IV.
Schule der Altstadt Magdeburg. Das Pädagogium Kloster der lieben Frauen. Harzreise und die Universität Göttingen.

[72] Die Schule des Kantors der wallonischen Gemeinde, die ich schon früher im Allgemeinen schilderte, versank immer mehr. Die Zahl der Schüler und Schülerinnen verminderte sich bis zu einem kleinen Rest, der nur noch von der Familie des Kantors bearbeitet wurde und zu welchem unglücklicherweise auch ich gehörte. Alle Disciplin hörte vollends auf, als der Kantor von einem Augenleiden heimgesucht ward, die Frau nun, zwischen Schulzimmer und Küche getheilt, die Leitung des Ganzen übernahm und ein Sohn, der zugleich das Klemptnerhandwerk betrieb, für den Vater vicarirte. Das Lateinische wurde nur nebenher für solche Schüler, die es wünschten und die auch besonders dafür bezahlten, von einem Candidaten Namens Schwenzler höchst nachlässig gelehrt. Andere, Seele und Leib verderbende Stunden, als ich in dieser Unterrichtszeit in einem oft sehr frostigen Lokal verbracht habe, sind mir kaum erinnerlich.

Mein Vater überwand endlich den Respect, den meine Mutter vor dem Kantor aus kirchlicher Angewohnheit hatte, nahm mich aus der Schule heraus und brachte mich Ostern 1816 auf die Schule der Altstadt Magdeburg, welche damals unter dem Rector Neide und dem Prorector Werkner stand. Diese Schule würden wir heutzutage eine höhere Bürgerschule nennen. Sie bereitete vorzüglich für das praktische Leben vor, dem meine Eltern mich widmen wollten. Auf dieser Anstalt machte ich nun in der Geographie und Geschichte, im Deutschen, in der Mathematik und Physik große Fortschritte. Von den letzteren[73] Wissenschaften hatte ich noch so gut als gar keine Vorstellung gehabt, und ich mußte darin ganz von vorn anfangen. In der zweiten Klasse, die mit der ersten combinirt war, wurde den ganzen Donnerstag Nachmittag hindurch sogenannte praktische Stunde in einer sehr eigenthümlichen Weise abgehalten, die mich lebhaft interessirte und der ich für mein ganzes Leben Vieles schuldig geworden bin. Es wurde nämlich die Fiction zu Grunde gelegt, daß die ganze Klasse eine Gesellschaft bilde, die in mannichfachem praktischem Verkehr stände. Diese Gesellschaft wählte jeden Monat unter dem Protectorat des Lehrers, des zuvor schon genannten Prorectors Werkner, einen Vorstand, bestehend aus einem Ordner, der alle Papiere und Schreibmaterialien der Gesellschaft zu verwalten und ein Journal über alle Arbeiten zu führen hatte, aus einem Secretair, der ihm und dem Protector untergeben war, aus einem Cassirer und einem Rechnungsrevisor. Den übrigen Mitgiedern wurde eine imaginäre Verwaltung zugetheilt. So habe ich z.B. ein Haus in der grünen Armstraße in der Art administrirt, daß ich dasselbe vermiethete. Nun mußte ich die Vertäge entwerfen, mußte Reparaturen beantragen, die Abgaben entrichten und was sonst bei Leitung eines Hauswesens vorkommt in bestimmter Frist fungiren; bei einer Reparatur größerer Art, z.B. Anbau eines Holzgelasses, mußte ich die Zeichnung beifügen. Als ich dies gelernt hatte, wurde mir das fictive Landgut Wederingen zur Verwaltung übergeben, bei welchem ich eine Scheune bauen und einen Graben durch den von verschiedenen Holzarten bewachsenen Wald ziehen lassen mußte, von welcher Unternehmung ebenfalls die Pläne einzureichen waren. – Den Unterricht ertheilte der Prorector in der Art, daß er zu Anfang jeden Halbjahres in der Kunst unterwies, Briefcouverts zu schneiden, Briefe zu siegeln, Adressen zu schreiben, Rechnungen zu liniiren und auszufüllen, zu quittiren, zu dechargiren, Acten zu heften und zu signiren und an eine obere Behörde, die er repräsentierte, eine Vorstellung im üblichen Kanzleistyl einzureichen. Das Material: Papier, Zwirn, Sigellack, Heftnadeln, Wachs wurden aus einer gemeinschaftlichen Kasse bestritten, die wir durch monatliche Beiträge erhielten. Die Acten der Gesellschaft wurden vom Ordner förmlich registrirt. Wenn ein Schüler abging und da durch die Administration eines der fictiven Besitzthümer der Societät vacant wurde,[74] so trat durch Bestimmung des Prorectors oder durch Wahl ein Anderer an seine Stelle, der die Acten durchzusehen und zunächst Bericht über den vorgefundenen Zustand zu erstatten hatte.

Der Gedanke zu einer solchen Uebung mochte noch aus der Aufklärungsperiode des vorigen Jahrhunderts stammen. In der Ausführung war manches Spielende, manches Pedantische. Allein das Nützliche war nicht zu leugnen. Wie wichtig ist nicht dem Kleinbürger, dem Handwerker, dem Kaufmann, dem Gutsbesitzer die Fertigkeit in jenen formellen Thätigkeiten. Wie wichtig ist sie heutzutage nicht für jeden Andern? Ich darf versichern, daß wir Alle, mit einigen unverbesserlichen Ausnahmen, diese »praktischen Stunden« sehr gern hatten, daß ein munterer Geist in der Klasse herrschte, daß die Wichtigthuerei mit unsern Häusern und Capitalien ein komisch-dramatisches Leben hervorbrachte und daß wir uns besonders gespannt fühlten, wenn wir nach Ablauf von vier Wochen durch Stimmzettel unsern Vorstand wieder zu erwählen hatten. Der Realismus des Weltlaufs wurde von uns hier im Kleinen vorgebildet, und ich bin überzeugt, daß Viele, gleich mir, im späteren Leben dankbar auf jene Stunden zurückgeblickt haben.

