassen.

Protarchos: Und wie?

[16] Sokrates: War es ein Gott oder ein göttlicher Mensch, der zuerst das Unbegrenzte der Sprache zum Gegenstande seines Nachdenkens machte, – in Ägypten geht die Sage, ein gewisser Theuth sei es gewesen, der zuerst über die Selbstlauter in diesem Unbegrenzten nachgedacht habe, daß es deren nicht einen nur, sondern mehrere gebe, und wiederum über andere, welche zwar keinen Laut, aber einen Klang haben, daß es auch dieser eine gewisse Zahl gebe; sodann schied er als eine dritte Gattung die von uns sogenannten stummen aus; hierauf unterschied er die klanglosen und stummen bis zum einzelnsten, dann auch die Selbstlauter und die mittleren auf dieselbe Weise, bis er ihre Zahl erfaßte, worauf er nun dem einzelnen Eins sowohl als allen zusammen den Namen ›Element‹ gab. Und als er sah, daß niemand von uns auch nur eines derselben für sich allein ohne die anderen insgesamt verstehen würde, ersann er noch weiter jenes Bindemittel, das, selbst einheitlich, dieselben alle zusammen als Eins darstellt, nämlich die dieselben betreffende eine Kunst, der er den Namen der Grammatik beilegte.

Philebos: Dieses habe ich noch besser verstanden, Protarchos, als jenes, beides gegeneinander gehalten. Doch fehlt mir auch jetzt noch zu den Erörterungen das gleiche wie kurz vorhin.

Sokrates: Doch nicht, Philebos, etwa wieder, wie dieses zur Sache gehöre?

Philebos: Ja, da ist es, wonach wir, sowohl ich als Protarchos, schon lange fragen.

Sokrates: Wirklich, ihr seid ja bereits dabei und fragt, wie du sagst, noch lange danach.

Philebos: Wieso?

Sokrates: Haben wir nicht von Anfang an mit einander über Einsicht und Lust geredet, welche von beiden den Vorzug verdiene?

Philebos: Wovon anders?

Sokrates: Und von jedem der beiden behaupten wir doch, es sei ein Eins?

Philebos: Allerdings.

Sokrates: Was demnach unsere vorige Untersuchung von uns noch fordert, ist der Nachweis, wie nun jedes jener beiden Eins und Vieles ist, und wie sie nicht ohne weiteres unbegrenzt[17] sind, sondern jedes von beiden seine bestimmte Zahl besitzt, bevor das Einzelne derselben ein Unbegrenztes geworden.

Protarchos: Keine leichte Frage ist es, Philebos, in welche uns Sokrates, nachdem er uns, ich weiß selbst nicht wie, im Kreise herumgeführt, hineingeworfen hat. Und sieh nun zu, wer von uns beiden das jetzt Gefragte beantworten wird! Vielleicht ist es lächerlich, daß ich, der ich doch unbedingt als Fortleiter des Gesprächs eingetreten bin, das jetzt Gefragte, weil ich nicht imstande bin es zu beantworten, dir wieder zuschiebe; doch noch viel lächerlicher, meine ich, wäre es, wenn keiner von uns beiden es imstande wäre. Siehe denn zu, was wir tun wollen! Sokrates fragt uns jetzt, wie mir scheint, nach Formen der Lust, ob es solche gebe oder nicht, und wie viele und wie beschaffen sie seien, und wieder ebenso hinsichtlich der Einsicht.

Sokrates: Ganz richtig, was du sagst, du Sohn des Kallias! Denn wenn wir nicht imstande sind, dieses mit jedem Eins und jedem Ähnlichen und Selbigen zu leisten, und ebenso mit dem Gegenteil davon, so wird wohl, wie die vorige Untersuchung gezeigt hat, keiner von uns jemals auch nur irgend etwas nütze sein.

Protarchos: Fast scheint es, Sokrates, sich so zu verhalten. Indessen schön zwar ist es für den Weisen, alles zu erkennen; die beste Fahrt nächstdem aber scheint zu sein, sich über sich selbst nicht zu täuschen. Was ich aber jetzt damit sagen will; Ich will dir's erklären: Du hast uns allen, Sokrates, diese Zusammenkunft gewidmet und dich selbst dazu hergegeben, um zu bestimmen, welches unter den menschlichen Besitztümern das vorzüglichste sei. Während nämlich Philebos behauptete, Lust und Genuß und Freude sei es und was es alles von dieser Art gibt, hast du dagegen behauptet, nicht dieses sei es, sondern jenes, was wir uns denn selbst absichtlich immer und gewiß mit Recht ins Gedächtnis rufen, um es im Gedächtnis zu haben, wenn es geprüft werden soll. Und zwar behauptest du, wie mir scheint, dasjenige Gilt, welches mit Recht höher als die Lust gestellt werden müsse, sei Vernunft, Erkenntnis, Einsicht, Kunst und alles, was wieder mit diesen verwandt ist, und dieses, nicht jenes, müsse man zu erwerben suchen. Und weil nun beide Ansichten nur unter Widerspruch vorgebracht worden sind, haben wir dir scherzweise gedroht, wir werden dich[18] nicht eher ziehen lassen, bis die Sache zur Entscheidung, und unsere Untersuchung zu einem gehörigen Abschluß gediehen sei. Du aber hast eingewilligt und dich uns selbst dazu hergegeben. Wir aber sagen nun wie die Kinder: was man rechtmäßig geschenkt, darf man nicht wieder nehmen. Höre also nur auf, uns bei dem, was jetzt gesprochen wird, auf diese Art zu begegnen!

Sokrates: Auf welche Art meinst du?

Protarchos: Auf die, daß du uns in Verlegenheit setzest und immer wieder Fragen stellst, aufweiche wir dir im Augenblick eine befriedigende Antwort nicht zu geben wissen. Denn das mögen wir nicht annehmen, daß das Ende unserer heutigen Besprechungen unser aller Verlegenheit sein soll; sondern wenn wir außerstand sind es zu leisten, mußt du es leisten; denn du hast es versprochen. Gehe also nur selbst mit dir darüber zu Rat, ob man verschiedene Formen von Lust und Erkenntnis annehmen müsse, oder ob man dies auf sich beruhen lassen soll, wofern du etwa sonst auf irgend eine andere Weise unsere jetzigen Streitfragen ins klare bringen kannst und willst.

Sokrates: Nichts Schlimmes hat demnach, nachdem du dich so ausgesprochen, meine Person mehr zu erwarten. Denn das Wort »wenn du willst« benimmt mir alle und jede Furcht. Überdies scheint mir wiederum der Götter einer eine Erinnerung für uns verliehen zu haben.

Protarchos: Wieso und an was?

Sokrates: Gewisse Reden, welche ich ehedem im Traum oder wachend gehört habe, verstehe ich jetzt erst, von der Lust nämlich und der Einsicht, daß von diesen beiden keines das Gute sei, sondern ein anderes Drittes, von diesen verschieden und besser als beide. Gleichwohl ist, wenn sich uns dieses jetzt augenfällig herausstellt, die Lust um ihren Sieg gebracht; denn das Gute wäre nicht mehr mit ihr identisch. Oder wie?

Protarchos: Ganz so.

Sokrates: Dann werden wir auch des Weiteren zu Unterscheidung von Lustarten meiner Ansicht nach nicht mehr bedürfen. Im Verlauf wird sich dieses noch deutlicher zeigen.

Protarchos: Sehr schön gesagt; führe es nur durch!

Sokrates: Zuvor müssen wir uns sofort noch über einige Kleinigkeiten verständigen.

[19] Protarchos: Welche nämlich?

Sokrates: Ob es zur Bestimmung des Guten gehöre, notwendig vollkommen zu sein oder nicht vollkommen?

Protarchos: Gewiß doch das Allervollkommenste, Sokrates!

Sokrates: Wie aber? Ist das Gute selbst genugsam?

Protarchos: Wie sollte es nicht? Auch in dieser Hinsicht muß dasselbe alles andere übertreffen.

Sokrates: Am notwendigsten aber, wie ich meine, sei das von ihm auszusagen, daß alles, was eine Kenntnis von ihm hat, ihm nachjagt und zustrebt, in der Absicht, es zu ergreifen und für sich zu besitzen, während es sich um alles andere nichts bekümmert, das ausgenommen, was mit dem Guten zugleich erzielt wird.

Protarchos: Dagegen ist nichts einzuwenden.

Sokrates: Laß uns nun das Leben der Lust betrachten und mit dem der Einsicht vergleichen, indem wir sie je besonders ins Auge fassen!

Protarchos: Wie meinst du das?

Sokrates: Es sei also weder in dem der Lust Einsicht, noch in dem der Einsicht Lust enthalten! Denn wenn eines von diesen beiden das Gute ist, darf es keines anderen mehr bedürfen, und zeigt sich eines von ihnen noch als bedürftig, so ist dasselbe in keinem Falle mehr für uns das wirklich Gute.

Protarchos: Wie sollte es auch?

Sokrates: Wollen wir nun nicht versuchen, diese Sätze an dir zu prüfen? Protarchos: Sehr wohl!

Sokrates: Antworte also!

Protarchos: Sprich nur!

Sokrates: Würdest du es wohl annehmen, Protarchos, dein ganzes Leben lang im Genüsse der größten Lüste hinzubringen?

Protarchos: Warum denn nicht?

Sokrates: Und wenn dir das in vollem Maße zuteil würde, würdest du wohl glauben, noch etwas weiter zu bedürfen?

Protarchos: Durchaus nicht.

Sokrates: Besinne dich wohl: also auch nicht etwas einzusehen, zu erkennen, das Erforderliche zu berechnen, und was damit alles verschwistert ist, ja nicht einmal etwas wahrzunehmen?

[20] Protarchos: Und wozu? Im Besitze der Freude besäße ich ja alles!

Sokrates: Und nicht wahr, wenn du so lebtest, würdest du zwar dein Leben lang dich der größten Lüste erfreuen?

Protarchos: Warum nicht?

Sokrates: Freilich aber ohne Verstand und Erinnerung und Erkenntnis und Vorstellung zu besitzen?

Protarchos: Richtig!

Sokrates: Und zwar würdest du doch wohl notwendig fürs erste gerade das nicht wissen, ob du dich freuest oder nicht, da du ja aller Einsicht bar wärest.

Protarchos: Notwendig.

Sokrates: Und gewiß wohl ebenso notwendig würdest du, da du keine Erinnerung besäßest, weder dich erinnern, daß du dich jemals gefreut hast, noch von der im Augenblick dir zugefallenen Lust dir irgendwelche Erinnerung bewahren; und da du ferner auch keine wahre Vorstellung besäßest, würdest du auch im Zustande der Freude keine Vorstellung von der Freude haben; der Berechnungsgabe aber beraubt, würdest du auch gar nicht imstande sein, für die Zukunft zu berechnen, wie du dich freuen werdest, wohl aber das Leben nicht eines Menschen leben, sondern etwa das eines Polypen oder jener vielen Meerkörper, welche ihr Leben in Muscheln haben. Ist dem so, oder können wir uns die Sache noch anders als so denken?

Protarchos: Und wie doch?

Sokrates: Ist nun ein Leben dieser Art begehrenswert für uns?

Protarchos: Deine Rede, Sokrates, hat mich für jetzt vollständig sprachlos gemacht.

Sokrates: Erlahmen wollen wir deshalb noch nicht, sondern nun andererseits das Verstandesleben vornehmen und ins Auge fassen.

Protarchos: Was meinst du damit?

Sokrates: Ob einer von um andererseits es wohl annehmbar fände, so zu leben, daß er zwar Einsicht, Verstand, Erkenntnis und Erinnerung an alles in ganzem Maße besäße, an der Lust aber auch nicht den entferntesten Anteil hätte, ebensowenig aber auch an der Unlust, sondern schlechterdings unempfindlich für alles dieser Art wäre?

[21] Protarchos: Von diesen beiden Lebensarten, Sokrates, kann mir keine begehrenswert erscheinen, und ebensowenig, glaube ich, sonst jemandem.

Sokrates: Wie aber die doppelseitige, Protarchos, welche durch Zusammenmischung aus beiden als gemeinschaftliche entstünde?

Protarchos: Aus Lust, meinst du, und aus Verstand und Einsicht?

Sokrates: Ja, eine solche meine ich.

Protarchos: Diese wird doch wohl jedermann eher begehren als eine von jenen beiden, und zudem jedermann ohne Ausnahme.

Sokrates: Verstehen wir also, was für ein Ergebnis jetzt in den bisherigen Erörterungen für uns liegt?

Protarchos: Allerdings! Es sind uns drei Arten zu leben vorgehalten worden, von zweien aber ist weder die eine noch die andere weder für Menschen noch Tiere irgend genugsam und begehrenswert.

Sokrates: Ist nun nicht von diesen bereits so viel klar geworden, daß weder die eine noch die andere das Gute in sich hat? Sie müßte ja dann genugsam und vollkommen sein und begehrenswert für alle Pflanzen und Tiere, welche irgend imstande wären, so zu leben ihr Leben lang. Würde aber einer von uns anderes wählen, so würde er gegen die Natur des wahrhaft Begehrenswerten danach greifen, wider Willen, aus Unwissenheit oder irgend einer nicht glücklichen Notwendigkeit.

Protarchos: In der Tat, es scheint so zu sein.

Sokrates: Daß man also die Göttin des Philebos ja nicht als identisch mit dem Guten denken darf, scheint mir genugsam dargetan zu sein.

Philebos: Aber auch dein Verstand, Sokrates, ist nicht das Gute; er ist vielmehr denselben Anfechtungen ausgesetzt.

Sokrates: Der meinige vielleicht wohl, Philebos, nicht aber, denke ich, auch der wahrhaftige und zugleich göttliche Verstand, sondern mit diesem wird es sich wohl anders verhalten. – Gegen die gemeinschaftliche Art zu leben nun streite ich zwar nicht um den Siegespreis für den Verstand. Was aber den zweiten Rang betrifft, müssen wir erst sehen und erwägen, was wir zu tun haben. Es ist nämlich wohl möglich, daß, wenn[22] wir dieses gemeinschaftliche Leben ursächlich erklären wollen, der eine von uns das Ursächliche desselben im Verstande, der andere es in der Lust findet, und so wäre zwar keines von diesen beiden das Gute, möglich aber wäre, daß jemand eines von beiden als Ursächliches annähme. Das also möchte ich und noch viel entschiedener gegen den Philebos durchkämpfen, daß, was auch immer in jenem gemischten Leben dasjenige sein mag, durch dessen Aneignung dieses Leben begehrenswert und zugleich gut geworden, demselben nicht die Lust, sondern der Verstand das Verwandtere und Gleichartige sei. Und auf diesen Satz hin würde man dann wohl der Wahrheit gemäß behaupten, daß die Lust weder auf den ersten Preis noch auch auf den zweiten einen Anspruch habe; aber auch vom dritten steht sie ferner, wenn wir diesmal meinem Verstand einiges Vertrauen schenken dürfen.

Protarchos: Fürwahr, Sokrates, mir wenigstens scheint jetzt die Lust gleichsam unter den Schlägen dieser deiner Worte niedergeworfen zu sein; denn sie, die um den Siegespreis kämpfte, liegt zu Boden. Vom Verstande aber muß man offenbar sagen, daß er vernünftig daran getan hat, den Siegespreis gar nicht in Anspruch zu nehmen; denn es wäre ihm gerade ebenso ergangen. Gar aber des zweiten Preises beraubt, würde die Lust allerdings bei ihren Liebhabern sogar Schaden an ihrer Ehre nehmen; denn nimmer würde sie ja denselben noch als gleich schön erscheinen.

Sokrates: Wie also? Ist es da nicht besser, sie jetzt schon in Ruhe zu lassen und ihr nicht durch allzu genaue Musterung und Überführung Unlust zu bereiten?

Protarchos: Damit ist nichts gesagt, Sokrates!

Sokrates: Etwa weil ich das Unmögliche behauptet habe, der Lust Unlust bereiten?

Protarchos: Nicht nur deswegen, sondern auch weil du noch nicht einsiehst, daß dich keiner von uns ziehen lassen wird, bevor du mit der Untersuchung darüber zu Ende gekommen bist.

Sokrates: O wehe, Protarchos, über die langwierige Untersuchung, die noch übrig und fast jetzt gar nicht einmal etwas Leichtes ist! Denn offenbar, wer auf den zweiten Preis für den Verstand ausgeht, bedarf einer ganz anderen Zurüstung,[23] muß sozusagen andere Pfeile haben als unsere bisherigen Gründe. Vielleicht indessen sind einige auch dieselben. – Muß es also sein?

Protarchos: Warum denn nicht?

Sokrates: Wir wollen aber nun den Hauptsatz, von welchem wir dabei ausgehen, mit Behutsamkeit aufzustellen suchen.

Protarchos: Welchen meinst du?

Sokrates: Alle Dinge, wie sie jetzt im Weltganzen da sind, wollen wir zweifach oder vielmehr, wenn du willst, dreifach teilen.

Protarchos: Wonach, erklärst du wohl.

Sokrates: Laß uns etwas von den bisherigen Sätzen beiziehen!

Protarchos: Was doch?

Sokrates: Der Gott, haben wir doch wohl gesagt, habe von dem, was ist, einiges als Unbegrenztes, anderes als Begrenzung dargetan?

Protarchos: Allerdings.

Sokrates: Von diesen Begriffen wollen wir also einmal die zwei setzen, dann als dritten ein aus jenen beiden zusammengemischtes Eins. Ich mache mich aber, wie es scheint, ordentlich lächerlich, wie ich begriffsmäßig unterscheide und zusammenzähle.

Protarchos: Was sagst du, du Guter?

Sokrates: Daß ich noch eine vierte Gattung nötig habe.

Protarchos: Sag nur, welche!

Sokrates: Betrachte die Ursache der Mischung jener unter einander und setze mir nun dies als das Vierte neben jenen dreien!

Protarchos: Wirst du nicht auch noch ein Fünftes nötig haben, was Trennung bedeutet?

Sokrates: Wohl möglich, doch für jetzt denke ich nicht. Braucht man es aber, so wirst du mir's schon zugut halten, wenn ich auf ein Fünftes fahnde.

Protarchos: Warum nicht?

Sokrates: Zuerst wollen wir von den vieren jene drei ausscheiden, sodann wollen wir, dadurch daß wir von diesen die zwei jedes für sich als in viele zertrennt und gespalten betrachten und jedes wiederum in Eins zusammennehmen, zu erkennen[24] versuchen, inwiefern doch jedes von ihnen Eins und Vieles sei.

Protarchos: Wenn du dich mir hierüber noch deutlicher erklären möchtest, könnte ich vielleicht folgen.

Sokrates: Ich sage also, die zwei, die ich vorlege, seien eben die vorhin Genannten, das eine das Unbegrenzte, das andere das, was Begrenzung hat. Daß nun das Unbegrenzte in seiner Art ein Vieles sei, werde ich darzutun versuchen; das aber, was Begrenzung hat, kann auf uns warten.

Protarchos: Es wird warten!

Sokrates: Erwäge nun! Denn schwierig und bestritten ist es, was ich dich betrachten heiße; doch betrachte es nur! Zuerst hinsichtlich des Wärmeren und Kälteren sieh doch zu, ob du wohl eine Begrenzung in denselben wahrnehmest, oder ob das ihnen (den Gattungen) einwohnende Mehr und Minder nicht, solange beides denselben einwohnt, das Eintreten eines Endes verbiete; denn träte eine Endschaft ein, so wäre es mit beiden selbst zu Ende.

Protarchos: Sehr wahr, was du sagst!

Sokrates: Immerdar aber, sagen wir doch, ist in dem Wärmeren sowohl als in dem Kälteren das Mehr und das Minder enthalten.

Protarchos: Gewiß!

Sokrates: Immerdar, müssen wir sofort aus diesem Satz folgern, haben beide kein Ende; sind sie aber unendlich, so erscheinen sie doch wohl durchaus als unbegrenzt.

Protarchos: Scharf genommen allerdings, Sokrates.

Sokrates: Und vortrefflich, mein lieber Protarchos, wie du das gefaßt hast und daran erinnerst, daß auch dieses Scharf sowohl, das du eben ausgesprochen, als wieder das Leise dieselbe Kraft haben wie das Mehr und Minder. Denn wo sie beide Platz gegriffen haben, da lassen sie ein bestimmt Großes überall nicht aufkommen; sondern indem sie in allen Fällen, wo sie wirksam eintreten, immer ein Übergewicht des Schatten über das Gelinde und umgekehrt mitbringen, erzeugen sie jedesmal das Mehrere und das Wenigere, das bestimmt Große aber machen sie verschwinden. Denn wenn sie, wie jetzt eben gesagt worden, das bestimmt Große nicht verschwinden machen würden, sondern dieses und das Maß auf dem Sitze des Mehr[25] und Minder und Scharf und Leise aufkommen ließen, so würden diese selbst von dem Platze, den sie innehatten, wegfließen. Denn Wärmeres und Kälteres, wenn sie das bestimmt Große angenommen hätten, wären nicht mehr vorhanden. Denn in steter Fortbewegung begriffen ist das Wärmere und bleibt nicht stehen, und ebenso das Kältere. Das bestimmt Große aber steht fest und hat aufgehört fortzuschreiten. Aus diesem Grunde muß also das Wärmere und ebenso sein Gegenteil unbegrenzt sein.