Als ein Resultat dieser Uebungen kann man auch ansehen, daß ein Theil von uns eine Zeit lang im Sommer 1817 bei einem Feldmesser Namens Villaume Unterricht empfing. Es war ein freundlicher alter Mann mit seinem Sohne, die sich bei dem Prorector gemeldet hatten und ein billiges Honorar forderten. Uns Knaben war das Herumstreichen mit den Fähnchen, mit der Meßkette und Boussole schon recht. Der Alte hatte einen glücklichen Humor. Gelernt haben wir nicht viel; ich wenigstens nicht.

Alls wir die geometrischen Vorbegriffe überliefert erhalten hatten und mit den Handgriffen bekannt geworden waren, bestand unsere Hauptleistung darin, daß wir die Werderinsel aufnahmen, wo wir uns dann, wenn wir im Gedränge der Spaziergänger das Alignement vornahmen und die Meßkette weiterschleppten, recht bedeutend vorkamen. Eine sauber ausgeführte Zeichnung vom Werder – das letzte Resultat dieser Bemühung – habe ich noch lange unter meinen Papieren bewahrt gehabt, denn die Seite der Anschauung lag mir wohl nahe, aber das Rechnen gelang mir nicht; im Rechnen bin ich immer zurückgeblieben.[75] Ein Theil der Schuld fällt meinem Unfleiß, ein Mangel an Interesse für solche Art der Verstandsthätigkeit zu. Allein ein Theil der Schuld gehört auch wohl der schlechten Methode an, welche die einfachste Operation durch nebensächlichen Ausputz unzugänglich und verworren machte. Mein Vater war einer der vorzüglichsten Rechner; es wurmte ihn, daß ich so schwach darin blieb. Er wollte mich aufmuntern und schenkte mir daher ein schönes Rechenbuch in Quart, in welches er selbst ein köstliches Titelblatt mit den künstlichsten Schriftarten gemacht hatte. Auf dunklem Grunde hatte er seine Lieblingssprüche eingeschrieben: »Fürchte Gott, thue Recht, scheue Niemand, ehre den König!« Tief haben sich mir diese Worte eingeprägt, mit Ehrfurcht betrachtete ich das dicke Buch; die erste Seite brachte leidliche Rechnungen, weil sie leicht waren, aber bald erscholl über mich die alte Klage. In der ersten Klasse der Altstadt betrog ich gewöhnlich den Rector Neide, indem ich von einem Nachbar abschrieb, oder bewegte ihn durch meine Confusion zu solchem Mitleid, daß er sich zu mir setzte, die Aufgabe mit mir durchrechnete, viel Taback dabei verstreute und endlich, wenn er fertig war, mit der selbstbefriedigten Bemerkung aufstand, ich hätte es doch nun schon besser gemacht und es würde recht bald noch besser gehen. In der Prima war eine große schwarze Tafel aufgehängt, auf welcher mit rother und weißer Farbe die verschiedenen Städte zu oberst aufgeschrieben waren, die das Recht hatten, einen Cours zu machen; zur Linken waren alle wichtigen Geldsorten aufgeführt und in der Quere rubrikenweis die durchschnittlichen Differenzen der Aequivalente in den verschiedenen Städten. Wenn nun am Ende des Semesters aus der sogenannten Gesellschaftsrechnung zur Coursrechnung übergegangen wurde, so verfiel ich mit einigen Andern in einen völligen Unverstand. Einige Auserwählte, gewöhnlich Kinder aus kaufmännischen Häusern, fanden sich zu unserem Erstaunen zurecht, beschäftigten und befriedigten den Rector, während wir Uebrigen die ärgsten Allotria's trieben. Manche Städte haben von diesen Courstafeln her eine finstere Physiognomie für mich gehabt, z.B. das freundliche, so schön gelegene Botzen, dem früher auch das Recht zustand, einen Cours zu machen. Der Hauptfehler bei der Methode, der mir das Rechnen so unendlich erschwerte, scheint mir der gewesen zu sein, daß man, die vier Species[76] ausgenommen, von der Regeldetri ab, Alles in benannten Zahlen rechnen ließ, weil man glaubte, daß dadurch eine frischere Theilnahme und für das Leben eine große erleichternde Vorbildung gegeben werde. Es sind aber diese Specificationen sehr gleichgültig. Sie ändern nichts an der Zahl und können in der Wirklichkeit doch nicht gerade so wieder vorkommen, als das Exempel sie angiebt. Für ein Kind von lebhafter Phantasie, wie ich mich wohl bezeichnen darf, wurde durch die concrete Benennung der Zahlen der Antheil an diesen Gegenständen rege gemacht und die Richtung auf das Abstracte vermindert, während die Operation an sich gegen das Concrete völlig indifferent ist, denn ob ich sage: Wenn drei Birnen sechs Pfennige kosten, was kosten siebzehn? oder ob ich statt Birnen Aepfel, Pflaumen u. dgl. setze, ändert an der arithmetischen Bestimmtheit nichts, die auf der 3 und 6 und 17 beruht. Namentlich aber bei der sogenannten Gesellschaftsrechnung verwirrte ich mich immer durch ein dramatisches Ausmalen des Projectes. Wenn es z.B. hieß, daß zwei Kaufleute gemeinschaftlich ein Schiff befrachten wollten, der eine aber nur mit so und so viel von dieser, der andere mit so und so viel von einer andern Waare, womit verschiedene Raum- und Gewichtverhältnisse gegeben waren, so beschäftigte mich sofort wohl die Vorstellung der beiden Kaufleute des Schiffes und der verschiedenen Waare, aber das Interesse hieran ließ das an den Zahlen zurücktreten. Die Bestimmtheit von Gewicht, Maaß und Münze wurde nur gelegentlich ohne alle Erklärung angegeben, so daß sie unendlich oft wiederholt werden mußte, statt daß eine Erläuterung und eine in der Klasse befestigte Tabelle das Verfahren sehr gefördert hätte. So habe ich z.B. Jahre lang mit Schiffs- und Liespfunden mich umhergeschlagen, ohne einen rechten Begriff davon zu haben.