Protarchos: Freilich scheint es so, Sokrates. Aber, wie du sagst, ist es nicht leicht, es mit zu verfolgen. Indessen wieder und wieder besprochen, dürfte es doch vielleicht noch dazu kommen, daß der Fragende und Gefragte sich zur Genüge verstehen.

Sokrates: Brav gesagt, und so wollen wir es zu machen suchen! Für jetzt aber, um nicht gerade alles ins Lange und Breite durchzugehen, merk' auf, ob wir nicht für das Unbegrenzte folgende Bezeichnung annehmbar finden?

Protarchos: Was meinst du!

Sokrates: Alles, von dem es sich zeigt, daß es ein Mehr und Minder wird, daß es das Scharf und Leise annimmt, das Sehr und was alles von dieser Art ist, dieses alles muß man in die Gattung des Unbegrenzten als in ein Eins verlegen, gemäß dem Satze, den wir vorhin aufgestellt haben, daß wir alles, was gespalten und zertrennt ist, so viel möglich zusammennehmen und als eine bestimmte Natur bezeichnen sollen, wenn du dich erinnerst.

Protarchos: Ich erinnere mich.

Sokrates: Und nicht wahr, was dieses nicht annimmt, vielmehr gerade das diesem Entgegengesetzte annimmt, fürs erste das Gleiche und die Gleichheit, dann nach dem Gleichen das Zweifache, und alles, was sich wie Zahl zu Zahl oder wie Maß zu Maß verhält, – sollten wir nicht meinen, es rechtzumachen, wenn wir das alles unter die Begrenzung rechnen? Oder wie meinst du?

Protarchos: Ganz recht, Sokrates!

Sokrates: Gut! Nun aber das Dritte, das aus diesen beiden Gemischte, – welche Idee, werden wir sagen, habe dieses?

Protarchos: Du wirst mir, denke ich, auch dieses sagen.

Sokrates: Ein Gott also wird es, wenn anders der Götter einer sich meinen Bitten willfährig zeigt.

[26] Protarchos: Bete also und siehe zu!

Sokrates: Ich sehe schon, und mir dünkt, Protarchos, es sei uns bereits einer von ihnen befreundet geworden.

Protarchos: Wie meinst du das? Und was für ein Zeichen hast du dafür?

Sokrates: Das werde ich dir erklären; folge nur mit mir der Untersuchung! Protarchos: Sprich nur!

Sokrates: Wir haben doch eben von Wärmer und Kälter geredet; Nicht wahr?

Protarchos: Ja.

Sokrates: Füge nun zu diesen noch hinzu Trockeneres und Feuchteres, Mehreres und Wenigeres, Schnelleres und Langsameres, Größeres und Kleineres, und was wir vorhin alles unter das Eins der das Mehr und Minder befassenden Natur gebracht haben.

Protarchos: Der des Unbegrenzten meinst du?

Sokrates: Ja! Nun aber mische nächstdem in dieselbe die Familie der Begrenzung!

Protarchos: Was für eine?

Sokrates: Diejenige, welche wir noch nicht zusammengefaßt haben, obgleich wir, wie wir die des Unbegrenzten in Eins zusammenfaßten, so auch die des Begrenzungsartigen hätten zusammenfassen sollen. Doch vielleicht wirst du dasselbe auch jetzt noch leisten. Bei Zusammenfassung beider wird auch jene Familie noch klar werden.

Protarchos: Welche meinst du und wie?

Sokrates: Die des Gleichen und Zweifachen, überhaupt die ganze Familie der Begriffe, welche das verschiedene Verhalten der Gegensätze gegen einander aufheben, und in diesen durch Einfügung einer Zahl Symmetrie und Einklang bewirken.

Protarchos: Ich verstehe. Offenbar nämlich willst du, indem du die Mischung jener beiden vornimmst, mir sagen, daß bei jedem derselben gewisse Formen des Werdens zum Vorschein kommen.

Sokrates: Ganz richtig, das will ich.

Protarchos: Also nur weiter!

Sokrates: Pflegt nicht bei Krankheiten die richtige Verbindung der Gegensätze das Wesen der Gesundheit zu erzeugen?

[27] Protarchos: Allerdings.

Sokrates: Und im Hohen und Tiefen, im Schnellen und Langsamen, welche zum Unbegrenzten gehören, wenn eben dieses eintritt, wird es nicht immer zugleich Begrenzung bewirken und die gesamte Tonkunst aufs vollkommenste herstellen?

Protarchos: Sehr schön!

Sokrates: Und tritt es in Frost und Hitze ein, so wird es gewiß immer einerseits das Allzusehr und das Unbegrenzte beseitigen, andererseits das Gleichmaß und zugleich Ebenmaß bewirken.

Protarchos: Wie anders?

Sokrates: Sind also nicht die Jahreszeiten und alles, was es nur Schönes gibt, uns daraus entstanden, nämlich aus Zusammenmischung des Unbegrenzten und dessen, was Begrenzung in sich hat?

Protarchos: Wie sollte nicht?

Sokrates: Und so noch tausend andere Dinge, welche ich anzuführen unterlasse, wie außer Gesundheit Schönheit und Stärke, und in den Seelen wiederum gar viel anderes und gar Treffliches. Denn weil ja, mein schöner Philebos, jene Göttin Übermut und sämtliche allgemeine Schlechtigkeit wohl kannte, daß keine Begrenzung weder des Genusses noch der Sättigung in ihnen sei, hat sie Gesetz und Ordnung, welche Begrenzung in sich haben, festgestellt, und du zwar behauptest, dieselbe bringe herunter, ich aber sage im Gegenteil, sie mache gesund. Du aber, Protarchos, wie erscheint es dir?

Protarchos: Mir, Sokrates, so durchaus vernünftig.

Sokrates: Die drei hätte ich also nun besprochen, dein Einverständnis vorausgesetzt.

Protarchos: Und in der Tat glaube ich es zu verstehen. Eines nämlich, dünkt mir, nennst du das Unbegrenzte; eines aber, und zwar als zweites, die Begrenzung in allem Sein; hinsichtlich des dritten aber habe ich noch nicht recht gefaßt, was du damit willst.

Sokrates: Die Vielheit, du Wundersamer, in den Formen des Werdens der dritten Art hat dich verwirrt. Indessen hat ja auch das Unbegrenzte viele Arten dargeboten, und doch sind dieselben mit dem Anzeichen des Mehr und seines Gegenteils versiegelt uns als ein Eins erschienen.

Protarchos: Richtig!

[28] Sokrates: Und gar die Begrenzung, hat sie das Viele etwa nicht enthalten? Und doch keineswegs waren wir damit unzufrieden, daß es seinem Wesen nach nicht Eins war.

Protarchos: Wie sollten wir auch?

Sokrates: Gewiß nicht! – Nun aber sprich es nur aus, als drittes bezeichne ich das gesamte Erzeugnis dieser beiden, als dieses Eins setzend, das Werden zum Sein vermöge der zusamt mit der Begrenzung bewirkten Maße.

Protarchos: Ich habe verstanden.

Sokrates: Aber nicht nur drei Gattungen, sondern, wie oben gesagt, auch noch eine vierte haben wir zu untersuchen. Dies ist aber eine neue Untersuchung. Denn sieh nur, ob es dir als eine Notwendigkeit erscheint, daß alles Werdende durch irgend eine Ursache werde?

Protarchos: Mir wohl; denn wie könnte es ohne das werden?

Sokrates: Nicht wahr, also zwischen dem Wesen des Bewirkenden und der Ursache besteht kein Unterschied als der des Namens, und das Bewirkende und das Ursächliche könnte man mit recht eines nennen?

Protarchos: Mit Recht.

Sokrates: Und gewiß auch zwischen dem Bewirkten wieder und dem Werdenden werden wir, wie bei dem Vorigen, keinen Unterschied finden als den des Namens. Oder wie?

Protarchos: Ganz so.

Sokrates: Das Bewirkende also geht doch seinem Wesen nach immer voran, das Bewirkte aber folgt jenem als Werdendes nach?

Protarchos: Allerdings.

Sokrates: Etwas anderes also und nicht das gleiche ist die Ursache und das, was der Ursache zur Erzeugung dienlich ist.

Protarchos: Wie anders?

Sokrates: Und nicht wahr, das Werdende und das, woraus alles wird, hat uns jene drei Gattungen ergeben?

Protarchos: Wohl!

Sokrates: Das aber nun, was dieses dies bildet, die Ursache, wollen wir es nicht als eine vierte, von jenen, wie genügend nachgewiesen worden, verschiedene bezeichnen?

Protarchos: Bezeichnen wir es denn also!

Sokrates: Es ist nun gewiß richtig, nachdem alle vier begrifflich[29] bestimmt sind, um jede einzeln zu behalten, dieselben der Reihe nach aufzuzählen.

Protarchos: Warum nicht?

Sokrates: Als erste bezeichne ich demnach das Unbegrenzte, als zweite die Begrenzung, als dritte sodann das aus diesen beiden gemischte und gewordene Sein, und wenn ich nun die Ursache der Mischung und des Werdens als vierte nenne, sollte ich doch wohl keinen Mißgriff begehen?

Protarchos: Wie doch auch?

Sokrates: Gut denn! Was wird nun nach diesem der Gegenstand unserer Besprechung sein? Und weshalb sind wir hierauf gekommen? War es nicht folgendes? Wir fragten danach, ob der zweite Preis der Lust zuteil werden sollte oder der Einsicht? War es nicht so?

Protarchos: Ganz so!

Sokrates: Vielleicht daß wir jetzt, nachdem wir jene Unterschiede gemacht haben, auch eine bessere Entscheidung treffen können über das Erste und Zweite, über welche wir vorhin im Streit gewesen sind?

Protarchos: Vielleicht.

Sokrates: Wohlan denn, das aus Lust sowohl als Einsicht gemischte Leben haben wir doch als das siegende angenommen? War dem so?

Protarchos: Ja!

Sokrates: Auch sehen wir nun wohl, was dieses lieben ist und zu welcher Gattung es gehört?

Protarchos: Wie sollten wir nicht?

Sokrates: Und zwar werden wir, denke ich, zugeben, daß dasselbe ein Bestandteil der dritten Gattung sei. Denn diese ist nicht ein Gemisch aus irgendwelchen Zweien, sondern sie besteht aus der Gesamtheit des von der Begrenzung gebundenen Unbegrenzten, so daß jene sieggekrönte Lebensweise ganz richtig als ein Teil von ihr erscheinen dürfte.

Protarchos: Vollkommen richtig!

Sokrates: Gut! Was aber ist es mit deiner Weise, Philebos, der lustigen und ungemischten? Unter welcher der genannten Gattungen müßte man wohl diese besprechen, um sie richtig zu besprechen? Doch bevor du dich erklärst, beantworte mir folgendes!

[30] Philebos: Sprich nur!

Sokrates: Haben Lust und Unlust Begrenzung in sich, oder gehören beide in das Gebiet dessen, was das Mehr und Minder annimmt?

Philebos: Ja, in das des Mehr, Sokrates; denn nicht wäre ja die Lust alles Gute, wenn sie nicht vermöge ihrer Natur sowohl der Menge als dem Grade nach grenzenlos wäre.

Sokrates: Noch aber auch, Philebos, die Unlust alles Übel! So daß wir also etwas anderes als die Natur des Unbegrenzten in Betrachtung nehmen müssen, was den Lüsten irgend einen Anteil am Guten sichert. Dieses also soll dir aus dem Begrenzungslosen geworden sein! – Nun aber Einsicht, Erkenntnis und Vernunft, in welche der vorgenannten Arten, mein Protarchos und Philebos, müssen wir diese jetzt verlegen, wenn wir uns nicht versündigen wollen? Denn es scheint mir nicht wenig auf dem Spiel zu stehen, ob wir über diese Frage das Rechte treffen oder nicht.

Philebos: Du tust ja sehr wichtig, Sokrates, mit deinem Gott!

Sokrates: Wie du, mein Freund, mit deiner Göttin. – Die gestellte Frage aber müssen wir gleichwohl besprechen.

Protarchos: Sokrates hat ganz recht, Philebos, und wir haben ihm Folge zu leisten.

Philebos: Nun, Protarchos, hast du es nicht voraus übernommen, für mich zu reden?

Protarchos: Allerdings! Jetzt aber bin ich beinahe ratlos und bitte daher dich, Sokrates, daß du selbst unser Dolmetscher werdest, damit wir uns nicht an deinem Preiskämpfer durch etwas verfehlen und einen Mißton in unser Konzert hineinbringen.

Sokrates: Ich muß dir gehorchen, Protarchos; denn was du mir aufträgst, ist nicht einmal etwas Schweres. Aber habe ich dich wirklich durch mein scherzhaftes Wichtigtun, wie Philebos sich ausdrückt, in Verwirrung gesetzt, als ich die Frage stellte, welcher Gattung Verstand und Erkenntnis angehören?

Protarchos: Und zwar vollständig, Sokrates.

Sokrates: Und doch ist es wirklich ein Leichtes. Denn alle Weisen, in Wahrheit, um sich selbst recht wichtig zu machen, stimmen darin zusammen, daß der Verstand für uns König des Himmels und der Erde sei, und vielleicht haben sie recht.[31] Indessen, wenn es dir beliebt, wollen wir die Untersuchung der Gattung desselben ausführlicher behandeln.

Protarchos: Sprich nur, wie dir beliebt, Sokrates, ohne dir unseretwegen über die Ausführlichkeit Gedanken zu machen; darüber werden wir dir nicht feind.

Sokrates: Schön gesagt! So wollen wir denn beginnen, indem wir folgende Frage aufstellen.

Protarchos: Nämlich?

Sokrates: Wollen wir behaupten, daß über die Dinge insgesamt und über das, was man das All nennt, die Macht des Vernunftlosen und Zufälligen und das »Wie es sich gerade trifft« walte, oder aber das Gegenteil, daß, wie unsere Vorgänger gesagt haben, der Verstand und eine wunderbare Einsicht es zusammenordnend regiere?

Protarchos: Das ist ja gar keine Frage, du wundersamer Sokrates. Denn was du da sagst, scheint mir nicht einmal erlaubt zu sein. Zu behaupten aber, daß der Verstand es alles anordne, ist würdig des Schauspiels, welches die Weltordnung, Sonne, Mond und Sterne und der ganze Umlauf darbieten, und ich wenigstens möchte darüber niemals anders reden und denken.

Sokrates: Willst du also, daß das, worüber unsere Vorgänger einverstanden waren, auch wir mit ihnen behaupten, nämlich daß dieses sich also verhalte; so zwar, daß wir nicht nur meinen, Fremdes dürfe man ohne Gefahr nachsprechen, sondern daß wir auch die Gefahr mittragen und den Tadel teilen, wenn ein starker Mann behaupten sollte, daß es sich nicht so verhalte, sondern alles ungeordnet sei?

Protarchos: Warum sollte ich das nicht wollen?

Sokrates: Wohlan denn, merk auf die Rede, welche uns jetzt über diese Fragen entgegenkommt!

Protarchos: Sprich nur!

Sokrates: Was zur Natur der Körper sämtlicher lebendigen Wesen gehört, Feuer, Wasser, Luft und das, wonach die Schiffbrüchigen im Sprichwort aussehen, »Land«, das sehen wir doch wohl enthalten in der Zusammensetzung derselben.

Protarchos: Sehr gut! Denn wirklich die Ratlosigkeit in diesen Untersuchungen droht uns einen Schiffbruch.

Sokrates: Wohlan denn! Von jedem der Elemente in uns fasse nun folgendes auf!

[32] Protarchos: Was doch?

Sokrates: Daß jedes derselben in uns nur dürftig vorhanden ist und unvollkommen, und ganz und gar nicht lauter, und ohne die seiner Natur würdige Kraft zu besitzen. Faß es nun einmal an einem auf und denke dann von allen das gleiche! Also z.B. Feuer ist in uns, und es ist im Weltganzen.

Protarchos: Wie anders?

Sokrates: Ist nun das in uns nicht dürftig und schwach und unvollkommen, das im Weltganzen aber wundervoll durch Menge und Schönheit und durch das volle Maß der dem Feuer eignenden Kraft?

Protarchos: Sehr wahr, was du sagst!

Sokrates: Wie nun? Nährt sich und entsteht das Feuer des Weltganzen aus jenem und wird es beherrscht von dem Feuer in uns? Oder bekommt nicht im Gegenteil das Feuer in mir und in dir und in allen anderen lebendigen Wesen alles das von diesem?

Protarchos: Diese Frage ist nicht einmal einer Antwort wert.

Sokrates: Richtig! Und das gleiche wirst du, denke ich, von der Erde in den lebendigen Wesen hienieden und von der im Weltganzen sagen, und von allem übrigen, worüber ich eben vorhin gefragt habe, wirst du dieselbe Antwort geben.

Protarchos: Wer könnte auch anders antworten, ohne daß man an seinem gesunden Verstande zweifeln müßte?

Sokrates: Wohl niemand! Doch folge nun dem, was damit zusammenhängt: – Pflegen wir nicht alles das, was jetzt besprochen worden ist, wenn wir es in Eins verbunden sehen, einen Leib zu nennen?

Protarchos: Wie sonst?

Sokrates: Dasselbe nimm nun auch von dem an, was wir Welt nennen. Denn es dürfte doch wohl in gleicher Weise ein Leib sein, als zusammengesetzt aus den gleichen Bestandteilen.

Protarchos: Vollkommen richtig!

Sokrates: Wird nun unser Leib nicht ganz und gar von diesem Leib, oder wird dieser von dem unsrigen seine Nahrung ziehen und alles, was wir vorhin darüber gesagt haben, erhalten und besitzen?

Protarchos: Auch dieses wieder, Sokrates, ist nicht der Frage wert.

[33] Sokrates: Wie aber? Folgendes doch wohl? Oder wie wirst du sagen?

Protarchos: Sag' nur, was?

Sokrates: Werden wir nicht behaupten, unser Leib habe eine Seele?

Protarchos: Gewiß werden wir das behaupten.

Sokrates: Und die er, mein lieber Protarchos, woher doch bekam, wenn nicht etwa der Leib des Weltganzen beseelt war, der ja dasselbe hat wie er und nur noch in überall vollkommenerem Maße?

Protarchos: Offenbar, Sokrates, nirgend anderswoher.

Sokrates: Denn was jene vier Elemente betrifft, die Begrenzung, das Unbegrenzte, das Gemeinschaftliche und die Gattung der Ursache, so darf man doch wohl nicht glauben, Protarchos, daß dieses allem einwohnende Vierte zwar uns eine Seele verleiht, den Leib gesund erhält, für den kranken Leib Heilung bewirkt und so noch vieles in anderen Beziehungen ordnet und bessert und deshalb die gesamte und mannigfaltigste Weisheit genannt werde, daß es aber, während doch das alles in großen Maßen und dazu noch vollkommen und ganz lauter im Weltganzen und im Himmel vorhanden ist, in diesen das nicht sollte ausgesonnen haben, was seiner Natur nach das Vollkommenste und Herrlichste ist.

Protarchos: Das hätte in der Tat keinen Sinn.

Sokrates: Und wenn dem nicht so ist, würden wir nicht, jenen Satz weiter verfolgend, besser sagen, daß es, wie wir wiederholt ausgesprochen haben, des Unbegrenzten vieles und Begrenzung genug gibt im Weltganzen und zu diesen hinzu eine nicht schlechte Ursache, welche Jahre, Jahreszeiten und Monate regelt und aneinander reiht und deshalb mit vollstem Rechte Weisheit und Verstand genannt wird?

Protarchos: Gewiß mit vollstem Recht!

Sokrates: Und Weisheit und Verstand können doch wohl niemals ohne eine Seele zum Dasein kommen?

Protarchos: Nicht doch!

Sokrates: In der Natur des Zeus also, wirst du sagen, wohne eine königliche Seele und ein königlicher Verstand durch die Kraft der Ursache, in anderen aber anderes Schöne, mag es übrigens jeder heißen, wie es ihm lieb ist.

[34] Protarchos: Sehr wohl!

Sokrates: Glaube nun ja nicht, Protarchos, daß wir diesen Satz ohne Grund angeführt haben, sondern er ist ein Bundesgenosse jener Alten, welche sagten, daß Verstand stets das Weltganze beherrsche.

Protarchos: Das ist er.

Sokrates: Und der auch auf meine Frage die Antwort mitgebracht hat, daß der Verstand stammverwandt sei mit dem, was als das Ursächliche von allem bezeichnet worden ist, – unter den vieren nämlich als deren eine uns dasselbe erschien. – Und hiermit hast du doch wohl unsere Antwort.

Protarchos: In der Tat, und zwar ganz befriedigend, obgleich ich gar nicht bemerkt habe, daß du antwortetest.

Sokrates: Erholung, Protarchos, von ernstem Tun ist manchmal der Scherz.

Protarchos: Schön gesagt.

Sokrates: Nun denn, mein Freund, welcher Gattung der Verstand zugehört und welche Kraft er besitzt, dürfte für uns jetzt so gut als erwiesen sein.

Protarchos: Ganz richtig.

Sokrates: Und ebenso klar freilich sind wir längst über die Gattung der Lust geworden.

Protarchos: Sehr wohl.

Sokrates: Auch wollen wir denn von beiden das in Erinnerung behalten, daß der Verstand mit der Ursache verwandt war und nahezu von derselben Gattung, die Lust aber selbst unbegrenzt und von jener Gattung, welche von sich aus weder Anfang noch Mitte noch Ende in sich hat noch jemals haben wird.

Protarchos: Wir werden's behalten! Warum nicht doch?

Sokrates: Nächst diesem müssen wir in Betrachtung ziehen, worin jedes von beiden seinen Sitz hat, und unter welchen Bedingungen beides entsteht, wenn es entsteht. Und zwar zuerst an der Lust; denn wie wir an ihr die Gattung zuerst ausgemittelt haben, so nun auch dieses zuerst, ferner aber können wir auch wohl die Lust getrennt von der Unlust nicht wohl befriedigend prüfen.

Protarchos: Nun denn, wenn wir diesen Weg gehen müssen, so wollen wir ihn gehen.

[35] Sokrates: Hast du nun über ihre Entstehung wohl die gleiche Ansicht wie ich?

Protarchos: Und welche?

Sokrates: Wie mir scheint, haben beide zugleich, sowohl die Unlust als die Lust, naturgemäß ihre Entstehung in der gemeinschaftlichen Gattung.

Protarchos: Hinsichtlich der gemeinschaftlichen, lieber Sokrates, erinnere uns doch noch einmal, welche der vorhin besprochenen du damit bezeichnen willst.

Sokrates: Es soll geschehen, so gut als möglich, du Wundersamer.

Protarchos: Schön gesagt!

Sokrates: Unter der gemeinschaftlichen also wollen wir diejenige verstehen, welche wir unter den vieren die dritte genannt haben.

Protarchos: Und welche du nach dem Unbegrenzten und der Begrenzung angeführt hast? In welche du auch die Gesundheit und, wie ich glaube, auch die Harmonie verlegt hast?

Sokrates: Sehr brav gesprochen! Nun aber merke ja recht auf!

Protarchos: Sag' nur an!

Sokrates: Ich sage also, daß, wenn in uns lebendigen Wiesen die Harmonie aufgelöst wird, dann auch zugleich eine Auflösung des naturgemäßen Zustandes und eine Entstehung von Schmerzen stattfinde.

Protarchos: Sehr wahrscheinlich, was du sagst.

Sokrates: Wird sie aber wiederhergestellt und auf ihren naturgemäßen Stand zurückgebracht, so ist zu sagen, es entstehe Lust, wenn man über etwas sehr Wichtiges in wenigem so kurz als möglich sich ausdrücken soll.

Protarchos: Du hast zwar, glaube ich, recht, Sokrates; doch laß uns versuchen, gerade dieses noch einleuchtender zu sagen!

Sokrates: Nun, wir verstehen doch das Alltägliche und Augenfällige am leichtesten?

Protarchos: Was meinst du?

Sokrates: Der Hunger ist doch wohl eine solche Auflösung und darum eine Unlust?

Protarchos: Ja.

Sokrates: Das Essen aber, als wieder entstehende Anfüllung, Lust?

[36] Protarchos: Ja.

Sokrates: Hinwiederum der Durst Störung, Unlust und Auflösung, dagegen die Wirkung des Feuchten, indem es das Vertrocknete durchdringt, Lust; hinwiederum unnatürliche Absonderung und Auflösung, wie sie die Erhitzung bewirkt, Unlust, dagegen Wiederersatz und Abkühlung, wenn sie naturgemäß erfolgen, Lust.

Protarchos: Allerdings.

Sokrates: Unlust ist auch die naturwidrige Erstarrung der Feuchtigkeit eines Lebendigen, wie sie die Kälte bewirkt; dagegen Lust der naturgemäße Prozeß, durch welchen dieselbe wieder in den vorigen Stand zurückgeht und sich scheidet. Und mit einem Wort, sieh zu, ob dir der Satz angemessen erscheint, welcher besagt, daß wenn die aus dem Unbegrenzten und der Begrenzung naturgemäß gewordene beseelte Form, von der ich im Vorhergehenden gesprochen, gestört werde, die Störung Unlust sei, hinwiederum aber bei allem Lebendigen der Prozeß, durch welchen es in sein eigenes Wesen zurückkehrt, Lust sei.

Protarchos: Er soll gelten! Er scheint mir wenigstens einen gewissen Umriß zu geben.

Sokrates: Dieses also wollen wir als einheitlichen Begriff von Unlust und Lust in jenen beiderseitigen Zuständen feststellen.

Protarchos: Er stehe fest!

Sokrates: Sofort, was diese Zustände betrifft, sofern sie in der Seele für sich betrachtet noch Gegenstand der Erwartung sind, so setze das Gefühl des Hoffens, das den Zuständen der Lust vorhergeht, als Lust- und Mutgefühl, das den Zuständen der Unlust vorhergehende aber als Furcht- und Schmerzgefühl.

Protarchos: Dieses wäre also nun eine zweite Begriffsform von Lust und Unlust, deren Entstehung in der Erwartung der Seele für sich abgesondert vom Körper beruht.

Sokrates: Das hast du richtig aufgefaßt. Ich glaube nämlich – wenigstens meine Meinung ist das, daß von diesen Zuständen aus, weil beide, wie es scheint, rein sind und keine Mischung von Unlust und Lust dabei stattfindet, die Frage über die Lust überhaupt klar werden werde, die Frage nämlich, ob die ganze Gattung derselben liebenswert sei, oder ob dieses zwar von irgendwelcher anderen der von uns vorhin aufgeführten[37] Gattungen ausgesagt werden müsse, von der Lust und Unlust dagegen wie vom Warmen und Kalten und allem Derartigen, daß sie zuweilen liebenswert seien, zuweilen nicht liebenswert, indem sie zwar keine Güter sind, manchmal und manche von ihnen aber die Natur des Guten annehmen.

Protarchos: Du hast ganz recht; denn diesen Weg muß der Gegenstand unserer jetzigen Verfolgung notwendig einschlagen.

Sokrates: Zuerst nun also wollen wir folgendes mit ins Auge fassen: Wenn nämlich wirklich, wie gesagt worden ist, da Schmerz entsteht, wo das Leben gestört, und da Lust, wo es wieder geheilt wird, so wollen wir auch noch über das, was weder gestört noch wieder geheilt wird, nachdenken, in was für einem Zustand das Leben sich wohl in diesem Fall befinden muß. Nimm deine Gedanken aber recht zusammen und sage: Ist es nicht durchaus notwendig, daß alles Leben in diesem Falle weder irgend Unlust habe noch Lust, und weder in großem noch in kleinem Maße?

Protarchos: Allerdings notwendig!

Sokrates: Gibt es also nicht für uns neben der des Sichfreuens und der des Unlusthabens noch eine dritte Verfassung, nämlich gerade diese?

Protarchos: Warum nicht?

Sokrates: Wohlan denn, bemühe dich, dieselbe im Gedächtnis zu behalten; denn für Beurteilung der Lust hängt nicht wenig davon ab, ob wir daran denken oder nicht. Nur in der Kürze wollen wir über dieselbe einiges durchgehen.

Protarchos: Sag nur, was!

Sokrates: Wer die Lebensweise der Einsicht wählt, den, weißt du, hindert nichts, auf diese Art zu leben.

Protarchos: Du meinst so, daß er weder sich freue noch sich betrübe?

Sokrates: Es wurde ja damals bei der Vergleichung der Lebensweisen ausgesprochen, daß, wer die Lebensweise des Verstandes und der Einsicht wähle, der Freude weder viel noch wenig bedürfe.

Protarchos: So wurde allerdings gesagt.

Sokrates: Bei jenem träfe dies also zu, und es liegt auch wohl nichts Ungereimtes darin, wenn unter allen Lebensweisen diese die göttlichste ist.

[38] Protarchos: Es ist also nicht wahrscheinlich, weder daß Götter sich freuen, noch das Gegenteil.

Sokrates: Durchaus nicht wahrscheinlich! Jedenfalls ist das eine wie das andere für sie, wenn es vorkommt, unziemlich. Doch dieses wollen wir nachher noch in Betrachtung ziehen, wenn es für die Untersuchung von Bedeutung ist, und es dem Verstande zum zweiten Preise beigeben, wenn wir es ihm nicht schon zum ersten zulegen können.

Protarchos: Sehr richtig gesagt!

Sokrates: Nun aber, was die zweite Begriffsform der Lust betrifft, welche wir als die der Seele für sich bezeichnet haben, so ist ihre Entstehung ganz durch Erinnerung vermittelt.

Protarchos: Inwiefern?

Sokrates: Wie es scheint, müssen wir vorher das Wesen der Erinnerung vornehmen und fast, dünkt es mir, wieder noch vor der Erinnerung das sinnliche Wahrnehmen, wenn uns das hierher Gehörige irgendwie klar werden soll.

Protarchos: Wie meinst du das?

Sokrates: Setze einmal, daß von den Eindrücken unseres Körpers immer einige im Körper, bevor sie zur Seele hindurch gelangen, erlöschen und also diese unangeregt lassen, während andere dagegen beide durchdringen und in jedem eine gewisse teils besondere, teils gemeinschaftliche Erschütterung hervorbringen.

Protarchos: Das stehe fest!

Sokrates: Wenn wir nun sagen, daß die nicht beide durchdringenden Eindrücke unserer Seele entgehen, die auf beide sich erstreckenden aber ihr nicht entgehen, werden wir uns doch wohl ganz richtig ausdrücken?

Protarchos: Wie sollten wir nicht?

Sokrates: Sofort aber darfst du dieses Entgangensein ja nicht so nehmen, als ob ich darunter ein Vergehen oder Vergessen derselben verstünde. Denn das Vergessen ist Vergehen der Erinnerung. Diese ist aber in dem vorliegenden Falle noch gar nicht entstanden. Zu sagen aber, daß etwas, was noch nicht ist und noch nicht entstanden ist, irgend Gegenstand eines Verlustes werde, ist unstatthaft. Oder nicht?

Protarchos: Wie anders?

Sokrates: Und nun vertausche nur die Ausdrücke!

[39] Protarchos: Wie doch?

Sokrates: Statt daß der Seele etwas entgangen sein soll, wenn sie von den Erschütterungen des Körpers unangeregt sich zeigt, nenne das, was du jetzt als Vergehen und Vergessen bezeichnest, Mangel an sinnlicher Wahrnehmung!

Protarchos: Ich verstehe.

Sokrates: Wenn dagegen Seele und Leib sich gemeinschaftlich in einem Zustand der Erregung befinden und gemeinschaftlich bewegt werden, und du dann diese Bewegung sinnliches Wahrnehmen nennen würdest, würde deine Ausdrucksweise doch wohl ihre rechte Art haben.

Protarchos: Sehr wahr!

Sokrates: Verstehen wir jetzt, was wir sinnliche Wahrnehmung nennen wollen?

Protarchos: Wie sollten wir nicht?

Sokrates: Ferner, wenn man die Aufbewahrung der sinnlichen Wahrnehmung Erinnerung nennen wollte, würde man diese, wenigstens nach meiner Ansicht, ebenfalls ganz richtig bezeichnen.

Protarchos: Ganz richtig.

Sokrates: Sagen wir aber nicht von der Erinnerung, sie sei von der Wiedererinnerung verschieden?

Protarchos: Vielleicht.

Sokrates: Nicht wahr in folgender Beziehung?

Protarchos: In welcher?

Sokrates: Wenn die Seele die Eindrücke, welche sie mit dem Körper einmal empfangen hat, ohne den Körper für sich selbst nach Möglichkeit in sich wieder aufnimmt, dann sagen wir wohl, daß sie sich wieder erinnert. Oder nicht?

Protarchos: Allerdings.

Sokrates: Nun aber dann, wenn die Seele eine Erinnerung, sei es einer sinnlichen Wahrnehmung oder aber einer Kenntnis, die sie verloren hatte, wiederum für sich aufs neue in sich in Bewegung setzt, so reden wir doch wohl bei allem dem zusammen von Wiedererinnerungen und Erinnerungen.

Protarchos: Richtig gesagt!

Sokrates: Weshalb nun dieses alles gesagt worden, ist folgendes...

Protarchos: Was doch?

[40] Sokrates: Damit wir die Lust der Seele gesondert vom Körper so sehr und so deutlich als möglich erfassen, und zugleich damit die Begierde. Denn durch jenes lassen, wie es scheint, diese beiden sich einigermaßen klar machen.

Protarchos: Besprechen wir denn, Sokrates, gleich das, was folgt!

Sokrates: Gar vieles muß man aber, wie es scheint, besprechen und untersuchen für die Frage über das Werden und die ganze Wandlung der Lust. Denn offenbar haben wir jetzt zuvor noch die Begierde vorzunehmen, was sie wohl ist und wo sie entsteht.

Protarchos: Untersuchen wir sie denn! Wir werden ja nichts dabei verlieren.

Sokrates: Allerdings werden wir etwas verlieren, und das ist, Protarchos, wenn wir gefunden haben, was wir jetzt suchen, – unsere Ratlosigkeit eben über diese Gegenstände.

Protarchos: Brav erwidert! Wir wollen aber nun versuchen, dieselben im Zusammenhang zu besprechen.

Sokrates: Haben wir nicht eben gesagt, der Hunger, der Durst und vieles andere dieser Art seien gewisse Begierden?

Protarchos: Sehr wohl.

Sokrates: Was ist doch nun das Identische dieser so ganz verschiedenen Zustände, das uns vorschwebt, wenn wir dieselben mit einem Namen bezeichnen?

Protarchos: Beim Zeus! Das ist wohl nicht leicht auszudrücken, Sokrates! Aber gesagt muß es werden.

Sokrates: Laß es uns denn wieder von dorther nehmen, eben von jenen Zuständen.

Protarchos: Von woher doch?

Sokrates: Wir pflegen doch zu sagen von Etwas: »es dürstet?«

Protarchos: Ohne Zweifel.

Sokrates: Und das heißt doch: »es ist leer?«

Protarchos: Was sonst?

Sokrates: Ist nun der Durst eine Begierde?

Protarchos: Ja, und zwar nach Getränk.

Sokrates: Nach Getränk oder nach Anfüllung mit Getränk?

Protarchos: Ich denke, nach Anfüllung.

Sokrates: Wenn wir also leer geworden sind, begehren wir,[41] wie es scheint, nach dem Gegenteil von dem Zustand, in dem wir uns befinden. Denn leer geworden, verlangt es uns, angefüllt zu werden.

Protarchos: Sehr klar.

Sokrates: Wie nun? Einer, der zum erstenmal leer geworden, könnte der irgendwie, sei es durch sinnliche Wahrnehmung oder durch Erinnerung, auf Anfüllung verfallen, d.h. auf den Zustand, in welchem er sich weder im gegenwärtigen Augenblick befindet noch jemals früher befunden hat?

Protarchos: Und wie doch?

Sokrates: Wir sagen doch gewiß von dem Begehrenden, daß er etwas begehre!

Protarchos: Wie sollten wir nicht!

Sokrates: Nun begehrt er ja nicht nach dem Zustand, in dem er sich befindet. Denn er dürstet; und das ist Leerheit; er aber begehrt Anfüllung.

Protarchos: Ja.

Sokrates: Es muß nun doch irgendwie bei ihm etwas sein, wodurch der Dürstende auf Anfüllung verfällt.

Protarchos: Notwendig.

Sokrates: Unmöglich aber doch der Körper; denn dieser ist ja leer geworden.

Protarchos: Ja.

Sokrates: Es bleibt also nur übrig, daß die Seele auf die Anfüllung verfällt, offenbar vermittelst der Erinnerung; denn wodurch anders noch könnte sie darauf verfallen?

Protarchos: Durch nichts wohl.

Sokrates: Verstehen wir nun, was sich uns aus diesen Sätzen ergeben hat?

Protarchos: Und das wäre?

Sokrates: Daß die Begierde im Körper entstehe, das gibt uns diese Rede nicht zu.

Protarchos: Wieso?

Sokrates: Weil sie eine den Zuständen desselben immer entgegengesetzte Bestrebung in jedem Lebenden aufzeigt.

Protarchos: Sehr wohl.

Sokrates: Wohl aber beweist dieser auf das Gegenteil von jenen Zuständen führende Trieb so viel, daß eine Erinnerung des Gegenteils von jenen Zuständen vorhanden ist.

[42] Protarchos: Allerdings.

Sokrates: Unsere Untersuchung hat also, durch den Beweis, daß die Erinnerung auf das Begehrte hinführt, dargetan, daß jener Trieb und die Begierde, überhaupt die Herrschaft über jedes Leben, ganz nur der Seele zusteht.

Protarchos: Sehr richtig!

Sokrates: Daß also unser Körper dürstet oder hungert oder in irgend einem Zustand dieser Art sich befindet, nimmt unsere Untersuchung durchaus nicht an.

Protarchos: Mit vollem Recht!

Sokrates: Noch aber wollen wir über dieselben Gegenstände folgendes bedenken: Es scheint mir nämlich, unsere Untersuchung wolle uns eben hierin eine besondere Begriffsform des Lebens offenbaren.

Protarchos: Worin meinst du, und was für eine Lebensform?

Sokrates: In dem Vollwerden und Leerwerden und allem dem, was sich auf Erhaltung und Störung des Lebens bezieht, sowie wenn einer von uns in einem dieser beiden Zustände befindlich Schmerz hat, dann wieder sich freut zur Abwechslung.

Protarchos: So ist es.

Sokrates: Was aber, wenn er in der Mitte zwischen beiden sich befindet?

Protarchos: Wieso in der Mitte?

Sokrates: Wenn er also zwar vermöge des vorhandenen Zustandes Schmerz hat, sich aber der dagewesenen Lustzustände, welche dem Schmerz wohl ein Ende machen könnten, erinnert, von denselben jedoch noch nicht erfüllt ist, – was dann? Wollen wir zugäben, laß er sich dann in der Mitte zwischen jenen Zuständen befinde, oder geben wir's nicht zu?

Protarchos: Geben wir's nur zu!

Sokrates: Daß er ganz Schmerz empfinde oder ganz sich freue?

Protarchos: Nein, beim Zeus. Sondern daß er in doppelter Unlust sich befinde, dem Körper nach durch den vorhandenen Zustand, der Seele nach durch ein gewisses Sehnen der Erwartung.

Sokrates: Was meinst du, Protarchos, mit diesem Doppelten[43] von Unlust? Geschieht es nicht manch mal, daß einer von uns, wenn er leer geworden, in offenbarer Hoffnung erfüllt zu werden steht, dann aber wieder im Gegenteil hoffnungslos ist?

Protarchos: Sehr wohl!

Sokrates: Scheint es dir nun nicht, weil er erfüllt zu werden hofft, in dem Sicherinnern Freude zu haben, in derselben Zeit aber, weil er zugleich leer ist. Schmerz zu empfinden?

Protarchos: Notwendig!

Sokrates: In diesem Fall also hat der Mensch und jedes andere lebende Wesen Unlust und Lust zugleich.

Protarchos: Fast scheint es so.

Sokrates: Wie aber, wenn einer, der leer geworden, keine Hoffnung hat, Anfüllung zu erlangen? Sollte nicht dann erst jener Zustand doppelter Unlust entstehen, den du vorhin im Auge gehabt und als schlechthin in dieser Verdoppelung eintretend angesehen hast?

Protarchos: Sehr wahr, Sokrates!

Sokrates: Laß uns nun diese Untersuchung jener Zustände in folgender Weise verwenden!

Protarchos: In welcher?

Sokrates: Wollen wir sagen, diese Gefühle der Unlust und der Lust seien wahre oder unwahre? Oder nur einige derselben seien wahr, die anderen nicht?

Protarchos: Aber, Sokrates, wie könnten Gefühle der Lust oder Unlust unwahr sein?

Sokrates: Aber, Protarchos, wie könnten Besorgnisse wahr oder unwahr oder Erwartungen wahr oder nicht, oder Vorstellungen wahr oder unwahr sein?

Protarchos: Von den Vorstellungen könnte ich's etwa noch zugeben, von den übrigen aber nicht.

Sokrates: Was sagst du? Da droht uns ja eine gar nicht unbedeutende Untersuchung zu erwachsen.

Protarchos: Du kannst recht haben.

Sokrates: Aber untersuchen müssen wir dieses doch du Sohn eines solchen Mannes, wenn es zum Vorhergehenden gehört.