Desto mehr Sinn hatte ich ursprünglich für alle Raumverhältnisse, und ich machte in der Altstadt große Fortschritte in ihrer Auffassung, bis ich nach der ersten Klasse kam. Auf der zweiten nämlich trug der Prorector für diese allein eine Art praktischer Stereometrie vor, an welche sich Physik und Mechanik anschloß. Der Vortrag befolgte eine genaue Ordnung, war aber nur beschreibend, nicht beweisend, und wurde von Experimenten und Modellen unterstützt. Ich arbeitete das sauberste Heft aus, wiewohl sehr spielerisch. Ich colorirte z.B. die Raumfigurationen,[77] ich unterließ nicht, bei der Dampfmaschine den kupfernen Kessel roth, den einen seiner Kolben schwarz, das Wasser blau und den Dampf grau zu malen u.s.w. So sehr dies nun überflüssig war, so verband sich doch bei mir ein wirkliches Interesse an der Sache damit, und wie hoch ist es nicht anzuschlagen, wenn ein solches nur überhaupt erst erregt wird. In einem Anhang zur Mechanik wurden auch die Grundsätze der bürgerlichen Baukunst vorgetragen, an welche sich noch als höchster Ausläufer die Fortificationskunst anschloß. Ich kann mich von diesem Unterricht nur erinnern, daß er mir der Zeichnungen halber viel Vergnügen machte, z.B. das Balkendach, das Tonnen-und Spitzbogengewölbe, die Säulenordnung, die Zeichen für Brückenkopf, spanische Reiter u. dgl. zu erlernen. Wie es möglich gewesen, in zwei Jahren, die ich auf der Schule zubrachte, von Combinationen einfacher Punkte und Linien, mit denen ich den Unterricht nach Pestalozzi'scher Methode noch empfangen mußte, bis zu solchen Anschauungen fortzuschreiten, ist mir gegenwärtig unbegreiflich, und ich kann mir diese Thatsache nur dadurch erklären, daß das Zeichnen eben die Hauptsache war, auf welche der Prorector hielt, denn auch in der Geographie beschäftigte er uns vorzugsweise mit Kartenzeichnen.

Von dem übrigen Unterricht wirkte besonders der eines Lehrers Schulze im Deutschen, der eines Lehrers Vocke in der Geschichte auf mich ein. Dieser Letztere, der erst anzog, trug uns die griechische Geschichte vom Homerischen Zeitalter bis zu Alexanders Feldzuge hin mit Begeisterung vor und hinterließ bei uns einen großen, unvergeßlichen Eindruck.

Wenn ich nun durch solche Anregungen viel gewann, so wurde ich durch einen andern Unterricht sehr verderbt, durch den französischen. In diesem war ich mit noch einem Knaben, der mit mir die wallonische Kantorschule besucht hatte und mit mir von ihr ausgeschieden war, den Schülern der Altstadt überlegen. Obwohl wir in den Realien niedrigeren Klassen zugewiesen werden mußten, so erzeigte man uns doch die Ehre, uns im Französischen der ersten zu würdigen, in welcher wir sogar, da viele Schüler, wie auch auf unsern heutigen Bürgerschulen, nur bis zur Secunda überhaupt die Schule frequentirten, ein Jahr hindurch ganz allein saßen. Diese Sonderstellung wirkte auf mich sehr[78] übel ein, denn sie nährte bei mir einen Dünkel. Ich bildete mir insgeheim doch etwas darauf ein, in der Mathematik, Geschichte u.s.w. zwar noch zurück, im Französischen dagegen bereits so weit voraus zu sein. Die Folge war, daß ich im Französischen träge wurde und zurückkam, indem ich mir einbildete, schon genug und übergenug darin zu wissen. Aber es waren mit diesem Unterricht noch viel schlimmere Umstände verbunden. Der Lehrer, der in der ersten Klasse den Unterricht ertheilte, Illiger, war ein echter Franzose, persönlich liebenswürdig, elegant im Anzuge, galant im Betragen – ein Lebemann, der die Abende in Gesellschaft, beim Kartenspiel u.s.w. verlebte und Morgens gern lange schlief. Da ich nun mit jenem andern Knaben ein Jahr hindurch ganz allein den Unterricht bei ihm hatte, der viermal in der Woche Morgens auf die zweite Stunde, im Sommer also um acht Uhr fiel, so machte er es sich bequem, kam nicht in die Klasse, sondern beorderte uns einfür allemal auf sein Zimmer. Wenn wir aber kamen, so war er oft noch gar nicht aufgestanden. Die Haushälterin ließ uns dann in ein Vorderzimmer ein, worin er seine große, aber unordentlich gehaltene Bibliothek hatte, in der sich fast alle Schriften der französischen Epikuräischen Literatur fanden. In dieser blätterten wir nun oft, besahen uns die frivolen Kupferstiche, wunderten uns über die Titel, oder wir gingen auch wohl noch wieder herunter und trieben uns in dem großen Gehöft, in allen Gängen und Küchen umher, die im Untergeschoß unbenutzt offen standen, bis es uns endlich gefiel, zu unserem Franzosen hinaufzugehen. Er selbst benutzte nun die Stunde mehr zu seiner Unterhaltung, als zu unserer Belehrung und las mit uns cursorisch erst die meisten der Molière'schen Lustspiele, sodann Mercier's Tableau de Paris. Molière's Werke gefielen mir ungemein und ich schaffte sie mir selbst an; von Mercier hatte er ein doppeltes Exemplar, von dem er uns das eine vorlegte, während er am Fenster uns mit dem andern folgte. Wenn uns nun auch die detaillirte Beschreibung von Paris ganz interessant war, so verstanden wir doch nicht nur Vieles davon noch gar nicht, oder – was noch schlimmer – ganz schief, sondern ich brauche wohl auch gar nicht erst zu sagen, daß eine solche Lectüre für einen zwölfjährigen Knaben durchaus unangemessen war. Als späterhin noch einige andere Schüler hinzukamen, gab er diese Lectüre auf[79] und fiel in einen andern Schlendrian, indem er uns etwas dictirte und in der Stunde übersetzen ließ, währenddessen er in einem Roman las und sich nicht das Geringste um uns kümmerte. Zu den öffentlichen Prüfungen wurden wir dann unmittelbar zuvor etwas schärfer zugerüstet. O wie viel Schlaffheit und Wüstheit ging aus jenen Stunden bei uns hervor! Wir vergeudeten die edle Zeit mit lauter Nichtswürdigkeiten, und wenn ich auch einen inneren Widerwillen gegen die systematische Faulheit und gegen die ungesalzenen und cynischen Späße hatte, so weiß man doch, wie sehr in einer Klasse der Einzelne von dem Geist oder Ungeist der Gesammtheit afficirt wird; Jahre hindurch müssen wir dann später, wenn wir zu besserer Erkenntniß und reinerem Willen gelangen, daran arbeiten, die Nachwirkungen solcher frühen Verdumpfungen auszurotten.