Protarchos: Dies vielleicht schon.

Sokrates: Alle übrigen Weiterungen müssen wir sofort beiseite lassen, und auch alles, dessen Besprechung nicht hergehört.

[44] Protarchos: Recht.

Sokrates: Sage mir also... – denn ich kann mich gar nicht genug wundern eben über die Bedenklichkeiten, welche wir da erhoben haben.

Protarchos: Wie meinst du das?

Sokrates: Unwahre Lustgefühle und andererseits wahre gäbe es also nicht?

Protarchos: Wie doch auch?

Sokrates: Also weder im Traum noch im Wachen, weder in Zuständen des Wahnsinns noch sonstiger Verrücktheit kommt es, wie du meinst, vor, daß jemand vergnügt zu sein meint, der gar nicht vergnügt ist, oder daß er traurig zu sein meint, es aber nicht ist?

Protarchos: Daß das alles so vorkommt, Sokrates, nehmen wir insgesamt an.

Sokrates: Aber auch mit Recht? Oder muß man erst untersuchen, ob man es mit Recht behaupte oder nicht?

Protarchos: Untersuchen muß man es, wie ich wenigstens behaupten möchte.

Sokrates: So wollen wir denn das genauer bestimmen, was eben von der Lust und von der Vorstellung gesagt worden! Denn es gilt doch für uns ein »sich etwas vorstellen«?

Protarchos: Ja.

Sokrates: Und ein »Lust haben«?

Protarchos: Ja.

Sokrates: Aber auch das Vorgestellte ist etwas?

Protarchos: Gewiß.

Sokrates: Und so auch das, woran das Lusthabende Lust hat?

Protarchos: Allerdings.

Sokrates: Dem, was sich etwas vorstellt, ist nun doch, mag die Vorstellung richtig sein oder nicht richtig, wenigstens das wirklich Sichvorstellen niemals abzusprechen.

Protarchos: Wie sollte es auch?

Sokrates: Folglich auch dem, was Lust hat, wird offenbar, mag seine Lust nun richtig sein oder nicht richtig, wenigstens das wirklich Lusthaben niemals abzusprechen sein.

Protarchos: Ja, auch damit verhält es sich so.

Sokrates: Woher kommt es doch nun, daß es der Vorstellung[45] beliebt, uns teils als unwahr, teils als wahr zu entstehen, der Lust aber nur als wahr, das wirklich Sichvorstellen und Sichfreuen aber beiden gleichmäßig zukommt?

Protarchos: Das muß man untersuchen.

Sokrates: Ob es etwa daher kommt, daß zur Vorstellung Unwahrheit und Wahres hinzutrete, und sie deshalb nicht bloß als Vorstellung zu entstehen pflege, sondern als mit einer von beiden Qualitäten irgendwie behaftet, das, meinst du, wäre zu untersuchen?

Protarchos: Ja.

Sokrates: Zudem aber haben wir uns auch darüber zu verständigen, ob, während doch anderes für uns überhaupt ein irgendwie Bestimmtes ist, nur Lust und Unlust sind, was sie sind, ohne eine bestimmte Qualität anzunehmen.

Protarchos: Das ist klar.

Sokrates: Aber es ist doch gar nicht schwer zu sehen, daß sie ebenfalls irgendwie bestimmte sind. Denn schon früher haben wir gesagt, daß beide, die Gefühle sowohl der Unlust als der Lust, bald groß, bald kein, bald heftig werden.

Protarchos: Allerdings.

Sokrates: Wenn aber nun zum einen oder andern, Protarchos, gar noch Schlechtigkeit hinzutritt, so werden wir doch wohl zugeben, daß auf diese Weise, wie die Vorstellung eine schlechte werde, so auch eine schlechte die Lust?

Protarchos: Wie könnten wir anders, Sokrates?

Sokrates: Wie aber, wenn Richtigkeit oder das Gegenteil von Richtigkeit zum einen oder andern hinzutritt? Werden wir nicht von der Vorstellung sagen, sie sei eine richtige, wenn sie Richtigkeit hat, und ebenso von der Lust?

Protarchos: Notwendig.

Sokrates: Wenn aber nun das Vorgestellte verfehlt ist, muß man doch wohl zugestehen, daß dann die fehlerhafte Vorstellung keine richtige noch eine richtig verfahrende sei?

Protarchos: Wie wäre sie es auch?

Sokrates: Wie aber, wenn wir dagegen irgend eine Unlust oder Lust in dem, worüber man Unlust oder das Gegenteil empfindet, fehl gehen sehen, werden wir denselben wohl das Beiwort richtig oder heilsam oder irgendwelchen anderen schönen Namen beilegen?

[46] Protarchos: Unmöglich, – wenn ja die Lust soll fehl gehen können.

Sokrates: Aber in der Tat scheint uns die Lust öfters nicht mit richtiger Vorstellung, sondern mit Unwahrheit verbunden zu entstehen.

Protarchos: Warum denn nicht; Und in einem solchen Fall, Sokrates, pflegen wir ja dann zwar die Vorstellung eine unwahre zu nennen; die Lust selbst aber dürfte doch wohl nie jemand als eine unwahre bezeichnen.

Sokrates: Aber, Protarchos, du nimmst dich ja auf einmal der Sache der Lust mit Eifer an!

Protarchos: Das nicht, sondern ich sage nur, was ich höre.

Sokrates: Machen wir denn aber, mein Freund, keinen Unterschied zwischen der Lust, welche mit richtiger Vorstellung und mit Erkenntnis verknüpft ist, und derjenigen, welche im Zusammenhang mit Unwahrheit und Unwissenheit öfters in jedem von uns entsteht?

Protarchos: Gewiß doch findet kein geringer Unterschied statt.

Sokrates: So laß uns nun zur Betrachtung des Unterschieds beider kommen!

Protarchos: Führe nur, auf weichem Weg es dir gut dünkt!

Sokrates: Soll ich den folgenden einschlagen?

Protarchos: Welchen?

Sokrates: Es gibt, sagen wir doch, für uns eine unwahre Vorstellung, es gibt aber auch eine wahre?

Protarchos: Das gibt es.

Sokrates: Und diesen – der wahren und unwahren Vorstellung, meine ich – folgt, wie wir vorhin gesagt haben, öfters Lust und Unlust.

Protarchos: Allerdings.

Sokrates: Und ist es nun nicht teils die Erinnerung, teils die sinnliche Wahrnehmung, aus welchen sich uns in allen Fällen die Vorstellung und gleichsam der Raum zur Ordnung der Vorstellungen ergibt?

Protarchos: Gewiß.

Sokrates: Müssen wir nun nicht annehmen, daß es hierbei folgendermaßen zugehe?

Protarchos: Und wie?

[47] Sokrates: Du wirst wohl zugeben, daß es einem, der die aus der Ferne gesehenen Gegenstände nicht deutlich genug sieht, manchmal begegnet, daß er das, was er sieht, bestimmt zu erkennen wünscht?

Protarchos: Wohl mag ich das zugeben.

Sokrates: Würde er sofort nicht etwa sich selbst folgende Frage vorlegen?

Protarchos: Nämlich?

Sokrates: »Was ist doch das, was mir dort an dem Felsen unter einem Baum stehend ins Auge fällt?« Meinst du nicht, daß einer so zu sich selber sprechen dürfte, wenn er einmal einen ihm ins Auge fallenden Gegenstand dieser Art erblickte?

Protarchos: Warum nicht?

Sokrates: Hierauf würde er gleichsam sich selbst antwortend auf gut Glück etwa die Bemerkung machen: »Es ist ein Mensch«?

Protarchos: Gar wohl.

Sokrates: Und wenn er sich nun andererseits geirrt hätte, so würde er vielleicht fortfahren: »Was ich sah, ist ein Bild, ein Werk irgendwelcher Hirten.«

Protarchos: Sehr wohl.

Sokrates: Vielleicht ist auch noch jemand bei ihm, und indem er nun das bei sich selbst Gesprochene gegen seinen Begleiter laut werden läßt, wird er wohl wieder dasselbe aussprechen, und was wir vorhin eine Vorstellung genannt haben, ist nun eine Rede geworden?

Protarchos: Warum nicht?

Sokrates: Ist er aber allein, wenn er dieses eben bei sich bedenkt, so trägt er es manchmal auch längere Zeit in sich und geht seinen Weg weiter.

Protarchos: Allerdings.

Sokrates: Wie nun? Siehst du wohl das, was hierbei geschieht, ebenso an wie ich?

Protarchos: Wie nämlich?

Sokrates: Mir dünkt hierbei unsere Seele einem Buche ähnlich zu sein.

Protarchos: Wieso?

Sokrates: Die mit den sinnlichen Wahrnehmungen zusammentreffende Erinnerung und die daran sich anschließenden[48] Eindrücke scheinen mir da gleichsam Reden in unseren Seelen einzuschreiben. Schreibt nun dieser Eindruck etwas Wahres hinein, so ist die Folge, daß aus demselben eine wahre Vorstellung und wahre Reden in uns entstehen. Schreibt aber dieser Schreiber in uns etwas Unwahres, so geht das Gegenteil von dem Wahren daraus hervor.

Protarchos: Ganz so dünkt es auch mir, und gerne nehme ich das Gesagte so an.

Sokrates: So nimm auch an, daß zu gleicher Zeit noch ein anderer Arbeiter in unseren Seelen zum Vorschein komme.

Protarchos: Und welcher?

Sokrates: Ein Maler, der nächst dem Schreibekünstler Bilder von dem dort Gesprochenen in die Seele einzeichnet.

Protarchos: Wie doch und wann lassen wir hinwiederum diesen auftreten?

Sokrates: Dann, wenn jemand das damals in Vorstellung und Rede Aufgefaßte vom Gesicht oder irgendwelchem anderen Sinn abgelöst hat und nun die Bilder des Vorgestellten und Gesprochenen in sich selbst sieht. Oder kommt dieses nicht so vor bei uns?

Protarchos: Ganz gewiß.

Sokrates: Sind nun nicht die Bilder der wahren Vorstellungen und Reden wahr, die der unwahren unwahr?

Protarchos: Allerdings.

Sokrates: Ist denn das, was wir ausgeführt haben, richtig, so laß uns dazu auch noch folgendes in Erwägung ziehen...

Protarchos: Was nämlich?

Sokrates: Ob wir diese Erfahrung zwar schlechterdings mit dem Gegenwärtigen und dem Vergangenen machen, mit dem Zukünftigen aber nicht?

Protarchos: Mit allen Zeiten gleichermaßen.

Sokrates: Wurde nun nicht von den durch die Seele allein vermittelten Lust- und Unlustgefühlen im Vorhergehenden gesagt, daß sie vor den durch den Körper vermittelten Lust- und Unlustgefühlen entstehen, woraus sich dann ergibt, daß das Sichvorausfreuen und das Sichvorausbetrüben in bezug auf die zukünftige Zeit bei uns entsteht?

Protarchos: Ganz richtig!

Sokrates: Sind also die Schriftzüge und die Malereien, welche,[49] wie kurz vorhin angenommen worden, in uns entstehen, nur in bezug auf die vergangene und die gegenwärtige Zeit vorhanden, nicht aber auch in bezug auf die zukünftige?

Protarchos: Doch, gar sehr.

Sokrates: »Gar sehr« sagst du wohl, weil dieselben sämtlich Hoffnungen, auf die spätere Zeit sich beziehend, sind, wir aber hinwiederum das ganze Leben hindurch immer voll sind von Hoffnungen?

Protarchos: Allerdings.

Sokrates: Wohlan denn, zu dem jetzt Gesagten beantworte auch noch folgendes...

Protarchos: Was nämlich?

Sokrates: Ist ein gerechter, frommer und tugendhafter Mann nicht auch ein gottgefälliger?

Protarchos: Wie anders?

Sokrates: Wie aber, ein ungerechter und in allen Stücken schlechter nicht das Gegenteil davon?

Protarchos: Wie sollte er nicht?

Sokrates: Und vieler Hoffnungen, wie wir eben gesagt haben, ist jeder Mensch voll?

Protarchos: Warum auch nicht?

Sokrates: Und Gedanken sind doch in jedem von uns vorhanden, die wir Hoffnungen nennen?

Protarchos: Ja.

Sokrates: Und gewiß auch jene gemalten Gesichte. So sieht oft mancher, daß er ungeheuer viel Gold hat und daneben viele Genüsse; ja sogar sich selbst erblickt er in sich abgemalt als einen, der sich über die Maßen freut.

Protarchos: Warum denn nicht?

Sokrates: Wollen wir nun etwa sagen, daß unter diesen bei den Tugendhaften das Eingeschriebene zumeist als Wahres niedergelegt werde, wegen ihrer Gottgefälligkeit, bei den Schlechten aber ebenso zumeist als das Gegenteil? Oder wollen wir es nicht sagen?

Protarchos: Gewiß muß man das sagen.

Sokrates: Es sind also auch in den Schlechten nicht minder gemalte Lüste vorhanden, nur sind dieselben unwahr.

Protarchos: Wie anders?

Sokrates: Also erfreuen sich unter den Menschen die Lasterhaften[50] meist an unwahren Lustgefühlen, die Tugendhaften dagegen an wahren.

Protarchos: Ganz notwendig, was du sagst!

Sokrates: Diesen Sätzen zufolge gibt es also in den Seelen der Menschen unwahre Lustgefühle, und zwar die, die die wahren bis zum Lächerlichen nachbilden, und ebensolche Gefühle der Unlust.

Protarchos: Deren gibt es.

Sokrates: Und nicht wahr, jeder, der sich was auch irgend vorstellt, ist doch in dem Falle, daß er zwar immer sich wirklich eine Vorstellung bildet, nur manchmal über etwas, was weder ist, noch war, noch sein wird.

Protarchos: Allerdings.

Sokrates: Und zwar war es eben dieses, meine ich, was dann eine unwahre Vorstellung und das Bilden unwahrer Vorstellungen bewirkt. Oder nicht?

Protarchos: Doch!

Sokrates: Und wie nun? Muß man nicht das hier stattfindende Verhalten den Empfindungen der Unlust und Lust als Seitenstück gegenüberstellen?

Protarchos: Wie doch?

Sokrates: So daß jeder, der sich über was auch irgend und irgendwie, sogar ganz grundlos, freut, zwar in dem Fall ist, immer sich wirklich zu freuen, nur freilich manchmal über etwas, das weder ist noch war, öfters aber, und vielleicht meistens, über etwas, was nie jemals sein wird?

Protarchos: Auch damit, Sokrates, verhält es sich schlechterdings so.

Sokrates: Sollte nun nicht von den Affekten der Furcht, des Zorns, und was alles hierher gehört, derselbe Satz gelten, daß sie nämlich manchmal auch sämtlich ganz unwahr sind?

Protarchos: Ganz gewiß.

Sokrates: Wie aber; Sind wir berechtigt zu sagen, verkehrte Vorstellungen entstehen anders als unwahre?

Protarchos: Nicht wohl!

Sokrates: Und auch von Lustgefühlen, denke ich, bemerken wir, daß sie in keiner anderen Beziehung verkehrt sind als dadurch, daß sie unwahr sind.

Protarchos: Ganz das Gegenteil von dem, Sokrates, was du[51] sagst! Denn gar wohl ließe sich annehmen, Unlust- und Lustgefühle seien durchaus nicht vermöge ihrer Unwahrheit verkehrt, sondern wenn sie mit anderweitiger großer und vielfältiger Verkehrtheit zusammenfallen.

Sokrates: Nun, von den verkehrten und durch Verkehrtheit so beschaffenen Lustarten wollen wir bald hernach reden, wenn es uns gut dünkt. – Von den unwahren aber laß uns weiter sprechen, wie sie auch noch in anderer Weise viel und vielfältig in uns vorhanden sind und entstehen. Denn dieses werden wir vielleicht zur Entscheidung der Hauptfrage brauchen.

Protarchos: Wie sollten wir nicht, – wenn es wirklich deren gibt!

Sokrates: Gewiß, Protarchos, gibt es deren, wenigstens meiner Meinung nach, und es kann dieser Lehrsatz, bis er für uns feststeht, schlechterdings nicht ununtersucht bleiben.

Protarchos: Schön!

Sokrates: So wollen wir denn Athleten gleich es auch mit diesem Satze aufnehmen!.

Protarchos: Nur zu!

Sokrates: Erinnern wir uns recht, so haben wir noch nicht lange vorhin gesagt, daß, wenn die dort angeführten Begierden in uns seien, dann der Körper getrennt und gesondert von der Seele in seinen Empfindungen anders als diese bestimmt sei.

Protarchos: Wir erinnern uns; es ist das vorhin gesagt worden.

Sokrates: Und nicht wahr, das, was nach Zuständen begehrt, die denen des Körpers entgegengesetzt sind, das war die Seele? Was aber den Schmerz oder irgend eine Lust durch Empfindung darbietet, war der Körper?

Protarchos: So war es.

Sokrates: Ziehe nun deinen Schluß auf das, was herbei geschieht!

Protarchos: Sprich nur!

Sokrates: Demnach geschieht es, daß dann, wenn jenes stattfindet, Unlust und Lust neben einander vorhanden sind, und daß die Wahrnehmungen beider einander entgegengesetzten Gefühle zugleich neben einander entstehen, wie sich jetzt klar gezeigt hat.

Protarchos: Allerdings ganz klar!

Sokrates: Ist nun nicht auch noch folgendes gesagt und vorhin durch gemeinsame Verständigung festgestellt worden?

[52] Protarchos: Was nämlich?

Sokrates: Daß beide, Unlust und Lust, das Mehr und Weniger aufnehmen, und daß sie wohl unter das Unbegrenzte gehören dürften.

Protarchos: So ist gesagt worden, und warum auch nicht?

Sokrates: Welche Mittel und Wege gibt es nun, hierüber richtig abzuurteilen?

Protarchos: Welche doch und wie?

Sokrates: Etwa – wenn wir zum Zweck eines Urteils darüber in irgend derartigen Fällen jedesmal zu unterscheiden suchen, welches jener Gefühle, eines gegen das andere gehalten, Unlust gegen Lust, Unlust gegen Unlust, Lust gegen Lust, das größere und welches das kleinere, welches mehr vorhanden und welches stärker sei.

Protarchos: Dem ist allerdings so, und unsere Beurteilung erreicht damit ihren Zweck.

Sokrates: Wie also? Bei dem Gesichte verwischt das Sehen aus der Ferne und aus der Nähe hinsichtlich der Größenmaße die Wahrheit und macht, daß man sich unwahre Vorstellungen bildet; sollte bei den Gefühlen der Unlust und Lust nicht dasselbe geschehen?

Protarchos: Noch weit mehr, Sokrates!

Sokrates: Der jetzige Satz ist nun dem kurz vorhergehenden gerade entgegengesetzt.

Protarchos: Was meinst du damit?

Sokrates: Damals waren es die Vorstellungen, welche, wie sie als unwahr und wahr erscheinen, zugleich die Gefühle der Unlust und Lust mit der ihnen eigenen Beschaffenheit ansteckten.

Protarchos: Ganz richtig!

Sokrates: Jetzt aber, indem sie, bald aus der Ferne, bald von Nahem gesehen, immer sich verändern, erscheinen sie zugleich nebeneinander gestellt, und zwar die Lustgefühle neben den Unlustgefühlen größer und stärker, die Unlustgefühle dagegen neben denen der Lust in umgekehrtem Verhältnis.

Protarchos: Dies ist notwendig so aus dieser Ursache.

Sokrates: Und nicht wahr, wenn du nun das, um was beide größer und kleiner erscheinen, als sie sind, von beiden abschneidest, nämlich eben das so Scheinende, aber nicht so Seiende[53] wirst du doch wohl weder sagen, daß jenes ein richtig Erscheinendes sei, ebensowenig aber auch zu behaupten wagen, daß der mit demselben verbundene Teil der Lust und Unlust richtig und wahr sei?

Protarchos: Gewiß nicht.

Sokrates: Hieran anschließend wollen wir sofort sehen, ob wir nicht auf folgendem Wege Lust- und Unlustgefühlen bei den lebendigen Wesen begegnen, welche noch in höherem Grade unwahr erscheinen und sind.

Protarchos: Welche meinst du und wie?

Sokrates: Es ist doch wiederholt gesagt worden, daß überall, wo die Natur eines Lebenden durch Mischungen und Sonderungen, durch Anfüllungen und Ausleerungen, durch gewisse Zufuhren und Verringerungen Störungen erleidet, insgemein Gefühle der Unlust, Schmerzen, Wehen, und was alles Namen dieser Art hat, eintreten?

Protarchos: Ja, das wurde wiederholt gesagt.

Sokrates: Wird dasselbe dagegen in seinen natürlichen Stand hergestellt, so haben wir diese Vorstellung unter uns selbst als Lust angenommen.

Protarchos: Richtig.

Sokrates: Wie aber, wenn nun nichts dieser Art an unserem Körper geschieht?

Protarchos: Wann aber wäre dieses jemals der Fall, Sokrates?

Sokrates: Diese Frage, Protarchos, die du da stellst, gehört nicht zur Sache. Protarchos: Wieso?

Sokrates: Weil sie mich nicht hindert, dir meine Frage noch einmal zu stellen.

Protarchos: Nämlich welche?

Sokrates: Wenn also, Protarchos, werde ich sagen, nichts jener Art geschähe, was müßte sich daraus für uns notwendig ergeben?

Protarchos: Wenn der Körper nach keiner von beiden Seiten hin bewegt wird, meinst du?

Sokrates: Ja.

Protarchos: Offenbar freilich das, Sokrates, daß in diesem Fall weder irgendwie eine Lust entstünde noch eine Unlust.[54]

Sokrates: Sehr schön gesagt! Indessen, glaube ich, willst du eigentlich sagen, daß eines von beiden immer bei uns eintreten müsse, wie die Weisen behaupten; denn immer fließt ja alles auf und ab.

Protarchos: Das sagen sie allerdings, und sie scheinen es auch gar nicht mit Unrecht zu sagen.

Sokrates: Wie doch auch, da sie selbst gar keine unrechten Leute sind? – Indessen will ich diesem damit hereingeworfenen Satz aus dem Wege gehen. Ich gedenke demselben auf folgendem Wege zu entfliehen, und du fliehe nur mit!

Protarchos: Sprich nur, auf welchem?

Sokrates: Das also möge sich so verhalten, wollen wir zu diesen sagen. Du aber antworte mir: Ist denn alles, was irgendwelches beseelte Wesen erleidet, für das Erleidende auch jederzeit Gegenstand der Empfindung und Wahrnehmung! Bleibt es uns selbst etwa auch nicht unbemerkt, daß wir wachsen, und auch nicht, wenn wir sonst etwas dieser Art erleiden? Oder findet nicht das Gegenteil davon statt?

Protarchos: Allerdings, ganz das Gegenteil.

Sokrates: Demnach war, was wir vorhin gesagt haben, nicht richtig ausgedrückt, daß nämlich jene Veränderungen, indem sie bald abwärts, bald aufwärts eintreten, bald Unlust-, bald Lustgefühle erzeugen.

Protarchos: Warum nicht?

Sokrates: Auf folgende Weise ausgedrückt, wird es wohl richtiger und minder anzufechten sein.

Protarchos: Nämlich wie?

Sokrates: Daß uns zwar die großen Veränderungen teils Unlust-, teils Lustgefühle bereiten, dagegen die mäßigen und die geringen im allgemeinen weder das eine noch das andere.

Protarchos: So ist es richtiger als auf jene Weise, Sokrates.

Sokrates: Sollte nun nicht, wenn dem so ist, das eben vorhin bezeichnete Leben wiederum zum Vorschein kommen?

Protarchos: Welches doch?

Sokrates: Das, von dem wir gesagt haben, es sei sowohl leidlos als ohne Freuden.

Protarchos: Du hast ganz recht.

Sokrates: Demgemäß wollen wir drei Lebensformen festsetzen: die eine die der Lust, die andere dagegen die der Unlust,[55] und eine, die keines von beiden ist. Oder was würdest du dazu sagen?

Protarchos: Ich doch nichts anderes als dieses, daß es also drei Lebensformen gebe.

Sokrates: Und nicht wahr, das Keine-Unlust-haben wäre noch gar nicht dasselbe mit dem Sichfreuen?

Protarchos: Nicht wohl!

Sokrates: Wenn du also von jemand hörest, die allergrößte Lust sei, das ganze Leben ohne Leid hinzubringen, was glaubst du wohl, daß er damit sagen will?

Protarchos: Offenbar will er sagen, eine Lust sei es, kein Leid zu haben.

Sokrates: Von drei uns gegebenen Dingen nun, welche du immer willst, setze, um uns schönerer Namen zu bedienen, das eine sei Gold, das andere Silber, das dritte keines von beiden.

Protarchos: Gesetzt also!

Sokrates: Kann nun das Keines-von-beiden irgendwie zu einem von beiden werden, nämlich zu Gold oder Silber?

Protarchos: Und wie doch?

Sokrates: Nimmermehr also würde man auch die mittlere Lebensform, wenn man sie als Lust oder Unlust bezeichnete, weder richtig ansehen, wenn man sie so ansehen, noch sie richtig bezeichnen, wenn man sie so bezeichnen wollte, wenigstens nach richtiger Bezeichnungsweise.

Protarchos: Wie doch auch?

Sokrates: Dennoch, mein Freund, gewahren wir Leute, die sie so bezeichnen und ansehen.

Protarchos: Ganz gewiß.

Sokrates: Ob sie also wirklich sich dann zu freuen meinen, wenn sie kein Leid haben?

Protarchos: Sie behaupten es wenigstens.

Sokrates: Sie meinen also dann, sich zu freuen; sonst würden sie es ja doch nicht versichern.

Protarchos: Es scheint fast so.

Sokrates: Sie haben also gewiß eine falsche Ansicht von dem Sichfreuen, wenn anders beides, das Kein- Leid-Haben und das Sichfreuen, ihrer Natur nach von einander zu scheiden sind.

Protarchos: Und in der Tat sind sie zu scheiden.

[56] Sokrates: Was also wollen wir für uns wählen, daß es, wie vorhin, dreierlei gebe, oder nur zweierlei, so zwar, daß wir die Unlust ein Übel für die Menschen, die Freiheit von den Gefühlen der Unlust aber, als ein Gut an und für sich seiend, einen Lustzustand nennen?

Protarchos: Wie kommt es doch nun, Sokrates, daß wir diese Frage jetzt selbst uns vorlegen? Ich begreife es nicht.

Sokrates: Du begreifst eben nicht, Protarchos, wer in der Tat die Gegner dieses unseres Philebos da sind.

Protarchos: Welche, meinst du denn, sind es?

Sokrates: Leute, von denen es auch heißt, sie seien gar stark in Sachen der Natur, und die nun behaupten, Gefühle der Lust gebe es überhaupt gar nicht.

Protarchos: Warum gar?

Sokrates: Entweichen der Empfindungen der Unlust sei alles das, was die Leute des Philebos Lustgefühle nennen.

Protarchos: Und diesen rätst du uns nun Glauben zu schenken, Sokrates, oder wie?

Sokrates: Nicht doch, sondern dieselben gleichsam als eine Art von Wahrsagern zu gebrauchen, die nicht mittelst einer Kunst wahrsagen, sondern vermöge eines gewissen freudlosen Zuges in ihrer nicht unedlen Natur, indem sie gegen die Kraft der Lust einen großen Haß hegen und sie für nichts Gesundes halten, so zwar, daß eben gerade das Verführerische an derselben nur Blendwerk sei, nicht aber Lust. Dazu also könntest du diese etwa gebrauchen, wenn du erst auch noch ihre übrigen unfreundlichen Gesichter erwogen hast. Nach diesem aber sollst du erfahren, welche Arten von Lust mir allerdings wahre zu sein scheinen, um dann, nachdem wir die Kraft derselben von beiden Gesichtspunkten aus erwogen haben, es damit zu einer Entscheidung zu bringen.

Protarchos: Brav gesprochen!

Sokrates: Gehen wir ihnen also als unseren Bundesgenossen auf der Fährte ihres freudlosen Wesens nach! – Ich denke mir, dieselben sprechen, irgendwie von oben herab ausholend, sich etwa folgendermaßen aus: »Wenn wir die Natur irgend eines Begriffs erkennen wollten, z.B. die des Harten, würden wir sie wohl besser erkennen, wenn wir auf das Härteste, oder wenn wir auf das an Härte Mindeste unser Auge richten?« –[57] Du nun, Protarchos, mußt diesen Freudelosen ebenso Rede stehen wie mir.

Protarchos: Sehr wohl! Und so sage ich denn zu ihnen: auf das dem Grade nach Erste.

Sokrates: »Wollten wir nun die Gattung der Lust erkennen, welche Natur sie habe, so werden wir also unser Auge nicht auf die mindesten Lüste richten müssen, sondern auf diejenigen, welche man als die höchsten und stärksten bezeichnet.«

Protarchos: Darin würde dir jetzt wohl jedermann beitreten.

Sokrates: »Sind nun nicht die nächstliegenden, welche zudem die größten unter den Lüsten sind, wie wir immer sagen, die den Körper betreffenden?«

Protarchos: Warum sollten sie nicht?

Sokrates: »Sind und erscheinen dieselben nun größer bei den Leidenden und in Krankheiten, oder bei Gesundend?« – Nehmen wir uns aber wohl in acht, daß wir nicht durch vorschnelles Antworten einen Verstoß begehen!

Protarchos: Wieso?

Sokrates: Vielleicht nämlich möchten wir kurzweg sagen: »bei Gesunden«.

Protarchos: Natürlich!

Sokrates: »Wie aber? Stehen nicht unter den Lüsten diejenigen obenan, welche mit den größten Begier den zusammenhängen?«

Protarchos: Das ist richtig.

Sokrates: »Ist es aber nun nicht so, daß die Fieberkranken und die mit ähnlichen Leiden Behafteten stärker dürsten und frieren, und was sie sonst alles vermittelst des Körpers zu erleiden pflegen, stärker erleiden; Befinden sie sich nicht in stärkerer Bedürftigkeit, und haben sie nicht bei Befriedigung derselben auch größere Lustgefühle?« – Oder werden wir nicht sagen, daß dieses richtig sei?

Protarchos: So ausgedrückt, ist es jetzt allerdings sehr einleuchtend.

Sokrates: »Wie also? Sollten wir nicht Recht haben, indem wir sagen, wenn jemand die größten Lüste ins Auge fassen wolle, dürfe er sich mit seiner Betrachtung nicht an die Gesundheit wenden, sondern an die Krankheit?« -Indessen sieh zu, daß du mir nicht die Meinung beilegst, als wollte ich dich[58] fragen, ob die heftig Erkrankten mehr Genüsse haben als die Gesunden! Wohlverstanden, ich frage nur nach der Größe der Lust und auf welcher Seite insgemein in dem bezeichneten Falle das Heftige derselben sich findet. Denn, wie gesagt, die Natur, die sie an sich hat, sollen wir zu begreifen suchen und das, was sie nach der Erklärung derer ist, welche behaupten, daß es überhaupt gar keine gebe.

Protarchos: Nun, ich folge deiner Rede so ziemlich.

Sokrates: Davon wirst du, Protarchos, bald nicht minder den Beweis liefern. Denn du wirst antworten. – Gewahrst du nicht in einem ausschweifenden Leben größere – ich sage nicht, mehrere, sondern durch Heftigkeit und Stärke hervorragende – Lüste als im besonnenen? Sprich, aber mit Bedacht!

Protarchos: Gut, ich verstehe, was du sagen willst, und finde den Unterschied groß. Denn die Besonnenen hält ja schon immer jene sprichwörtliche Redensart in Schranken, welche das »Nichts zu sehr« empfiehlt, nach dem sie sich richten. Das Treiben der Unbesonnenen und Ausschweifenden dagegen hält die bis zum Wahnsinn heftige Lust dermaßen fest, daß sie sie zum Aufschreien bringt.

Sokrates: Schön! Und wenn es sich denn also verhält, so entstehen offenbar die größten Lustgefühle bei irgendwelcher Verkehrtheit des Leibes und der Seele, nicht aber bei sittlicher Beschaffenheit derselben; ebenso aber auch die größten Unlustgefühle.

Protarchos: Allerdings.

Sokrates: Von diesen also muß man einige auswählen und in Erwägung ziehen, welche Art sie doch haben, daß wir sie als größte bezeichnen.

Protarchos: Notwendig.

Sokrates: Erwäge also, was für eine Art doch die Lustempfindungen bei folgenden Krankheiten haben...

Protarchos: Bei welchen?

Sokrates: Die bei den schamlosen, gegen welche jene freudlosen Menschen, von denen wir gesprochen, einen ganz besonderen Haß haben.

Protarchos: Welche meinst du?

Sokrates: Zum Beispiel die Heilungen der Krätze durch das Reiben und alle derartigen Übel, bei denen ein anderweitiges[59] Heilverfahren nicht nötig ist. Die Empfindung nämlich, die dabei in uns erzeugt wird, bei den Göttern, wie nennen wir sie doch? Lust oder Unlust?

Protarchos: Ein gemischtes Übel, Sokrates, scheint da gewissermaßen zu entstehen.

Sokrates: Doch ja nicht des Philebos wegen habe ich dieses zur Sprache gebracht; sondern, Protarchos, ohne diese Lustempfindungen und diejenigen, die mit ihnen zusammenhängen, näher ins Auge zu fassen, würden wir wohl unsere jetzige Untersuchung kaum je zur Entscheidung führen können.

Protarchos: Laß uns also weitergehen zu den mit jenen verwandten!

Sokrates: Zu denen, meinst du, die solche Mischung mit ihnen gemein haben?

Protarchos: Allerdings.

Sokrates: Es gibt also Mischungen, und zwar in den Körpern allein solche, welche den Körper betreffen, dann solche in der Seele, die die Seele allein betreffen; hinwiederum, werden wir noch solche finden, in denen Unlustgefühle mit Lustgefühlen der Seele und des Körpers gemischt sind, und die in dieser Verbindung bald als Lustgefühle, bald als Unlustgefühle bezeichnet werden.

Protarchos: Wieso?

Sokrates: Sooft einer bei der Herstellung oder der Störung seiner Gesundheit zu gleicher Zeit die entgegengesetzten Empfindungen bekommt, also bei Kälte irgend einmal sich erwärmt, und wenn ihm warm ist, manchmal sich abkühlt, indem er sucht, meine ich, die eine zu haben, die andere aber abzuwenden, da bewirkt diese sozusagen bittersüße Mischung, wenn sie unabwendbar anhält, zunächst einen unbehaglichen Reiz und in der Folge eine heftige Aufregung.

Protarchos: Und ganz richtig ist, was du da sagst.

Sokrates: Ist nun nicht bei diesen so beschaffenen Mischungen Lust und Unlust zu gleichen Teilen vorhanden, bei den anderen dagegen eines von beiden überwiegend?

Protarchos: Warum nicht?

Sokrates: Was nun diejenigen Fälle betrifft, in welchen die Empfindungen der Unlust als die der Lust überwiegend erscheinen, so sage nur, es seien dieselben jene vorhin angeführten[60] der Krätze und der juckenden Flechten, wenn es inwendig kocht und glüht und man es mit dem Kratzen und Reiben nicht bis hinein treiben kann, sondern nur die äußeren Hautteile zerreißt. Dann nämlich bereitet man sich, indem man diese zur Entzündung bringt und in das Gegenteil von Unleidlichkeit versetzt, zuweilen verzweifelte Lustgefühle, zuweilen aber im Gegenteil zu den äußeren Unlustempfindungen hinzu in den inwendigen Teilen noch solche, die mit Lustempfindungen zusammengemengt sind, möge das Übergewicht auf diese oder jene fallen, indem man durch gewaltsames Zerteilen des Verbundenen oder durch Zusammenschmelzen des Getrennten Schmerzen zu Lustempfindungen hinzufügt.

Protarchos: Vollkommen richtig!

Sokrates: Andererseits nun, sooft in den bezeichneten Fällen die Beimischung der Lust größer ist, erzeugt zwar der untermischte Unlustteil ein Jucken und einen gelinden schmerzhaften Reiz; der in viel größerem Maße eingeströmte Lustteil dagegen regt auf und macht zuweilen, daß man aufspringt, bewirkt auch allerlei Wechsel der Gesichtsfarbe, der Gebärden, des Atmens, so daß der Mensch zuletzt in völlige Verzückung und unvernünftiges Schreien ausbricht.

Protarchos: Ganz richtig!

Sokrates: Und, mein Freund, es macht sogar, daß er sowohl selbst von sich sagt als andere von ihm, er sei fast des Todes von der Wonne dieser Lustempfindungen; ja erjagt denselben auf jede Weise und immer nach, und zwar um so mehr, je zügelloser und unvernünftiger er ist. Und nicht nur nennt er dieselben die größten, sondern er schätzt auch denjenigen als den glückseligsten Menschen, der womöglich immer in denselben leben könnte.

Protarchos: Das alles, Sokrates, schilderst du ganz, wie es bei der großen Menge vorkommt und wie sie es ansieht.

Sokrates: Allerdings, Protarchos, soweit es sich um die Lüste des Körpers handelt, für sich betrachtet, deren Mischung auf der Wechselwirkung der Empfindungen der Haut und der inneren Teile beruht. Was aber diejenigen Gefühle betrifft, bei denen die Seele das dem Körper Entgegengesetzte miteinwirft, nämlich Unlust zu Lust und Lust zu Unlust, so daß beide [61] eine Mischung eingehen, so haben wir von denselben zwar früher auseinandergesetzt, wie, wenn einer entleert ist, er nach Anfüllung begehrt und in Hoffnung derselben sich freut, während er als Entleerter leidet. Das aber, was wir damals noch nicht bestimmt erklärt haben, jetzt aber aussprechen, ist, daß in allen diesen Fällen, und deren gibt es eine unzählige Menge, wenn die Seele in einem anderen Zustande sich befindet als der Körper, Unlust und Lust zusammenfällt und zu einer Mischung wird.

Protarchos: Fast scheint es, du habest vollkommen recht.

Sokrates: Somit ist uns von den Mischungen der Unlust und Lust nur noch eine übrig.

Protarchos: Welche meinst du?

Sokrates: Diejenige Verbindung, welche, wie wir sagten, die Seele vielfältig für sich allein vornimmt.

Protarchos: Was meinen wir nun eigentlich damit?

Sokrates: Zorn und Furcht, Sehnsucht und Wehmut, Liebe und Eifersucht, und so alle Affekte dieser Art, – erklärst du sie nicht für Unlustempfindungen der Seele für sich betrachtet?

Protarchos: Doch!

Sokrates: Und werden wir sie nun nicht strotzend finden von unsäglichen Lustgefühlen? Oder müssen wir uns erst erinnern an das


Der selbst den Verständigsten reizt zur Erbitt'rung

Und der erst viel süßer als sanft eingleitender Honig-


sowie an die Lustgefühle, welche in den Stimmungen der Wehmut und Sehnsucht mit Unlustgefühlen gemischt vorhanden sind?

Protarchos: Durchaus nicht, sondern so und nicht anders kommt dieses vor.

Sokrates: Und gewiß fallen dir hier auch die tragischen Schauspiele ein, bei denen die Leute sich freuen und weinen zugleich?

Protarchos: Warum nicht?

Sokrates: Was aber die Stimmung unserer Seele in den Komödien betrifft, weißt du wohl, daß auch hierbei eine Mischung von Unlust und Lust stattfindet?

Protarchos: Das verstehe ich nicht ganz.

Sokrates: Es ist freilich auch nicht so leicht, Protarchos, in[62] diesem Falle den bezeichneten Gemütszustand jedesmal zu erkennen.

Protarchos: In der Tat nicht, wie mir scheint.

Sokrates: Laß uns denselben um so genauer ins Auge fassen, je dunkler er ist, um desto leichter imstande zu sein, auch in anderen Fällen die Mischung von Unlust und Lust wahrzunehmen.

Protarchos: Du darfst nur reden.

Sokrates: Nun denn, vorhin wurde das Wort Neid ausgesprochen; du willst wohl mit demselben eine Unlust der Seele bezeichnen, oder wie?

Protarchos: Ja!

Sokrates: Offenbar aber wird der Neidische ein Mensch sein, der an den Übeln seiner Nebenmenschen seine Lust hat.

Protarchos: Gar sehr.

Sokrates: Ein Übel aber ist doch die Unwissenheit und das, was wir Albernheit nennen.

Protarchos: Was sonst?

Sokrates: Hieraus nun sieh, was für eine Natur das Lächerliche hat...

Protarchos: Sprich nur!

Sokrates: Allgemein genommen ist es eine Verkehrtheit, welche von einer bestimmten Beschaffenheit ihren Namen hat; näher ist es von aller Verkehrtheit diejenige Art, welche das Gegenteil von dem in der Inschrift zu Delphoi bezeichneten Zustand ausmacht.

Protarchos: Das Kenne dich selbst meinst du doch, Sokrates?

Sokrates: Ja. Und das Gegenteil hiervon ist offenbar doch das Sich-selbst-gar-nicht-Kennen.

Protarchos: Was sonst?

Sokrates: Versuche aber nun, Protarchos, dieses auf dreifache Art zu zerlegen!

Protarchos: Wie meinst du das? Denn ich kann es nicht.

Sokrates: Du willst wohl sagen, für jetzt soll nur ich es einteilen?

Protarchos: Allerdings, und ich sage es nicht nur, ich bitte sogar.

Sokrates: Nun denn, bei allen, welche sich selbst nicht kennen, kann sich dieser Zustand doch wohl unmöglich anders äußern als in drei Beziehungen?

[63] Protarchos: Wieso?