Da ich mit diesen Confessionen die Entwickelung eines Lebens darlegen will, welches durch die verschiedensten Irrnisse und Versuche hat hindurchgehen müssen, sein eigentliches Ziel zu finden, so kann ich mir nicht ersparen, sie zu einer biographischen Kritik vieler unserer pädagogischen Einrichtungen zu machen. So rechne ich denn nach meiner Erfahrung zu den demoralisirenden Elementen größerer Anstalten auch den gemeinschaftlichen Schulgottesdienst vor Anfang der Stunden und die Schreibstunden, wenn sie nicht von einem Klassenlehrer, sondern von einem eigens dazu angestellten Lehrer ertheilt werden.

Es hört sich ganz vortrefflich an, wenn gesagt wird, daß die Schüler vor dem Unterricht sich mit Gesang und Gebet gemeinsam zu Gott erheben und daß sie hierdurch sich für das Tagewerk des Lernens gleichsam die Weihe geben. Allein mit diesem Vorhaben vergleiche man die Ausführung, wie sie unvermeidlich ausfällt. Der wahre Zweck der Schule ist das Lehren und Lernen. Für die Andacht existirt einmal bei uns auch eine Institution, die sich dieselbe zu ihrem besondern Zweck macht, die Kirche. Der Schüler geht des Morgens von Hause weg mit dem Ueberdenken seiner Lectionen, seiner Präparationen, mit der Erwartung, wie er wohl bestehen werde. Manches ist noch nicht recht befestigt und er benutzt noch jeden Augenblick, Vocabeln zu überlesen, Städtenamen sich einzuprägen, ein Exercitium, das er abgeben soll, noch einmal zu übersehen, wegen der neuen Pensa sich noch genauer[80] zu erkundigen u.s.w. Diese Sorgen erfüllen sein Bewußtsein. Nun soll er aber, statt an die Sache zu kommen, singen und beten. Er thut es, weil er muß, aber er ist zerstreut. Sein Herz ist nicht recht dabei; selbst wenn er an sich nicht unfrommen Sinnes ist. Da wird denn ohne rechte Sammlung und Vertiefung der Schulgottesdienst abgemacht. Glücklich genug, wenn nicht der Vortrag des Gebets durch die Lehrer Anlaß zu Spöttereien giebt. Glücklich genug, wenn nicht statt des Gesangbuchs Grammatik und Lehrbuch vor den Augen sind! Glücklich genug, wenn nicht das Zusammensein der verschiedenen Klassen in einem gewöhnlich sehr beschränkten Raume Anlaß zu Reibungen giebt! Ich spreche hier nicht nur meine Erfahrung, sondern die Erfahrung aller Schüler aus, die ich über diesen Punkt gesprochen habe. Ich erinnere mich Niemandes, der nicht ähnlich geurtheilt hätte. Die Frömmigkeit auch der Schüler ist gewiß eine vortreffliche Sache, aber man muß sie am rechten Ort und zur rechten Zeit cultiviren. Die Kirche müßte in ihrem Interesse besonders darauf hinwirken, den Gottesdienst nicht entwerthen zu lassen. Sie hat eine besondere Zeit, den Sonntag, einen besonderen Ort, den Tempel, für den Cultus. Wenn nun der Schüler aber jeden Morgen schon einen »Gottesdienst« die Woche über in der Schule gefeiert hat, so wird er am Sonntag Morgen sich oft, wenn die Kirchenglocken ihn rufen, das Zuhausebleiben damit beschönigen, daß er ja in der Schule schon genug gesungen und gebetet habe, während im andern Falle der sonntägliche Cultus einen Reiz für ihn haben müßte, der nicht durch die peinlichen Sorgen für die irregulären Verba oder die asiatischen Gebirge oder der Congruenz der Dreiecke gestört würde. Ich halte diesen Morgengottesdienst nach dem, was ich auf der Altstadt und sechs Jahre hindurch auf dem Pädagogium in Magdeburg beobachtet habe, nicht nur für überflüssig, sondern auch sowohl für die Religion, als für die Disciplin schädlich. Auf dem Pädagogium verzehrte ein großer Theil der Schüler in dem weitläufigen Saal das Frühstück während des Gebets und Gesangs. In England ist es selbst in Oxford und Cambridge unter den Studenten auch so.

Eine ähnliche Auflockerung der Disciplin bringen die Schreibstunden hervor, wenn sie nicht von dem Klassenlehrer ertheilt werden. Das Schreiben ist eines der wichtigsten Bildungsmittel und eines der[81] einfachsten. Ist es aber nicht fabelhaft, wie viel Zeit die Jugend damit hinbringt, um nach Jahre langem Papierverderben endlich doch nur im Durchschnitt eine sehr mittelmäßige Hand davonzutragen? Man summire einmal von jeder Woche nur zwei Schreibstunden, so macht das in einem Jahr über hundert, in zehn Jahren über tausend Stunden. Die Leichtigkeit, schreiben zu lernen, zeigt sich thatsächlich bei uns darin, daß wir Griechisch und Hebräisch auf den Schulen ohne allen besonderen Unterricht darin oft ganz erträglich gut und rasch schreiben lernen. Mit dem Deutsch- und Lateinisch-Schreiben aber geht unsägliche Zeit verloren, weil kein Ernst dahinter ist, und der Ernst fehlt, weil der Lehrer gewöhnlich mit der Anstalt nicht enger verbunden ist und daher der Autorität ermangelt. Da wird denn an den Buchstaben gemalt, gekritzelt; da wird radirt, da werden Caricaturen auf den Löschblättern gezeichnet, Zettelchen einander zugeschoben, Federn verschnitten, geplaudert, der Lehrer gehänselt. So war es auch auf der Altstadt, wo der Schreibunterricht alle Klassen in einen großen Saal versammelte, zu welchem noch die Thür nach der Prima geöffnet ward. Der Schreiblehrer war ein gutmüthiger Mann, der eine schöne Hand schrieb, aber die Massen nicht bewältigen konnte, die einen systematischen Unfug organisirten. Von Zeit zu Zeit, wenn die Noth zu groß geworden war, erschien dann der Rector, um es natürlich in seiner Gegenwart mäuschenstill zu finden.

Im Gesangunterricht erging es mir schlecht. Auch in ihm waren alle Klassen combinirt. Ein Positiv, das auch bei dem Morgengottesdienst gespielt ward, half den Gesang leiten. Schon bei den Scalaübungen entdeckte sich, daß von der Bank aus, auf welcher ich saß, immer falsche Töne erklangen. Bald ermittelte es sich auch, daß ich sie hervorbrachte. Der Lehrer, Reyher, ein sehr würdiger Mann, hoffte eine Weile auf Besserung. Umsonst. Da ich nun etwas Clavier spielen gelernt hatte, wollte er mich dadurch beschäftigen, daß ich mich an die Orgel setzte und Scala und Accorde spielen mußte. Das ging jedoch auch nur so lange, als die Accorde einfach waren. Als schwierigere Tonsätze anfingen, versagte meine geringe Geschicklichkeit. Nun wurde ich verurtheilt, die Bälge der Orgel zu treten. Ich that es, allein nicht ohne großen Widerwillen. Bis dahin hatten wir Schüler in[82] diesem Bedientengeschäft gewechselt. Nun wurde ich aber gleichsam der Diener der ganzen Klasse und mußte mich von den andern Schülern darob hänseln lassen. Das verdroß mich. Ich klagte es meinem Vater, der durch eine Rücksprache mit dem Lehrer mich nunmehr von der Theilnahme an dem Gesangunterricht gänzlich entbinden ließ. Da derselbe die letzte Stunde am Mittwoch und Sonnabend Vormittag einnahm, so konnte dies ohne alle sonstige Störung geschehen und ich gewann für mich zwei schöne Mußestunden.

Als ich einst Vorstand der zweiten Klasse in der praktischen Stunde war, kletterte mein Vetter Pietge und ein Schüler Rohde eines schönen Sommertags zum Fenster auf das Dach eines unterhalb vorspringenden Gebäudes hinaus. Ich hätte dies nicht leiden sollen. Zufällig kam der Rector unten durch, erblickte die beiden Kletterer in den gefährlichsten Lagen, die ihnen die köstlichste Aufregung gewährten, schalt sie, zwang sie zur Rückkehr durch das Fenster, ging aber auch sogleich zum Prorector, über den Unfug in seiner Klasse zu klagen. Es gab nun eine heftige Scene, in welcher ich derb von ihm heruntergescholten wurde.

Ich fühlte mich tief beschämt.

Die Schule hatte einen großen Hof. Links lief das Klassengebäude; rechts waren unterhalb einige neue Klassen errichtet; oben wohnten die Lehrer Schulze und Illiger; geradezu war das Haus, in welchem der Prorector wohnte und der Durchgang zur Wohnung des Rectors, die auch einen schönen Garten besaß; gegenüber war der Flügel der städtischen Armenschule, die sehr zahlreich war und für welche der erste Hof, gleich nachdem man durch den Thorweg getreten, als Spielplatz dienen sollte.

Es gab zwischen beiden Schulen ewige Reibereien, aber auch die verschiedenen Klassen lebten in ewigem Kampf, der zu endlosen Prügeleien führte.

Ich verwilderte von neuem in Gesellschaft von Knaben, die meist den unteren und mittleren Schichten der bürgerlichen Gesellschaft entstammten.

Eine liebliche Erscheinung war Luise Neide, die älteste Tochter unseres Rectors, wenn sie, ein kleines Mädchen, mit ihrem Körbchen durch uns tobende Knabenmassen zur Schule ging.[83]

Eine große Aufregung entstand in der Stadt durch die Feier des Reformationsfestes, das mit dem höchsten protestantischen Pathos gefeiert ward.

Ich war ganz außer mir über die Feier des Abendmahls in der Johanniskirche, als hier alle lutherischen und reformirten Prediger zusammen dasselbe in beiderlei Riten genossen.

Im Saal der Stadtschule declamirte ich die eine Hälfte der Cramer'schen Riesenode auf Luther; Borchard, einer meiner Mitschüler, die andere. Welche Abgeschmacktheit!

Hier sah ich meinen Namen zum ersten Male auf dem Programm des Festactes gedruckt.

Meine Eltern waren Ostern 1817 vom goldenen A nach dem Katzensprunge in das Haus des Tuchhändlers Defoy gezogen.

Wir Kinder verloren damit unendlich viel Freiheit. Dagegen rückten wir dem städtischen Treiben näher, weil wir dicht am Markt wohnten.

Unser Wirth hatte viele Kinder, denen ich an Alter und Einsicht überlegen war und mit denen ich mich überviel abgab; ihnen vorspiegelte, daß ich zu zaubern vermöchte, deshalb öfter einen Theil meines Frühstücks opferte, indem ich es in einer alten Waschküche bald hier, bald dort versteckte, um es von Louis oder Pauline, Marie u.s.w. finden zu lassen.

Ich hackte das Holz zu sogenannten Calfactoren klein; ich klopfte meine Kleider selbst aus; ich putzte meine Schuhe – bis zu meiner Einsegnung. Immer werde ich meinen Eltern dafür dankbar sein, denn ich habe gelernt, mich selbst zu bedienen.

Auf demselben Flur mit uns wohnte lange Zeit eine Familie Botzon, eine Wittwe mit einem Sohn und einer Tochter. Ihr Mann hatte dem Kaufmannsstande angehört, dem sich auch der Sohn Louis widmete. Die Tochter Amalia zeichnete und malte recht hübsch. Ich malte Sonntags mit ihr zusammen Blumen, Lichtschirme u. dgl.

Es waren sehr gebildete, treffliche Menschen, die auch einen Vorrath guter Bücher besaßen, namentlich auch ethnographische Bildergallerien.

Sie zogen später fort in eine andere Straße. Wir blieben aber im Verkehr, bis die Mutter starb und die Tochter sich verheirathete.[84]

Sie erbten einst den Nachlaß eines Geistlichen, Namens Weise aus Zerbst, unter demselben befand sich auch eine Bibliothek, die versteigert werden sollte. Ich machte, etwa 1822, den Katalog derselben und erbat mir als Geschenk dafür Jablonski's Lexikon der Wissenschaften und Künste.

Ich lernte hierbei recht viele Bücher kennen. Der Katalog war das Erste, was von mir gedruckt wurde.

Louis ist später in Danzig Buchhändler geworden und ich habe seinen Sohn, einen Philologen, hier geprüft.

In die von der Familie Botzon verlassene Wohnung zog ein Buchhalter Pfeffer ein, der in seinen Mußestunden unermüdlich im Waldhornblasen war und häufig Sonntags Quartette gab, bei denen er auch den Wein und die Austern nicht sparte.

Durch die Verlegung unserer Wohnung von der hohen Pforte nach dem Mittelpunkt der Stadt war ich dem Umgange mit vielen meiner früheren Spielgenossen entrückt, die sich auf dem Kirchhofe der Jakobikirche zusammengefunden hatten. Nur mit Eduard Buschmann, dem Sohne eines Töpfers, wurde, wie sich bald zeigen wird, das Verhältniß sogar ein lebhafteres.

Nanni Lhermet blieb nach wie vor das höchste Ideal weiblicher Schönheit, Würde und Anmuth für mich, und wenn ich ihr einmal wieder begegnete, war ich überglücklich.

Man berathschlagte nunmehr, ob ich nicht zum Studiren tauge und brachte mich daher Ostern 1818 nach dem Pädagogium Kloster Lieben Frauen, in das ich als Stadtschüler aufgenommen ward und zunächst nach Oberquinta unter dem strengen Lehrer Nebelung kam.

Der Rector der Anstalt war damals Stoephasius, der einige Zeit darauf einen Ruf nach Posen annahm.

Ihm folgte der Rector Solbrig aus Langensalza, ein sehr gelehrter, redlicher Mann, aber von den sonderbarsten Manieren, die ihn vorzüglich in seinem Jähzorn lächerlich werden ließen, so daß fast das ganze Kloster ihn copirte.

Der Prorector Valet, der Procurator Mayer, die Lehrer Koch und Wilke waren schon ältere Herren.

Die jüngeren Lehrer Brederlow, Münchhof, Reuscher u.A. wechselten[85] rasch, weil das Kloster viele Pfarrstellen zu vergeben hatte, die zu seinem Patronat gehörten.

Es war überhaupt eine reich ausgestattete Anstalt, deren Alumnat mit fast englischem Comfort im Essen und Trinken gehalten wurde, weshalb hier die Söhne reicher Edelleute, die Herren v. Alvensleben, v. Schulenburg, v. Bismarck, v. Zerbst, die Söhne höherer Beamten und Rentiers zusammenströmten. Der Procurator, als Physiker, war auch der Culinarius.

Dem Ganzen stand ein Probst vor, Dr. Röttger, der ein stattliches Haus bewohnte, in dessen Hof wir von den Fenstern der Prima hineinschauen konnten. Er war ein großer Mann von imposanten Manieren und einer für uns Schüler hohen Beredsamkeit. Wenn er in das Kloster kam und Einen von uns anredete, so erbebte man wie vor einem Gotte, namentlich aber, wenn er bei der öffentlichen Vorlesung der halbjährigen Schlußcensuren Jemand vorrief und ihm einen besonderen Tadel, zuweilen auch ein besonderes Lob zuertheilte.

Er war an eine würdige Dame verheirathet und hatte einen Sohn, der Landwirth war und sich als Physiker einen Namen gemacht hat, weil er zuerst den Newton'schen Principien entgegentrat. Herr von Drieberg schloß sich ihm an.

Interessanter war den Primanern das hübsche Kammermädchen Suschen, welches drüben in einem Hinterzimmer der Frau Pröbstin nähete. –

Im Sommer machte das Kloster einen ganzen Tag hindurch einen Ausflug nach einem ihm gehörigen Walde, die Kreuzhorst; im Winter gab es einen splendiden Ball, bei dem auch der Champagner nicht fehlte.

Ich rückte nun ordnungsmäßig von Klasse zu Klasse. In der Quarta hatte Brederlow das Latein. Er lebte später in Halberstadt und hat auch Vorträge über die deutsche Literaturgeschichte drucken lassen. Er war heftig, allein ein vorzüglicher Lehrer.

Weil ich einmal das Perfectum sustuli von Sustulere herleiten wollte, bekam ich diesen selbstfabricirten Infinitiv als Beinamen und verlor ihn erst in Secunda.

Während ich in Quarta saß, wurde Strebe als Lehrer angestellt. Er war als Cavallerist freiwillig mit in den Krieg gezogen, hatte sich[86] das eiserne Kreuz verdient, seine Studien erst später absolvirt und ward von dem größten Wissenseifer getrieben. Dieser Mann, dessen Gemüth eines der tiefsten und reinsten war, hat auf mich einen großen Einfluß geübt.

Er gab den Unterricht in der Religion in Quarta und erklärte uns den Katechismus des Quedlinburger Superintendenten Ziegenbein. Er faßte eine Vorliebe für mich, die ich ihm erwiderte bis zu seinem Tode. Er war lange Pfarrer und Superintendent zu Barleben bei Magdeburg. Ich »war und blieb« sein kleiner Rosenkranz.

In Tertia war Valet Klassenlehrer. Er hatte hier das Französische, worin ich außerordentlich zurückkam. Das Deutsch hatte Reuscher, ein humoristischer Mann, der es gern hatte, wenn wir seine Witze belachten, was wir mit einer systematischen Organisation ausführten. Einst hatte er das Thema gestellt: »Ein Spaziergang in die Unterwelt.« Ich hatte das tollste Zeug geschrieben. Er gab Proben meiner schriftstellerischen Delirien. Die Klasse wieherte vor Wonne. Er schloß sein Urtheil über meine Arbeit mit den Worten: »Dies ist der schlechteste rhetorische Eierkuchen, den Rosenkranz geliefert hat!«

In diesen deutschen Stunden hatte ich, da wir darin nicht certirten, einen beständigen Nachbar, v. Schulenburg, der mich heimlich furchtbar mißhandelte, mich kniff, stach, kitzelte. Da er doppelt so stark war, als ich, so hatte ich ein wahres Martyrium zu bestehen.

Während ich durch Quarta und Tertia hindurchging, gab es mancherlei Nebenbeschäftigung und Zerstreuung.

Da ich im Lateinischen zurück war, so erhielt ich zusammen mit meinen drei Vettern, Carl, Wilhelm und Gottlieb Hüttmann, Privatunterricht darin, Mittwoch und Sonnabend Nachmittag bei dem zweiten Prediger unserer wallonischen Kirche, Salzmann, der ein phlegmatischer, aber sehr unterrichteter und denkender Mann war. Er blieb während zweier Jahre mein Berather auch in anderen Arbeiten, wo es auf Begriffsbestimmungen ankam und lieh mir manche Bücher aus der theologischen Moral. Er war Wittwer mit mehreren unerzogenen Kindern, denen die älteste selbst noch unerwachsene Tochter schon ein seltener Vorstand war. In jovialer Laune genirte er sich nicht, zuweilen nach den Stunden auf seinem Hofe mit uns im Schlafrock zu[87] rappiren, was ihn in seine glücklichen Studentenzeiten zurückversetzte. Ueber seinen Collegen, den Prediger Remy, übte er eine scharfe, leider begründete Kritik.

Diese raubte mir jedoch alle Ehrfurcht vor demselben.

Remy war ein sehr gewandter Redner, ein Mann von weltmännischen Formen, der meine Mutter ganz für sich eingenommen hatte, indem er ihr zeitweise einen Besuch machte, wobei nie verfehlt ward, ihn mit Kuchen und Wein zu bewirthen. Da nun meine Schwester bei Salzmann eingesegnet war, so wurde ich, nach dem Princip der distributiven Gerechtigkeit, bei Remy eingesegnet.

Der Unterricht wurde von ihm in einer Stube unseres Waisenhauses gegeben, das unter dem Waisenvater Legromme, später unter Souchon stand. Der Unterricht war ein ganz trockener im Sinne des rationalistischen Deismus. Vor der Stunde prügelten wir Knaben uns gewöhnlich und ich erhielt durch einen Wurf auf eine scharfe Stuhlkante eine nicht unerhebliche Verletzung an der linken Brust, von der ich noch die Narbe trage.

Uebrigens galt ich als der beste Schüler und meine schöne Cousine, Caroline Seiffert, als die beste Schülerin. Wir bestanden die Prüfung vor dem Consistorium und der Gemeinde zur Zufriedenheit.

Als nun der Tag der Einsegnung kam, rüstete sich meine selige Mutter mit zwei Taschentüchern, weil sie glaubte, unendlich viel weinen zu müssen. Aber selbst sie blieb ungerührt. Ich war nicht blos nicht gerührt, sondern empört, als ich mich vor diesem Schurken hinknieen mußte, seinen Segen zu empfangen und er mir die Hand auf das Haupt legte. Ich wußte schon, daß er sich in der Kameelstraße eine Maitresse aushielt, daß er, als Freimaurer, die Verwaltung der Wittwenkasse derselben in seiner Eigenschaft als Meister vom Stuhl Jahre lang betrogen hatte u.s.w. Bald darauf wurde er denn auch von der Loge ausgeschlossen und seiner Stelle als Prediger mit einer kleinen Pension, die man ihm ließ, entsetzt.

Er hatte eine unverwüstliche Lebenskraft bis in das höchste Alter. Als ich im Herbst 1826 mit Genthe nach Neuhaldensleben ritt, begegnete er uns als Fußgänger in grüner Blouse und weißem Filzhut ganz wohlgemuth desselben Weges. Es sind von Magdeburg bis dahin[88] über drei Meilen. Zufällig aßen wir in der Steingutfabrik bei seinem Schwiegersohn, mit dem Genthe bekannt war, zusammen Mittag und er sprudelte beim Wein von frivolen Anekdoten.

Eine andere Beschäftigung folgte dem Latein, das Zeichnen und Malen. Leider erhielt ich auch in ihm, wie in dem Clavierspiel, das immer noch fortgesetzt ward, einen schlechten Unterricht, weil er wohlfeil war. Ich hatte die höchste Lust am Zeichnen, aber in der Zeichenschule eines Herrn Albert, dem Sohne eines Schneiders, der sich einen Ruf zu machen gewußt hatte, fehlte es an tüchtigen Vorlagen. Ich kam eigentlich nur dazu, Landschaften tuschen zu lernen, aber dies war für mich schon ein ganz entzückender Genuß. Gegenden vom Harz und von der sächsischen Schweiz, wie der Plauensche Grund, der Lilienstein, Dresden von der Bautzener Straße u.s.w. waren meine Lieblinge. Mit einem Nachbarssohn, Kühne, der selbst Maler wurde, jedoch früh in Berlin starb, malte ich um die Wette.

Ein Stück Tusche, Berliner Blau, ein Kreidestift, ein Blatt schönen Papiers bezauberten mich. Ich werde nie den Augenblick vergessen, als ich einst mit meiner Schwester auf der Michaelismesse mir ein großes Stück schwarzer Tusche gekauft hatte und mit ihr auf dem Fürstenwall auf einer Bank saß, die chinesischen blauen und goldenen Charaktere anzustaunen und schon alle Wunder zu ahnen, die mir dadurch möglich wurden.

Sehr viel malte ich auch für ein Puppentheater, das ich in seiner technischen Einrichtung zu großer Vollkommenheit brachte, ohne eigentlich, wie ich schon oben bemerkte, jemals ein Stück darauf aufzuführen. Ich malte Landschaften, Wälder, Paläste, Kirchen, Prachtsäle, Einsiedlerhütten und zahlreiche Figuren, vorzüglich aus der Ritterwelt.