Sokrates: Fürs erste in bezug auf Geld, daß sie nämlich meinen reicher zu sein, als sie ihrem Vermögen nach sind.

Protarchos: Und deren gibt es viele, die an diesem Gebrechen leiden.

Sokrates: Noch mehr aber wohl gibt es, welche meinen, selbst größer und schöner und in bezug auf leibliche Vorzüge überhaupt besser ausgestattet zu sein, als in Wahrheit der Fall ist.

Protarchos: Allerdings.

Sokrates: Weitaus den meisten indessen, glaube ich, fehlt es hinsichtlich des dritten Punkts, nämlich an den Seelen, indem sie meinen, selber tugendhafter zu sein, und es doch nicht sind.

Protarchos: Ganz entschieden.

Sokrates: Und was nun unter den Tugenden die Weisheit betrifft, ist nicht doch gerade die diese überall beanspruchende Menge voll von Zänkereien und unwahrer Scheinweisheit?

Protarchos: Wie wäre es anders?

Sokrates: Und gewiß ist es nun nur die richtige Bezeichnung, wenn man diesen so beschaffenen Zustand im ganzen ein Übel nennt.

Protarchos: Gar sehr!

Sokrates: Sofort aber, Protarchos, haben wir denselben noch einmal, und zwar doppelt zu teilen, wenn wir den scherzhaften Neid ins Auge fassen und in demselben eine sonderbare Mischung von Lust und Unlust erblicken wollen.

Protarchos: Wie wollen wir also zerlegen? Doppelt, sagst du?

Sokrates: Ja. Wie von allen Menschen, so auch von allen, so viele derselben im Unverstand jene falsche Meinung von sich selbst hegen, gilt unbedingt, daß dem einen Teile derselben Stärke und Vermögen zukommen, dem anderen, denke ich, das Gegenteil.

Protarchos: Unbedingt.

Sokrates: Hiernach teile also, und zwar so viele der letzteren in diesem Zustand zugleich unmächtig sind und, wenn sie ausgelacht werden, unvermögend, sich selbst zu rächen, diese wirst du wohl mit Grund der Wahrheit lächerliche Menschen nennen. Dagegen wenn du diejenigen, welche sich zu rächen vermögend sind, furchtbare, häßliche und feindselige Leute nennst, so wirst du dir selbst die richtigste Auskunft über dieselben[64] geben. Denn die Selbstunkenntnis der Mächtigen ist ebenso feindselig als häßlich; auch ist sie und alles, was ihr irgend gleich sieht, ihrer Umgebung schädlich, während die unmächtige für uns dem Gebiet und der Natur des Lächerlichen verfällt.

Protarchos: Du hast ganz recht; nur ist mir die Mischung der Lust- und Unlustgefühle dabei noch nicht ersichtlich.

Sokrates: Nun, so fass' einmal zuerst das Wesen des Neides auf!

Protarchos: Sprich nur!

Sokrates: Er ist doch wohl eine Art ungerechter Unlust und Lust?

Protarchos: Das notwendig.

Sokrates: Nun ist doch über der Feinde Übel sich freuen weder ungerecht noch neidisch.

Protarchos: Wie sollte es auch?

Sokrates: Dagegen der Freunde Übel mitansehen und, wie es wohl vorkommt, sich nicht darüber betrüben, sondern freuen, ist das nicht ungerecht?

Protarchos: Wie sollte es nicht?

Sokrates: Haben wir nun nicht gesagt, daß die Selbstunkenntnis an jedermann ein Übel sei?

Protarchos: Richtig.

Sokrates: Daß also der Weisheitsdünkel und Schönheitsdünkel der Freunde und alles, was wir vorhin als in drei Formen auftretend aufgeführt haben, etwas Lächerliches sei, soweit es unmächtig, etwas Gehässiges aber, soweit es mit Gewalt verbunden ist? Oder wollen wir nicht mehr zugeben, was ich vorhin sagte, daß diese Beschaffenheit lächerlich sei, wenn sie an einem der Freunde unschädlich für andere vorhanden ist?

Protarchos: Allerdings.

Sokrates: Sind wir aber nicht darüber einverstanden, daß dieselbe, da sie ja Unkenntnis ist, ein Übel sei?

Protarchos: Ganz und gar.

Sokrates: Freuen wir uns aber oder sind wir betrübt, wenn wir darüber lachen?

Protarchos: Offenbar freuen wir uns.

Sokrates: Von der Lust aber an den Übeln der Freunde, – sagen wir da nicht, daß es der Neid sei, der sie bewirke?

Protarchos: Notwendig.

[65] Sokrates: Folglich, indem wir über das, was an den Freunden lächerlich ist, lachen, ergibt sich der Schluß, daß wir Lust mit Neid verschmelzend die Lust mit Unlust zusammenschmelzen. Denn darüber haben wir uns längst verständigt, daß der Neid eine Unlust der Seele sei, das Lachen aber eine Lust, und daß beides in diesen Fällen zugleich eintrete.

Protarchos: Sehr wahr!

Sokrates: Unsere Untersuchung zeigt uns denn jetzt, daß in Klageliedern und Trauerspielen, und nicht nur in denen auf der Bühne, sondern auch in der gesamten Tragödie und Komödie des Lebens und in tausend anderen Fällen, Unlustgefühle mit Lustgefühlen zugleich sich mischen.

Protarchos: Unmöglich läßt sich dieses bestreiten, Sokrates, auch wenn man noch so sehr für das Gegenteil sich ereifern wollte.

Sokrates: Wir haben also Zorn und Sehnsucht, Wehmut und Furcht, Liebe und Eifersucht und Neid uns vorgehalten und alles derartige, worin wir, wie gesagt, jenes Gemischte finden würden, von dem wir so oft gesprochen haben. Nicht wahr?

Protarchos: Ja.

Sokrates: Und daß das jetzt Durchgesprochene vollständig von der Wehmut, dem Neid, dem Zorn gelte, begreifen wir also?

Protarchos: Wie sollten wir's nicht begreifen?

Sokrates: Ist nun nicht noch manches übrig?

Protarchos: Gar wohl.

Sokrates: Und warum glaubst du denn, daß ich dir vorzugsweise die Mischung an dem Komischen nachgewiesen habe? Nicht etwa in der Voraussetzung, daß es nun ein Leichtes sei, auch in den Affekten der Furcht, der Liebe und anderer mehr die Verschmelzung aufzuzeigen? und daß du, es damit für dich selbst aufnehmend, mir erlassest, noch weiter darauf einzugehen und die Untersuchung dadurch in die Länge zu ziehen, indem du vielmehr einfach so viel annehmest, daß sowohl der Körper ohne die Seele als die Seele ohne den Körper und wiederum beide in Gemeinschaft mit einander in ihren Affekten voll sind von einer mit Unlustgefühlen zusammengemischten Lust? Jetzt sprich also, ob du mich losläßt oder es Mitternacht werden lassen willst? Doch glaube ich, wenn ich noch ein wenig gesprochen habe, von dir meine Entlassung auszuwirken.[66] Denn über alles dieses will ich dir morgen Rede stehen; jetzt aber gedenke ich, auf das noch übrige loszugehen, nämlich auf die Entscheidung, welche Philebos verlangt.

Protarchos: Schön gesagt, Sokrates! Erörtere also nur, was uns noch übrig, wie es dir genehm ist!

Sokrates: Naturgemäß sollten wir sofort vermöge einer gewissen Notwendigkeit von den gemischten Lustgefühlen zu dem Gebiete der ungemischten übergehen.

Protarchos: Sehr schön gesagt!

Sokrates: So will ich denn diese Schwenkung machen und versuchen, uns dieselben aufzuzeigen. Denn denen, welche behaupten, alle Lust sei nur Ruhe der Unlust, kann ich nicht wohl Glauben schenken, sondern, wie gesagt, ich brauche sie nur als Gewährsmänner dafür, daß es Gefühle gibt, welche Lustgefühle zwar zu sein scheinen, es durchaus aber nicht sind; sowie dafür, daß es andere gibt, die in der Einbildung ebenso groß als zugleich vielfältig erscheinen, während sie doch nur Momente eines unleidlichen Befindens des Leibes und der Seele sind, wie es auf der gleichzeitigen Vermengung von Unlustgefühlen und Gefühlen des Ausruhens von den größten Schmerzen beruht.

Protarchos: Nun aber weiter, Sokrates, welche wären richtig verstanden als wahre aufzufassen?

Sokrates: Diejenigen, deren Gegenstand die sogenannten schönen Farben und Formen sind, auch zumeist die von den Gerüchen und von den Tönen herrührenden, die überhaupt in das Gebiet derjenigen Objekte fallen, deren Vermissen keine Empfindung, keine Unlust bereitet, deren Besitz fühlbare Befriedigung und von Unlust gereinigte Lust gewährt.

Protarchos: Wie ist nun doch wiederum, Sokrates, dieses zu verstehen?

Sokrates: Allerdings ist das, was ich meine, nicht sogleich klar; man muß es in der Tat zu erklären versuchen. Als Schönheit von Formen nämlich suche ich jetzt nicht das zu bezeichnen, was die Menge dafür nehmen dürfte, als z.B. die von lebenden Wesen oder gewissen Gemälden; sondern ich verstehe darunter – das ist mein Satz – so ein Gerades und Kreisförmiges und von diesen aus die Flächen und die Körper, wie sie durch Drehinstrumente entstehen und durch Lineal und Winkelmaß,[67] wenn du mich verstehst. Denn von diesen sage ich, sie seien nicht in Beziehung auf etwas schön, wie andere Dinge, sondern sie seien immer an und für sich ihrer Natur nach schön und führen gewisse ganz eigentümliche Lustgefühle mit sich, die nichts mit denen des Kratzens gemein haben; und so sage ich auch von Farben, daß sie nach diesem Maßstab Schönheit und Lust mit sich führen. Aber verstehen wir es auch? Oder wie?

Protarchos: Ich gebe mir Mühe, Sokrates; nur gib auch du dir Mühe, noch deutlicher zu reden!

Sokrates: Von der Lust an den Tönen also sage ich, daß die sanften und hellen, welche einen reinen Klang geben, nicht in Beziehung auf ein anderes, sondern an und für sich schön seien, und daß sie eine ihnen naturmäßig eingewachsene Lust begleitet.

Protarchos: Dem ist auch so.

Sokrates: Die aber mit den Gerüchen verbundene Lustgattung ist zwar minder göttlich als jene. Das aber, daß denselben nicht notwendig Unlustgefühle beigemischt sind, und wo und woran uns dieses gerade sich zeigen mag, das ist es, was ich jenen anderen Arten als vollkommenes Gegenstück gegenübersetze. Bei diesen also, wenn du es verstehst, gibt es zwei Gattungen der besprochenen Lustgefühle.

Protarchos: Ich verstehe.

Sokrates: Sofort wollen wir hierzu noch beifügen die Gefühle der Lust, welche mit dem Wissen zusammenhängen, wenn wir anders annehmen dürfen, daß dieselben von ihrem ersten Entstehen an Züge des Hungers (nämlich nach dem Wissen) und daher infolge von Wissenshunger Schmerzen in sich tragen.

Protarchos: Nun, das kann ich gleichfalls annehmen.

Sokrates: Wie aber? Wenn kenntnisreiche Menschen nun durch Vergessen Verluste erleiden, bemerkst du dann wohl, daß diese irgend mit Schmerzen verbunden sind?

Protarchos: Zwar ihrer Natur nach nicht, wohl aber manchmal beim Bewußtwerden dieses Zustandes, wenn nämlich jemand, der solche Einbuße erlitten hat, über den Mangel Unlust empfindet.

Sokrates: Für jetzt aber, mein Glückseliger, besprechen wir ja nur die Zustände an und für sich, abgesehen von dem Bewußtwerden derselben.

[68] Protarchos: Dann hast du recht, daß bei unseren Kenntnissen das Vergessen jedesmal ohne Unlustgefühl vor sich geht.

Sokrates: Demnach muß man sagen, daß die mit dem Wissen zusammenhängende Lust mit Unlustgefühlen nicht gemischt und keineswegs Sache der großen Menge sei, sondern sehr weniger Menschen.

Protarchos: Warum sollte man das auch nicht sagen?

Sokrates: Und nun, nachdem wir die reinen Lustgefühle von denen, welche annähernd richtig als unreine bezeichnet sein dürften, gehörig unterschieden haben, wollen wir für unsere Untersuchung noch den heftigen Lusterregungen Maßlosigkeit beifügen, den anderen das Gegenteil, nämlich Gemessenheit. Auch wollen wir, was das Große und das Heftige betrifft, wiederholt beifügen, daß dieselben, wie sie bald häufig, bald selten mit diesem Charakter auftreten, der Familie jenes Unbegrenzten angehören, das weniger oder mehr durch Leib und Seele geht, die aber nicht so beschaffenen unter die gemäßigten.

Protarchos: Vollkommen richtig, Sokrates.

Sokrates: Außerdem haben wir hierauf sofort noch folgendes an denselben näher zu beschauen...

Protarchos: Nämlich?

Sokrates: Was doch, müssen wir sagen, ist's nun mit der Wahrheit hinsichtlich des Reinen und des Lauteren und des Genugsamen oder des Heftigen und des Vielen und des Großen?

Protarchos: Was willst du nun, Sokrates, mit dieser Frage?

Sokrates: Nur beim Prüfen, Protarchos, sowohl an der Lust als Erkenntnis nichts dahinten lassen, wenn etwa an der einen oder anderen sich etwas Reines findet oder etwas nicht Reines, damit dann beide rein zur Aburteilung kommen und mir und dir und uns allen hier das Urteil erleichtern.

Protarchos: Ganz recht!

Sokrates: Wohlan denn! Über alles, was wir reine Gattungen nennen, laß uns in folgender Weise nachdenken! Wir wählen einmal eine zuvörderst aus und ziehen sie in nähere Betrachtung.

Protarchos: Welche wollen wir also auswählen?

Sokrates: Beliebt es dir, so wollen wir als erstes die Gattung des Weißen beschauen.

Protarchos: Sehr wohl.

[69] Sokrates: Wie nun doch zeigt sich uns die Reinheit des Weißen, und was ist sie? Ist sie wohl das Größte und Meiste oder das Unvermengteste, in dem kein anderer Bestandteil irgend einer Farbe sich fände?

Protarchos: Offenbar doch das am meisten Lautere!

Sokrates: Richtig! Werden wir also, Protarchos, nicht auch dieses, keineswegs aber das Meiste und Größte, als das Wahrste und zugleich auch als das Schönste von allem Weißen bestimmen?

Protarchos: Vollkommen richtig!

Sokrates: Es wird also durchaus richtig sein, wenn wir sagen, daß ein wenig reines Weiß weißer erscheine und zugleich schöner und wahrer als vieles gemischtes Weiß.

Protarchos: Vollkommen richtig!

Sokrates: Wie also? Wir werden doch wohl nicht viele solche Beispiele zur Untersuchung über die Lust nötig haben, sondern es genügt uns nun, daraus abzunehmen, daß also auch jede kleine und wenige, von Unlust reine Lust lustvoller und wahrer und schöner erscheinen dürfte als eine nur große und viele.

Protarchos: Sicher, und das Beispiel ist ganz genügend.

Sokrates: Wie verhält es sich aber nun mit dem Folgenden? Haben wir nicht von der Lust schon gehört, daß sie immer ein Werden sei, daß es ein Sein der Lust überhaupt nicht gebe? Gewisse feingeleckte Denker suchen uns ja auch diesen Satz zu beweisen, und wir müssen es ihnen Dank wissen.

Protarchos: Wieso?

Sokrates: Dieses eben will ich nun fragend mit dir durchsprechen, mein lieber Protarchos.

Protarchos: Rede nur und frage!

Sokrates: Es ist doch wohl ein Unterschied zwischen dem, was an und für sich ist, und dem, was immer eines andern begehrt?

Protarchos: Wie und was meinst du damit?

Sokrates: Und zwar ist jenes seiner Natur nach das Edlere, dieses aber gegen jenes unvollkommen.

Protarchos: Sag' es nur noch deutlicher!

Sokrates: Wir haben doch wohl schon schöne und wackere Lieblinge gesehen, und zugleich auch mannhafte Liebhaber derselben.

[70] Protarchos: Gewiß!

Sokrates: Zu diesen Zweien suche nun ein ähnliches anderes Zwei in irgend dem, was wir als seiend bezeichnen!

Protarchos: Zum drittenmal muß ich sagen, sprich deutlicher, Sokrates, was du meinst!

Sokrates: Es ist durchaus nichts Verworrenes, Protarchos, aber der Ausdruck hält uns zum besten. Er will nämlich sagen, daß das eine immer wegen eines anderen Seienden ist, das andere aber eben dasjenige, dem zuliebe jedesmal das um eines anderen willen Werdende wird.

Protarchos: Mit Mühe verstehe ich es dadurch, daß es öfters gesagt worden.

Sokrates: Bald vielleicht, mein Sohn, werden wir es besser verstehen, im weiteren Verlaufe des Gesprächs.

Protarchos: Warum auch nicht?

Sokrates: Laß uns einmal folgende andere Zwei vornehmen!

Protarchos: Welche?

Sokrates: Eines das Werden von allem, das Sein aber als anderes Eins.

Protarchos: Diese Zwei nehme ich von dir an, also Sein und Werden.

Sokrates: Ganz recht! Von welchem dieser beiden wollen wir nun behaupten, daß es wegen des anderen sei, das Werden wegen des Seins oder das Sein wegen des Werdens?

Protarchos: Von dem, was Sein genannt wird, fragst du jetzt, ob es das, was es ist, wegen des Werdens sei?

Sokrates: Offenbar.

Protarchos: Bei den Göttern also, wenn du mich noch einmal fragst, so –

Sokrates: – So sage nur, Protarchos, ungefähr dieses zu mir: »Willst du wohl behaupten, daß die Schiffsbaukunst der Schiffe wegen bestehe oder die Schiffe der Schiffsbaukunst wegen, und was dieser Art alles hierher gehört?« – Dieses eben ist es, was ich meine.

Protarchos: Warum antwortest du dir nun nicht auch selber, Sokrates?

Sokrates: Es ist kein Grund, warum nicht; aber nimm du nur mit teil an der Untersuchung!

Protarchos: Nun gut!

[71] Sokrates: Ich behaupte also, daß alle Hilfsmittel, alle Werkzeuge und aller Stoff durchaus eines Werdens wegen behandelt werden, daß jedes einzelne Werden so oder anders werde wegen irgend eines einzelnen Seins, das gesamte Werden aber wegen des gesamten Seins werde.

Protarchos: Das ist sehr deutlich.

Sokrates: Also würde auch die Lust, sofern sie ein Werden ist, notwendig irgend eines Seins wegen werden.

Protarchos: Wie anders?

Sokrates: Gewiß aber gehört nun das, wegen dessen immer das wegen eines anderen Werdende werden mag, auf die Seite des Guten; das aber eines anderen wegen Werdende, mein Bester, ist auf eine andere Seite zu stellen.

Protarchos: Ganz notwendig.

Sokrates: Also werden wir, wenn wir die Lust, sofern sie ein Werden ist, auf eine andere Seite stellen als auf die des Guten, doch wohl richtig verfahren?

Protarchos: Vollkommen richtig!

Sokrates: Muß man also nicht, wie ich schon zu Anfang dieser Besprechung bemerkt habe, demjenigen Dank wissen, der von der Lust gezeigt hat, daß es zwar ein Werden, in keiner Weise aber ein Sein derselben gebe? Denn offenbar lacht dieser über diejenigen, welche versichern, daß die Lust ein Gut sei.

Protarchos: Ganz gewiß!

Sokrates: Und ebenso gewiß wird er jedenfalls über diejenigen lachen, welche in den Veränderungen des Werdens ihr Ziel finden.

Protarchos: Wie und von was für Leuten meinst du das?

Sokrates: Von allen denen, welche, indem sie sich ihren Hunger oder Durst oder irgend ein Bedürfnis stillen, das durch ein Werden sich stillen läßt, sich nun an diesem Werden erfreuen, als ob es eine Lust wäre, und sagen, daß sie gar nicht zu leben wünschten, ohne zu dürsten und zu hungern und alles das zu erleiden, was man als mit den bezeichneten Zuständen zusammenhängend anführen könnte.

Protarchos: So sind diese Leute in der Tat.

Sokrates: Nicht wahr, vom Werden, dürften wir doch wohl alle zugeben, ist das Gestörtsein das Gegenteil?

Protarchos: Notwendig.

[72] Sokrates: Also den Zustand der Störung und das Werden würde derjenige wählen, der jene Art wählte, nicht aber jene dritte Lebensform, nämlich diejenige, bei welcher es weder ein Sich-freuen noch ein Unlust-haben gab, wohl aber ein so viel möglich reines Erkennen.

Protarchos: Eine vielfältige Unvernunft, Sokrates, scheint in der Tat herauszukommen, wenn uns jemand die Lust als ein Gut darstellt.

Sokrates: Eine vielfältige, wenn wir es auch noch in folgender Weise besprechen...

Protarchos: In welcher?

Sokrates: Wie, ist es nicht unvernünftig, daß in Körpern und in vielen andern Dingen sich weder Gutes noch Schönes finden soll, wohl aber in der Seele, und daß nun hier nur die Lust von dieser Art sein soll, während Tapferkeit, Besonnenheit, Geist und was alles sonst die Seele Gutes besitzt, es nicht wären? Und zudem noch, daß einer, der nicht froh ist, sondern Schmerzen hat, nun schlechterdings von sich sagen soll, er sei dann, wenn es ihn schmerzt, ein schlechter Mensch, und wäre er selbst der allerbeste; und hinwiederum derjenige, welcher sich freut, sei um so tugendhafter, je größer seine Freude ist.

Protarchos: Das alles, Sokrates, ist so unvernünftig als möglich.

Sokrates: Sofort aber sei die Absicht ferne von uns, unsere ganze Untersuchung ausschließlich der Lust zu widmen, während wir dagegen mit Vernunft und Erkenntnis gleichsam überaus schonend umzugehen scheinen! Vielmehr wollen wir ringsum überall tüchtig anklopfen, ob irgend etwas schadhaft sei, bis wir an denselben das, was seiner Natur nach das Reinste ist, erkannt haben, um dann der wahrsten Bestandteile sowohl dieser als der Lust uns zur gemeinschaftlichen Aburteilung zu bedienen.

Protarchos: Recht!

Sokrates: Besteht nun nicht das die verschiedenen Kenntnisse betreffende Wissensgebiet für uns aus einem, meine ich, künstlerischen Teil und einem, der es mit Bildung und Erziehung zu tun hat? Oder wie?

Protarchos: Ganz so.

Sokrates: Bei den handwerksmäßigen Künsten nun wollen[73] wir zuerst erwägen, ob nicht einem Teil derselben ein höheres, dem anderen Teil ein geringeres Maß von Wissenschaft zukomme, und ob man nicht hiernach die einen als höchst rein, die anderen als unreiner ansehen müsse.

Protarchos: Das sollten wir.

Sokrates: Hiernach müssen wir diejenigen, welche den ersten Rang einnehmen, einmal von den übrigen ausscheiden.

Protarchos: Welche wohl und wie?

Sokrates: Z.B. wenn man die Rechenkunst, die Meßkunst und die Wägekunst von den übrigen Künsten aussondert, so würde das, was an jeder noch übrigbliebe, kurz gesagt, wertlos erscheinen.

Protarchos: Ja, ganz wertlos!

Sokrates: Wenigstens was nach diesem noch übrigbleiben dürfte, ist nur das mutmaßende Verfahren, empirische und praktische Übung der Sinne, wobei man noch die Fertigkeiten im richtigen Abschätzen in Anwendung bringt, welche manche auch noch Künste nennen, und in denen man durch Übung und Anstrengung Stärke erlangt.

Protarchos: Was du sagst, ist unfehlbar richtig.

Sokrates: Hiervon erfüllt ist also wohl fürs erste die Tonkunst, indem sie die Harmonie nicht nach einem Maße, sondern durch geübtes Treffen hervorbringt, sodann die ganze zu derselben gehörige Kunst, die Instrumente zu gebrauchen, welche das Maß jeder angeschlagenen Seite durch Treffen zu erhaschen sucht, so daß ihr viel Unbestimmtes und nur wenig Sicheres beigemischt ist.

Protarchos: Sehr wahr.

Sokrates: Und mit der Heilkunst, dem Landbau, der Schifffahrt, der Feldherrnkunst, werden wir finden, verhält es sich ebenso.

Protarchos: Sehr wohl!

Sokrates: Die Baukunst dagegen, welche sehr vieler Maße und Werkzeuge sich bedient, lassen, glaube ich, diese Hilfsmittel, die ihr eine große Genauigkeit sichern, auch kunstreicher als die meisten Kenntnisse erscheinen.

Protarchos: In welcher Beziehung?

Sokrates: Sowohl im Schiffsbau und im Häuserbau als in vielen anderen Zweigen der Holzbearbeitung. Denn soviel ich[74] weiß, gebraucht sie das Richtmaß, den Rundhobel, den Zirkel, die Schnur und eine Art feiner Schraube.

Protarchos: Und mit dem allen, Sokrates, hast du ganz recht.

Sokrates: Laß uns also die sogenannten Künste in zwei Klassen teilen, von denen die einen, auf Seite der Musik stehenden, in ihren Produkten geringere, die anderen, auf Seite der Baukunst, größere Genauigkeit mit sich führen!

Protarchos: Das stehe fest!

Sokrates: Und auch, daß die genauesten Künste jene seien, welche wir vorhin als erste genannt haben.

Protarchos: Du meinst damit offenbar die Rechenkunst und alle die Künste, welche du vorhin mit dieser genannt hast.

Sokrates: Ganz wohl! – Allein, Protarchos, muß man nicht sagen, auch diese seien wiederum zweifach? Oder wie?

Protarchos: Von welchen meinst du das?

Sokrates: Fürs erste, was die Zahlenlehre betrifft, muß man nicht sagen, daß die der Menge eine andere sei, und wieder eine andere die der wissenschaftlich Gebildeten?

Protarchos: Worin hat man nun den Unterschied der einen Rechenkunst von der andern zu suchen?

Sokrates: Es ist kein kleiner Unterschied, Protarchos! Denn die einen rechnen je ungleiche Einheiten zählbarer Gegenstände zusammen, z.B. zwei Lager und zwei Ochsen, zwei sehr kleine oder auch die allergrößten Dinge; die anderen aber möchten wohl nicht Hand in Hand mit diesen gehen, sofern sie den Satz aufstellen, daß unter allen den tausend Einheiten eine Einheit von jeder anderen gar nicht verschieden sei.

Protarchos: Und sehr wohl hast du bemerkt, daß keine kleine Verschiedenheit besteht zwischen denen, welche die Zahlen zu ihrem Geschäft machen, so daß man allen Grund hat, diese als zwei Künste anzunehmen.

Sokrates: Wie aber nun, die Rechenkunst und Meßkunst, in ihrer Anwendung auf die Baukunst und im Handelsverkehr gegenüber dem wissenschaftlichen Betriebe der Geometrie und des Rechnens, – soll man dieselben je als eine bezeichnen, oder wollen wir sie als zwei setzen?

Protarchos: Dem Bisherigen zufolge möchte ich meine Stimme dahin abgeben, jede von diesen beiden als zwei zu setzen.

[75] Sokrates: Recht! Weshalb wir aber dieses so aufgestellt haben, bemerkst du wohl?

Protarchos: Möglich! Doch wünschte ich, daß du das jetzt Gefragte selbst erläutern möchtest.

Sokrates: Noch ebenso wie bei ihrem Beginn scheint mir unsere Untersuchung ein Gegenstück zu den Gefühlen der Lust aufzusuchen und nun hier zu der Betrachtung vorgeschritten zu sein, ob nicht ebenso eine Erkenntnis reiner als die andere sei wie eine Lust reiner als die andere.

Protarchos: So viel ist jedenfalls klar, daß sie diesen Zweck verfolgt hat.

Sokrates: Wie also? Macht sie nun nicht im Bisherigen die Entdeckung, daß nach ihren verschiedenen Objekten verschieden die eine Kunst sicherer oder unsicherer sei als die andere?

Protarchos: Sehr wohl!

Sokrates: Und nachdem sie hierbei die eine und andere Kunst mit demselben Namen bezeichnet und in der Vorstellung als eine festgestellt hatte, – wirft sie nicht, wie wenn es doch zweierlei wären, die Frage wiederholt auf, ob die Kunst der Wissenschaftlichen oder die der Unwissenschaftlichen das Sichere und das Reine derselben genauer enthalte?

Protarchos: Und gar sehr scheint sie mir dieses durchzufragen.

Sokrates: Und was für eine Antwort, Protarchos, wollen wir darauf geben?

Protarchos: O Sokrates, wunderbar weit haben wir es im Unterscheiden der Erkenntnisse gebracht hinsichtlich ihrer Sicherheit.

Sokrates: Wird uns also nicht die Antwort um so leichter werden?

Protarchos: Warum nicht? Und so sei hiermit ausgesprochen, daß zwar schon jene Künste von den übrigen sich sehr unterscheiden, von ihnen selbst aber die auf der Höhe wahrhafter Wissenschaftlichkeit stehenden durch Genauigkeit und Wahrheit in den Maßen und Zahlen ohne Vergleich höherzustellen sind.

Sokrates: Du sollst recht haben, und dir vertrauend wollen wir mutvoll den im Redenverziehen Gewaltigen antworten.

Protarchos: Und zwar was?

Sokrates: Daß es zwei Arten der Zahlenlehre und zwei der[76] Meßkunst gebe und im Gefolge derselben noch viele andere dieser Art, denen die Zweifältigkeit zukommt, während sie einen Namen gemein haben.

Protarchos: Glück auf, so geben wir denn jenen Gewaltigen, wie du sie bezeichnest, diese Antwort, Sokrates!

Sokrates: Von diesen Wissenschaften also sagen wir, sie seien möglichst genau?

Protarchos: Allerdings.

Sokrates: Indessen, Protarchos, völlig absagen müßte uns wohl die dialektische Kunst, wenn wir einer anderen den Vorzug vor ihr einräumten.

Protarchos: Für was für eine müssen wir hinwiederum diese erklären?

Sokrates: Offenbar ist sie diejenige, welche von jeder bis jetzt genannten Kenntnis hat. Denn daß die das Seiende und das wahre Sein und das seiner Natur nach immer Selbige betreffende Erkenntnis auch weitaus die wahrste sei, davon sollten, meine ich wenigstens, alle durchaus überzeugt sein, welchen auch nur ein bißchen Vernunft anhaftet. Aber du, Protarchos, wie würdest du darüber urteilen?

Protarchos: Zwar, Sokrates, habe ich den Gorgias oft gehört, und jedesmal, daß die Kunst zu überreden weit den Vorzug verdiene vor allen Künsten; denn durch freien Willen und nicht durch Gewalt mache sie sich alles dienstbar, und weitaus die trefflichste sei sie von allen Künsten. Doch jetzt möchte ich weder dir noch jenem entgegentreten.

Sokrates: Kaum daß du reden willst, scheinst du mir schon beschämt die Waffen zu strecken.

Protarchos: Es sei dem für jetzt so, wie dir scheint.

Sokrates: Bin ich also wohl Ursache, daß du es nicht richtig gefaßt hast?

Protarchos: Was doch?

Sokrates: Mitnichten, lieber Protarchos, habe ich danach gefragt, welche Kunst oder welche Wissenschaft dadurch vor allen anderen sich auszeichne, daß sie die größte und beste sei und uns den meisten Nutzen schaffe, sondern welche das Sichere und das Genaue und das Wahreste im Auge habe, wenn sie auch gleich nur gering wäre und geringen Vorteil brächte. Das ist es, wonach wir eben fragten. Nun sieh zu![77] Dem Gorgias wirst du dich nicht verfeinden, wenn du seiner Kunst einräumst, daß sie den Menschen zum Nutzen sei, jener Disziplin aber, von der ich jetzt spreche, daß sie den Vorrang verdiene, so wie ich vorhin vom Weißen sagte, daß es, wenn es auch gering, aber doch rein sei, dem vielen und nicht rein Beschaffenen eben durch jenen höchsten Grad von Wahrheit vorgehe. Und nachdem wir jetzt darüber streng nachgedacht und dialektisch genug verhandelt haben, wollen wir, ohne weder auf den verschiedenen Nutzen noch auf irgendwelche Ehrenansprüche der Erkenntnisse Rücksicht zu nehmen, wenn unserer Seele wirklich eine Kunst angeboren ist, für das Wahre sich zu begeistern und um desselben willen alles zu tun, von dieser nach gründlicher Durchforschung sagen, ob wir es als wahrscheinlich begreifen können, daß dieselbe im Besitze der reinen Vernunft und Einsicht sei, oder ob wir eine andere aufsuchen müssen, die noch herrlicher wäre als diese.

Protarchos: Ich will es erwägen; und schwer ist es, denke ich, einzuräumen, daß irgend eine andere Wissenschaft oder Kunst es mehr mit der Wahrheit halte als diese.

Sokrates: Hast du nun bei dem, was du hier gesprochen, auch wohl beachtet, daß die meisten Künste und alle, die sich an diesen abarbeiten, vorerst es mit Meinungen zu tun haben und das Gebiet der Meinung mit gespannter Kraft untersuchen? Aber auch wenn einer glaubt, Untersuchungen über die Natur anzustellen, weißt du doch, daß er sein Leben lang eben das Gebiet dieser Welt untersucht, wie sie entstanden ist, in welcher Weise sie etwas erleidet, in welcher sie etwas bewirkt? Können wir das sagen oder wie?

Protarchos: Ganz so.

Sokrates: Also nicht das immer Seiende, sondern das, was wird, was werden wird, und was geworden ist, ist es, womit der Bezeichnete sich Arbeit macht.

Protarchos: Sehr wahr!

Sokrates: Können wir nun sagen, daß der genauesten Wahrheit gemäß etwas von dem klargemacht werden könne, was doch niemals sich selbst gleich weder gewesen ist noch sein wird noch auch nur im jetzigen Augenblick ist?

Protarchos: Wie könnten wir doch?

Sokrates: Wie könnte auch von dem, was schlechthin keine[78] Beharrlichkeit besitzt, sich uns irgend jemals etwas Beharrliches ergeben?

Protarchos: Nimmermehr, denke ich!

Sokrates: Es gibt also in diesem Gebiet auch weder ein Denken noch ein Wissen, das die höchste Wahrheit enthielte?

Protarchos: Augenscheinlich nicht wohl!

Sokrates: So wollen wir deine Person und meine, den Gorgias und den Philebos ganz aus dem Spiele lassen, folgendes aber der Untersuchung gemäß feierlich erklären...

Protarchos: Und das wäre?

Sokrates: Daß wir das Beharrliche und das Reine und das Wahre und, wie wir es auch nennen, das Lautere entweder dort finden, in dem Gebiete dessen, was sich stets auf dieselbe Weise am meisten unvermischt verhält, oder im Gebiete dessen, was jenem am meisten verwandt ist, während alles andere als Zweites und Nachstehendes bezeichnet werden muß.

Protarchos: Du hast vollkommen recht.

Sokrates: Von den Namen nun, die es hierfür gibt, fordert wohl die Gerechtigkeit durchaus, daß wir dem Schönsten die schönsten zuteilen?

Protarchos: Versteht sich.

Sokrates: Sind nun nicht Vernunft und Einsicht diejenigen Benennungen, die man am höchsten schätzen muß?

Protarchos: Ja.

Sokrates: Dieselben werden also, kann man sagen, wohl ihre richtige Stelle haben, wenn man sie mit den Begriffen des wahrhaft Seienden in möglichst genaue Beziehung bringt.

Protarchos: Allerdings!

Sokrates: Nun aber, was ich früher zur Aburteilung vorgelegt habe, ist ja nichts anderes als diese Namen.

Protarchos: Was sonst, Sokrates?

Sokrates: Gut denn! Was nun die gegenseitige Mischung von Erkenntnis und Lust betrifft, so wäre es also wohl eine treffende Vergleichung, wenn einer sagen wollte, an denselben liege uns gleichsam als Werkmeistern das Material vor, aus welchem oder an welchem man etwas fertigbringen müsse.

Protarchos: Gewiß!

Sokrates: Sollen wir also nicht demnächst einen Versuch machen zu mischen?

[79] Protarchos: Warum nicht?

Sokrates: Zuvor nun dürfte es doch wohl richtiger sein, uns selbst erst folgendes zu sagen und in Erinnerung zu rufen...

Protarchos: Nämlich was?

Sokrates: Was wir auch früher schon erwähnt haben. Es scheint aber das Sprichwort recht zu behalten, auch zwei- und dreimal müsse man das Treffende in der Rede wiederholen.

Protarchos: Warum nicht?

Sokrates: Wohlan denn, beim Zeus! Wie ich meine, sind damals ungefähr folgende Sätze aufgestellt worden...

Protarchos: Nämlich?

Sokrates: Philebos behauptet, die Lust sei das richtige Ziel für alles, was lebt, und dieses müssen alle zu erreichen suchen. In der Tat sei eben dieses für alle das Gute, und mit Recht lege man diese zwei Benennungen, Gutes und Lust, einem Objekt und einer Natur bei. Sokrates dagegen sagt, fürs erste sei dieses nicht so; sondern wie die zwei Namen, so seien auch das Gute und die Lust ihrer Natur nach von einander verschieden; mehr Anteil aber an dem Wesen des Guten habe die Einsicht als die Lust. – Ist und war es nicht dieses, was damals gesagt wurde, Protarchos?

Protarchos: Ganz entschieden!

Sokrates: Und sollten wir nun nicht auch über folgendes jetzt wie damals einverstanden sein?

Protarchos: Worüber nämlich?

Sokrates: Daß die Natur des Guten sich in folgendem von allem anderen unterscheide...

Protarchos: Worin?

Sokrates: Darin, daß ein Leben, dem es stetig bis ans Ende ganz und in jeder Hinsicht beiwohne, keines anderen irgend weiter bedürfe, sondern das vollkommenste Genügen habe. Ist's nicht so?

Protarchos: Allerdings so.

Sokrates: Haben wir nicht dann in unserer Besprechung den Versuch gemacht, jedes von beiden getrennt vom anderen in seiner eigentümlichen Lebensform darzustellen, Lust unvermischt mit Einsicht, und Einsicht gleichfalls so, daß sie auch nicht das mindeste von Lust an sich hatte?

Protarchos: So war es.

[80] Sokrates: Und dünkte uns nun dabei eines von beiden genügend für jemand zu sein?

Protarchos: Wie könnte es doch?

Sokrates: Gesetzt aber, wir hätten es auch damals in manchem verfehlt, so mag es immerhin jetzt, wer da will, noch einmal vornehmen und es richtiger sagen. Indem er Erinnerung und Einsicht, Erkenntnis und wahre Meinung als einer Begriffsgattung zugehörig setzt, möge er zusehen, ob wohl jemand wünschen könnte, ohne diese irgend etwas, geschweige gar eine Lust zu haben oder zu erlangen, und wäre es auch die reichste oder stärkste. Würde er ja doch in Wahrheit weder eine Vorstellung haben, daß er sich freue, noch überhaupt eine Erkenntnis des Zustandes, in dem er sich befände, noch auch wieder nur in irgend einem Moment eine Erinnerung an diesen Zustand besitzen. Desgleichen aber sage auch von der Einsicht, ob jemand wünschen möchte, Einsicht ohne jegliche, sogar die kürzeste, Lust lieber als verbunden mit gewissen Lustgefühlen zu besitzen, oder auch sämtliche Lustgefühle ohne Einsicht lieber als hinwiederum mit einer gewissen Einsicht verbunden.

Protarchos: Nicht doch, Sokrates, es ist ganz unnötig, diese Frage so oft zu wiederholen.

Sokrates: Also das Vollkommene und für alle Wünschenswerte und das schlechthin Gute wird wohl weder das eine noch das andere sein?

Protarchos: Wie könnte es wohl?

Sokrates: Sofort aber müssen wir doch das Gute entweder ganz genau oder doch einen gewissen Umriß desselben auffassen, um, wie gesagt, zu wissen, wem wir den zweiten Preis geben sollen.

Protarchos: Du hast ganz recht.

Sokrates: Haben wir nun nicht doch gewissermaßen einen Weg zum Guten gefunden?

Protarchos: Welchen doch?

Sokrates: Etwa so, wie jemand, der einen Menschen aufsuchte und nun zuerst sich über das Haus, wo er wohnt, eine richtige Auskunft verschaffte, damit doch wohl für Auffindung des Gesuchten viel gewonnen hätte.

Protarchos: Wie sollte er nicht?

Sokrates: Und jetzt hat ja auch uns, wie schon zu Anfang,[81] eine gewisse Erörterung bedeutet, nicht im ungemischten Leben das Gute zu suchen, sondern im gemischten.

Protarchos: Allerdings.

Sokrates: Nun aber ist doch mehr Hoffnung vorhanden, daß in dem gut Gemischten das Gesuchte offenbarer hervortreten werde als in dem nicht gut Gemischten.

Protarchos: Bei weitem!

Sokrates: So wollen wir denn mischen, aber indem wir zu den Göttern beten, sei es nun Dionysos oder Hephaistos oder welcher der Götter sonst, dem jenes Ehrenamt des Mischens zugeteilt ist.

Protarchos: Allerdings.

Sokrates: Und fürwahr, wie Weinschenken haben wir zwei Quellen vor uns: mit Honig dürfte man wohl die der Lust vergleichen, die der Einsicht aber, ernüchternd und weinfrei, wie sie ist, mit einem harten und gesunden Wasser; und nun müssen wir trachten, sie so gut als möglich zusammenzumischen.

Protarchos: Wie sollten wir nicht?