Eine andere Liebhaberei war das Sammeln von Mineralien und Conchylien. Letztere lagen mir vorzüglich am Herzen. Ihre interessanten, oft schönen Formen, Farben und Zeichnungen entzückten mich. Ich sparte mir von meinem Taschengelde ab, Admirale, Perspectivschnecken, Teufelskrallen u.s.w. zusammenzukaufen; ich klebte blaue Kästchen, in welche ich die Exemplare mit einem Zettelchen legte, das ihren Namen enthielt, ich ordnete sie in einem großen Kasten, den ich aus starker Pappe fertigte; ich studirte Hellmuth's Naturgeschichte, zur Gewißheit[89] zu gelangen, welche Schätze ich besäße. Vier bis fünf Jahre betrieb ich die Sammlung, bis ich sie eines Tags in einer Anwandlung fürstlicher Laune dem jüngern Kersten schenkte, der gerade periodisch mein Liebling war.

Unter meinen Mineralien prangten viele, die ich aus den Geschieben der Elbe und von den Solenschen Bergen bei Salze heimbrachte. Hier fand ich auch Versteinerungen.

Aber ein wissenschaftliches Verständniß ging aus diesen Sammlungen nicht hervor.

Das Büchersammeln fing an, das Interesse für die Naturalien zu schwächen.

Ein Buchbinder Curtius, der bei unserm Nachbar Kühne eingezogen war, wußte uns Knaben den Geschmack an schönen Einbänden einzuflößen und diese Eitelkeit vereinte sich mit der Begierde nach Büchern.

Sehr erbärmliche Ausgaben der römischen Classiker, sehr inhaltlose popularphilosophische Schriften, die ich vom Trödel oder auf Auctionen zusammenkaufte, wurden über Gebühr, öfter ohne Noth, schön eingebunden und ich weidete mich am Anblick meines glänzenden Bücherrücks.

Eine höhere Anregung verdankte ich der Wittwe des Hutmachers Favereau nebst ihren Töchtern Heinriette und Auguste. Sie waren von Berlin nach Magdeburg gezogen und kauften sich ein Haus in der Jakobsstraße unweit der hohen Pforte. Heinriette hatte in Berlin eine kleine Mädchenschule gehalten. Sie war sehr gebildet und besaß eine auserlesene Bibliothek. Wie oft habe ich von ihr Bände des Conversationslexikons entlehnt, das damals noch eine Seltenheit war! Wie oft eine Ausgabe der Schiller'schen Gedichte in zwei Bänden, die ich noch nie gesehen hatte! Ich konnte mich besonders an den Gedichten, welche das Hellenenthum feiern, nicht satt lesen, obwohl ich sie erst unvollkommen verstand. Eine Sammlung schöner mythologischer Figuren in guten Kupferstichen, welche ebenfalls in der Favreau'schen Bibliothek sich vorfand, steigerte meine Phantasie für den Kreis des griechischen Idealismus.[90]

Wie glücklich bin ich doch in der Stube gewesen, wo diese Bücher standen.

Favereau's hatten einen weißen Pudel. Um ihm Bewegung zu machen und ihn zu baden, gingen wir vier, Heinriette, Auguste, meine Schwester und ich, Sommers oft gegen Abend vor der hohen Pforte nach dem Elbufer, indem wir uns zugleich dem Genuß der Natur mit fröhlicher Laune überließen. Es war das unschuldigste, heiterste Vergnügen. Zuweilen sprachen wir auch auf der Holzstrecke ein, die Vetter Schwarzkopf hier am Wege wieder errichtet hatte.

Die Mutter Favreau starb nach einigen Jahren. Bald darauf folgte Heinriette. Auguste zog zu einer alten Tante Vatier auf der Werderinsel, die dort ein Haus und einen großen Garten besaß. Hier bin ich auch oft mit meiner Schwester gewesen. Auguste blieb uns immer freundlich gesinnt und fütterte uns stets mit den schönsten Kirschen, Pflaumen, Birnen, Aepfeln und Weintrauben. Nach dem Tode der Tante blieb sie wohnen, ward aber sehr melancholisch und kränklich, so daß sie auch nach einigen Jahren starb.

Den Bruder dieser trefflichen Mädchen, den Vetter Pierre, einen tüchtigen Ingenieuroffizier, der lange in Schlesien und am Rhein stand und öfter zum Besuch kam, habe ich im Herbst 1859 zufällig in Dresden in der Stadt Paris, wo ich logirte, mit seiner Familie getroffen. Er wohnte in Magdeburg.

Eine Phrase höchst eigenthümlicher Schwärmerei sollte ich mit Eduard Buschmann durchleben.

Wir hatten immer einen gewissen Verkehr von früher her unterhalten.

Als nun der Freiheitskampf der Hellenen ausbrach, begeisterten wir uns leidenschaftlich für denselben.

Die Namen Marko Bozzaris, Ypsilanti, Odysseus; die Schlachten, welche diese Helden kämpfen, wurden von uns besungen. Buschmann ging so weit, daß er in prophetische Träume verfiel, die er mir dann mit höchster Emphase mittheilte.

Das Haus seines Vaters hatte einen kleinen Garten mit einem Gartenhause. Dies wurde uns zur Bemalung mit symbolischen Figuren und Zeichen überlassen. Wir malten auf die Hauptwand einen[91] Phönix, der sich verbrennt, aus dem Flammengrabe schöner wieder zu erstehen.

Hier zeigte sich nun zuerst Buschmanns Genie für Sprachenerlernung, denn er rastete nicht, bis er sich ein kleines neues Testament in neugriechischer Sprache verschafft hatte, aus dem er sofort das Neugriechische lernte.

Später dichtete Buschmann auch noch viele schauerliche Balladen und Tragödien, die er mir immer im Vertrauen zu meiner Kritik vorlegte. Ich rappirte auch viel mit ihm.

Zu solchen Anregungen, die mir außerhalb der Schule zu Theil wurden, muß ich noch zwei Aufenthalte in Neuhaldensleben rechnen, wohin mich mein Vetter Grubitz Michaelis 1821 zuerst auf acht Tage, in den Hundstagsferien 1822 noch einmal auf drei Wochen mitnahm. Sein Vater war Bürgermeister in Neuhaldensleben. Er bewohnte mit seiner Familie ein großes Haus, in welchem die sehr gebildete Hausfrau die anmuthigste Ordnung hielt.

Eine auserlesene Bibliothek machte mich hier mit den Werken Göthe's, Wieland's und Klopstock's in ihrem ganzen Umfange bekannt; besonders aber fand ich auch die großen Welthistorien von Müllin und von Baumgarten, sowie das Musée Napoleon, das mir von der Sculptur und Malerei