Sokrates: Wohlan denn zuvörderst: Müssen wir wohl, um die gute Mischung zu erzielen, sämtliche Lust mit sämtlicher Einsicht mischen?

Protarchos: Möglich!

Sokrates: Aber nicht sicher! Wie wir aber gefahrloser mischen können, darüber glaube ich eine Meinung darlegen zu können.

Protarchos: Sag nur, welche!

Sokrates: Es war doch, wie wir meinten, eine Lust für uns wahrer als die andere, und gewiß auch eine Kunst genauer als die andere?

Protarchos: Wie anders?

Sokrates: Auch eine Erkenntnis verschieden von der anderen, die eine auf das Werdende und Vergehende blickend, die andere auf das, was weder wird noch vergeht, sondern stets dasselbe und auf gleiche Weise ist. Und diese haben wir, das Auge auf das Wahre richtend, für wahrer gehalten als jene.

Protarchos: Und gewiß ganz mit Recht.

Sokrates: Und nun, wenn wir zunächst die wahrsten Stücke von beiden ins Auge faßten, um sie zusammenzumischen, sollten diese in Zusammenschmelzung nicht genügend sein, uns durch ihre Wirkung das liebenswürdigste Leben zu verschaffen?[82] Oder bedürfen wir dazu auch noch von den nicht so beschaffenenen Teilen etwas?

Protarchos: Ich wenigstens denke, man sollte es so machen.

Sokrates: Stellen wir uns also einen Menschen vor, der von dem Wesen der Gerechtigkeit an sich Einsicht hat, auch die Gabe besitzt, seinem Denken gemäß zu reden, auch außerdem über alles übrige Seiende nachdenkt!

Protarchos: Es sei so.

Sokrates: Wird derselbe nun wohl genügendes Wissen besitzen, wenn es zwar von dem Kreise und der Kugel an sich, nämlich der göttlichen, zu reden weiß, von dieser menschlichen Kugel aber und diesen menschlichen Kreisen nichts versteht und beim Häuserbau nun auch mit den übrigen Maßwerkzeu gen geradeso umzugehen weiß wie mit den Zirkeln?

Protarchos: Lächerlich, Sokrates, nennen wir die Verfassung, in der wir uns befinden, wenn wir nur in den göttlichen Erkenntnissen zu Hause wären.

Sokrates: Wie meinst du also? Muß man etwa das weder sichere noch reine Kunstmittel des unwahren Richtmaßes und Zirkels zugleich mit hineinwerfen und beimengen?

Protarchos: Notwendig doch, wenn einer von uns auch nur einmal den Weg nach Hause finden will!

Sokrates: Und auch die Musik wohl, von der wir kurz vorher sagten, daß sie an Reinheit Mangel leide, weil bei ihr alles aufs Treffen und Nachahmen ankommt?

Protarchos: Mir wenigstens scheint dies notwendig, wenn unser Leben nur irgendwie noch ein Leben sein soll.

Sokrates: Willst du wohl gar, daß ich, wie ein vom Gedränge gestoßener und überwältigter Türsteher, besiegt die Türen weit aufmache und alle Erkenntnisse einströmen und also die unvollkommenen zugleich sich mit der reinen vermischen lasse?

Protarchos: Ich weiß in der Tat nicht, Sokrates, welchen Schaden es einem bringen könnte, wenn er, im Besitze der höchsten Erkenntnisse, die übrigen die noch bekäme.

Sokrates: Soll ich sie also insgesamt zulassen, zu strömen herein in den Sammelort des höchst poetischen »Mischbeckens« Homers?

Protarchos: Allerdings.

Sokrates: Sie sind zugelassen! Und nun wollen wir wieder[83] zur Quelle der Lüste zurückkehren. Denn so, wie wir beide zu mischen gedachten, nämlich zuerst die wahren Teile derselben, ist es uns nicht gelungen; sondern weil wir jede Erkenntnis schätzen, haben wir sie in Masse und vor den Lüsten zusammen zugelassen.

Protarchos: Du hast vollkommen recht.

Sokrates: Und jetzt ist es Zeit, uns auch über die Lüste zu beraten, ob man auch diese alle in Masse loslassen oder auch von ihnen zuerst die, welche wahre sind, zulassen müsse.

Protarchos: Zur Sicherheit ist es doch wohl viel besser, zuerst die wahren zuzulassen.

Sokrates: So seien sie denn zugelassen! Was aber nun; Muß man nicht, wenn einige noch notwendig sind, diese, wie dort, auch noch mit beimischen?

Protarchos: Warum aber nicht? Die notwendigen doch gewiß!

Sokrates: Wenn wir aber nun, wie es uns unser Leben lang unschädlich und nützlich erschien, alle Künste zu kennen, so jetzt dasselbe sagen auch von den Lüsten, wenn es also unser Leben lang zuträglich und unschädlich für uns ist, aller Lüste froh zu werden, – so müssen wir auch alle mit einmengen.

Protarchos: Was sollen wir also nun von ihnen sagen; Und wie wollen wir es damit halten?

Sokrates: Darüber dürfen wir nicht uns befragen, sondern die Lüste selbst und die Einsichten, indem wir sie folgendermaßen über einander ausforschen...

Protarchos: Nämlich wie?

Sokrates: »O ihr Lieben, mag man euch nun Lüste nennen oder euch welchen Namen sonst irgend geben, solltet ihr nicht lieber wünschen, mit sämtlicher Einsicht zusammenzuwohnen, als von Einsicht gesondert?« – Ich denke, hierauf werden sie ganz notwendig folgendes antworten...

Protarchos: Und zwar was?

Sokrates: »Wie schon vorhin ausgesprochen worden, ist das alleinige und isolierte Bestehen einer Gattung in ihrer Lauterkeit weder irgend möglich noch nützlich; vielmehr achten wir es als das Beste, daß von allen Gattungen, eine gegen die andere gehalten, diejenige uns beiwohne, welcher das Erkennen sowohl aller anderen Dinge als besonders jeder einzelnen von uns selbst im möglichst vollkommenen Grade zukommt.«

[84] Protarchos: Und »trefflich habt ihr das jetzt gesagt«, werden wir antworten.

Sokrates: Recht! Nun aber muß man nächstdem auch wieder die Einsicht und die Vernunft befragen. »Bedürftet ihr wohl etwas von Lustgefühlen bei der Mischung?« würden wir wohl sagen, wenn wir die Vernunft und die Einsicht befragen wollten. – »Was willst du mit deinen Lustgefühlen?« würden sie ohne Zweifel sagen.

Protarchos: Vermutlich.

Sokrates: Unsere Rede aber auf dieses ist folgende: »Außer jenen wahren Lustgefühlen«, werden wir sagen, »habt ihr noch nötig, daß noch die sehr großen und die sehr starken Lüste eure Hausgenossen sind?« – »Und wieso, Sokrates?« würden sie wohl sagen, »diese, die uns ja tausendfältige Hindernisse bereiten, indem sie die Seelen, in welchen wir wohnen, durch wahnsinnige Lüste verwirren, die uns von vornherein gar nicht entstehen lassen wollen, auch die von uns erzeugten Kinder zumeist durch das Vergessen, das sie mittelst Verwahrlosung bewirken, ganz und gar verderben? Andere Lustgefühle indessen, wahre und reine, wie du sie genannt hast, sieh nur als uns ziemlich verwandt an, und nächst diesen diejenigen, welche mit der Gesundheit und dem besonnenen Leben zusammenhängen, überdies noch alle, welche mit der gesamten Tugend wie Folgerinnen einer Gottheit allerwärts Hand in Hand gehen, – diese mische nur bei! Diejenigen aber, die stets mit Torheit und der anderen Schlechtigkeit zusammengehen, mit der Vernunft zu mischen, wäre ja doch großer Unverstand von dem, welcher sein Auge auf die möglichst schönste und ungestörteste Mischung und Verschmelzung richtet und nun an derselben suchen will zu lernen, was doch im Menschen und der ganzen Welt seiner Natur nach gut sei, und zu ahnen, was die Idee desselben sei.« – Werden wir nicht sagen, daß die Vernunft mit der Antwort, die sie da jetzt gegeben hat, ihre eigene Sache wie die der Erinnerung und der richtigen Vorstellung ganz einsichtsvoll und vernünftig geführt habe?

Protarchos: Allerdings.

Sokrates: Aber auch folgendes ist doch notwendig, und anders würde wohl überhaupt gar nichts zustande kommen...

Protarchos: Was nämlich?

[85] Sokrates: Wem wir nicht Wahrheit beimischen, das kann niemals wahrhaft werden, noch auch je, wenn es geworden, sein.

Protarchos: Wie wäre das möglich?

Sokrates: Nimmermehr! – Und nun, wenn es zu unserer Verschmelzung noch etwas bedarf, so saget es, du und Philebos! Mir nämlich scheint unsere Untersuchung jetzt gleichsam zu einer körperlosen Ordnung sich vollendet zu haben, wie sie in schöner Weise einen beseelten Körper beherrschen soll.

Protarchos: Und sage nur, Sokrates, daß sie auch mir so erscheine!

Sokrates: Wir würden also vielleicht nicht zu viel sagen, wenn wir behaupten, wir stehen jetzt bereits in den Vorhallen des Guten und der Behausung seiner Gattung.

Protarchos: Ich denke wohl.

Sokrates: Und nun, was dürfte wohl bei der Mischung unseres Erachtens das Wertvollste sein und zugleich zumeist die Ursache davon, daß die so beschaffene Art zu sein auch allen lieb geworden? Haben wir nämlich dieses erkannt, so werden wir nachher noch in Erwägung ziehen, ob dasselbe sich im ganzen mehr der Lust oder der Vernunft verwandt und befreundet darstelle.

Protarchos: Recht! Zur Entscheidung ist uns dies gewiß vom größten Vorteil.

Sokrates: Bei jeglicher Mischung aber ist es nun gar nicht schwierig, die Ursache zu erkennen, aus welcher sie in allen Fällen entweder durchaus würdig oder durchgängig nichtswürdig erscheint.

Protarchos: Wie meinst du das?

Sokrates: Darüber ist doch wohl niemand im unklaren...

Protarchos: Nämlich worüber?

Sokrates: Daß eine Verschmelzung, wie und wo dieselbe auch immer vorkomme, wenn sie keinen Teil an dem Maß und an der Natur des Ebenmäßigen hat, unausbleiblich das Verschmolzene sowohl als zuerst sich selbst verdirbt. Denn in einem solchen Fall entsteht gar keine Verbindung, sondern in Wahrheit jedesmal nur ein gewisses unordentliches Gemengsel, das vielmehr ein Drangsal ist für diejenigen, die es besitzen.

Protarchos: Sehr wahr.

Sokrates: Nun aber ist uns ja das Wesen des Guten in die[86] Natur des Schönen entwichen. Denn Maß und Ebenmaß ist doch wohl überall das, woraus Schönheit und alles Edle entsteht.

Protarchos: Allerdings.

Sokrates: Aber auch Wahrheit, sagten wir ja doch, sei denselben bei der Verschmelzung beigemischt worden?

Protarchos: Allerdings.

Sokrates: Und nun, wenn wir also das Gute nicht in einer Rede erjagen können, wollen wir es eben dreifältig nehmen, nämlich in Schönheit, Ebenmaß und Wahrheit, und sagen, daß man dieses als Eins genommen mit vollstem Recht als die Ursache des Gehaltes der Mischung bezeichnen dürfe, und weil nun jene gut ist, auch diese selbst eine so beschaffene geworden sei.

Protarchos: Ganz richtig!

Sokrates: Und nun, Protarchos, dürfte wohl jeder ohne Unterschied in der Lage sein, zwischen der Lust und der Erkenntnis als Richter aufzutreten, welche von beiden mit dem höchsten Gut die nähere Verwandtschaft und bei Menschen sowohl als Göttern die größere Ehre habe.

Protarchos: Das ist zwar klar; doch ist es besser, es im Gespräch auszuführen.

Sokrates: Wir wollen also jedes von jenen dreien einzeln der Lust und der Vernunft gegenüber richten. Denn wir müssen sehen, welchem von beiden Teilen wir jedes derselben als näher verwandt zuteilen müssen.

Protarchos: Du sprichst von der Schönheit, der Wahrheit und dem Maße?

Sokrates: Ja. Zuerst also ergreife die Wahrheit, Protarchos; sodann, hast du sie ergriffen, betrachte die drei, die Vernunft und die Wahrheit und die Lust, und laß dir nur Zeit, um dir selbst die Frage zu beantworten, was von beiden mit der Wahrheit verwandter sei, ob die Lust oder die Vernunft.

Protarchos: Wozu bedarf es da der Zeit? Denn groß, dünkt mir, ist der Unterschied zwischen beiden. Die Lust ist ja die größte Windbeutelei, die es gibt, so daß die Rede geht, bei den Lüsten des Liebesgenusses, welche ja als die größten angesehen werden, bekomme selbst der Meineid von den Göttern Verzeihung, indem die Lüste Kindern gleichen, die auch nicht im[87] geringsten etwas von Vernunft besitzen. Die Vernunft aber ist entweder dasselbe wie die Wahrheit oder doch das dieser Ähnlichste und Wahrste von allem sonst.

Sokrates: Und nun, nächst diesem erwäge auf gleiche Weise die Abgemessenheit, ob die Lust mehr als die Einsicht, oder die Einsicht mehr als die Lust von ihr besitze!

Protarchos: Eine längst wohlerwogene Erwägung mutest du mir da zu. Denn nirgend, meine ich, findet sich in der Welt etwas seiner Natur nach Maßloseres als Lust und Genuß der Freude, nirgends aber auch etwas Maßvolleres als Vernunft und Erkenntnis.

Sokrates: Das hast du schön ausgedrückt! Indessen sage auch noch das Dritte: Hat die Vernunft für uns mehr Anteil an der Schönheit oder das Geschlecht der Lust, so daß die Vernunft schöner ist als die Lust oder umgekehrt?

Protarchos: Aber niemand, Sokrates, hat doch je Einsicht und Vernunft weder wachend noch im Traume häßlich gesehen, noch auch irgend je sich gedacht, daß sie es könnte gewesen sein oder es wäre oder es sein werde?

Sokrates: Recht!

Protarchos: Wenn wir dagegen jemanden sich Lüsten, und zumal jenen größten, hingeben sehen und nun entweder das Lächerliche, das denselben anhaftet, oder das Allerhäßlichste, das sie im Gefolge haben, wahrnehmen, so schämen wir uns selbst darüber und suchen es so viel wie möglich den Augen zu entziehen und zu verbergen, indem wir alles dieser Art der Nacht zuweisen als etwas, was selbst das Licht nicht sehen darf.

Sokrates: Allerwärts also, Protarchos, wirst du behaupten, indem du es durch Boten kundmachst oder indem du es hier den Leuten ins Angesicht sagst, daß die Lust nicht das Erste noch aber auch das zweite Besitztum sei, sondern daß das Erste das sei, was das Maß und das Gemessene und das Schickliche betrifft, überhaupt alles, von dem man denken muß, daß es die Natur des Unvergänglichen an sich habe.

Protarchos: Das ist allerdings klar nach dem eben Gesagten.

Sokrates: Das Zweite sodann betrifft das Ebenmaß und das Schöne und das Vollkommene und Genügende und überhaupt alles, was dieser Familie zugehört.

Protarchos: Augenscheinlich!

[88] Sokrates: Und wenn du als das Dritte sofort, möchte ich weissagen, Vernunft und Einsicht setzest, dürftest du auch an der Wahrheit nicht eben weit vorbeikommen.

Protarchos: Möglich.

Sokrates: Wird nun nicht ein Viertes das sein, was wir als zur Seele für sich gehörig gesetzt haben, nämlich die Erkenntnisse und Künste und die sogenannten richtigen Vorstellungen, – werden diese nicht nächst jenen drei das Vierte sein, da sie ja doch dem Guten näher verwandt sind als die Lust?

Protarchos: Vielleicht wohl!

Sokrates: Als die fünften sofort die Lustgefühle, welche wir mit der Bestimmung des Unlustfreien gesetzt haben und reine Gefühle der Seele für sich nennen, wie sie den Wahrnehmungen folgen?

Protarchos: Vielleicht.

Sokrates: Aber beim sechsten Geschlecht, sagt Orpheus, laßt ruhen den Schmuck des Gesanges! Doch fast wird auch unser Gespräch beim sechsten Punkt mit seinem Gerichte zur Ruhe gekommen sein. Und danach bleibt uns nichts übrig, als dem Gesprochenen gleichsam noch einen Kopf zu geben.

Protarchos: So soll es geschehen.

Sokrates: Wohlan denn, »zum drittenmal dem Vollender Zeus!« – so wollen wir dieselbe Rede unter feierlicher Bekräftigung nochmal durchgehen!

Protarchos: Welche doch?

Sokrates: Philebos hatte den Satz aufgestellt, das Gute sei uns die gesamte und vollständige Lust.

Protarchos: Zum drittenmal, Sokrates, schienst du mir vorhin zu sagen, daß man die Rede wieder von vorn an durchnehmen müsse.

Sokrates: Ja, und so laß uns denn weiter hören: – Ich nämlich, indem ich überblickte, was ich jetzt durchgesprochen habe, und verdrießlich über das Gerede nicht nur des Philebos, sondern immer vieler tausend anderer, behauptete sofort, daß Vernunft weit besser und für das Leben der Menschen ersprießlicher sei als Lust.

Protarchos: Dies war so.

Sokrates: Weil ich indessen Verdacht schöpfte, daß es doch noch manches andere gebe, erklärte ich, daß, wenn etwas zum[89] Vorschein käme, das besser als jene beiden, ich doch um den zweiten Preis mitkämpfen wolle für die Vernunft gegen die Lust, die Lust aber auch den Anspruch auf den zweiten Preis aufgeben müsse.

Protarchos: Das hast du allerdings erklärt.

Sokrates: Und sofort ist uns keines von jenen beiden als ein in schlechthin genügender Weise Genügsames erschienen.

Protarchos: Vollkommen wahr.

Sokrates: Und nicht wahr, es wurde in unserer Untersuchung Vernunft und Lust ganz und gar so weit beseitigt, daß keines von beiden das Gute an sich sei, indem beide den Anspruch auf Selbstzuläng lichkeit und auf das Wesen des Genugsamen und Vollkommenen aufgeben mußten?

Protarchos: Sehr richtig!

Sokrates: Nachdem aber nun ein anderes Drittes und Trefflicheres als jene beiden zum Vorschein gekommen war, ist doch jetzt wiederum die Vernunft der Idee dieses Siegenden tausendmal befreundeter und verwandter erschienen als die Lust.

Protarchos: Warum auch nicht?

Sokrates: Und nun das Fünfte würde, dem Urteil gemäß, das unsere Untersuchung verkündigt hat, wohl das Wesen der Lust sein.

Protarchos: So scheint es.

Sokrates: Nimmermehr aber das Erste, selbst wenn alle Ochsen und Pferde und alle übrigen Tiere zusammen es behaupteten, dadurch, daß sie dem Vergnügen nachjagen. Und diese doch sind es, denen die meisten, wie die Wahrsager den Vögeln, Glauben schenken, wenn sie urteilen, daß die Lüste für uns zum Leben das Trefflichste seien, und wenn sie die Liebesreize der Tiere für gültigere Zeugen halten als die jener Reden, in welchen die Muse der Philosophen jedesmal weissagt.

Protarchos: Und jetzt, Sokrates, geben wir dir auch alle zu, daß du vollkommen wahr geredet hast.

Sokrates: Also entlaßt ihr mich auch?

Protarchos: Noch weniges ist übrig, Sokrates, und du wirst doch wohl nicht eher fortgehen wollen als wir. Indessen werde ich dich auch an das Rückständige schon erinnern.[90]

Quelle:
Platon: Sämtliche Werke. Band 3, Berlin [1940], S. 7-91.
Entstanden nach 360 v. Chr. Erstdruck (in lateinischer Übersetzung durch Marsilio Ficino) in: Opera, Florenz o. J. (ca. 1482/84). Erstdruck des griechischen Originals in: Hapanta ta tu Platônos, herausgegeben von M. Musoros, Venedig 1513. Erste deutsche Übersetzung durch Johann Friedrich Kleuker in: Werke, 1. Band, Lemgo 1778. Der Text folgt der Übersetzung durch L. Georgii von 1869.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Philebos
Philebos /Timaios /Kritias
Platon. Sämtliche Werke Bd. 3: Kratylos, Parmenides, Theaitetos, Sophistes, Politikos, Philebos, Briefe. Übers. v. Friedrich Schleiermacher.
Platon Werke: Werke III/2. Philebos: Bd III,2 (Hypomnemata)
Philebos

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Der gute Mond / Er laßt die Hand küssen / Ihr Traum. Drei Erzählungen

Der gute Mond / Er laßt die Hand küssen / Ihr Traum. Drei Erzählungen

Drei Erzählungen aus den »Neuen Dorf- und Schloßgeschichten«, die 1886 erschienen.

64 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon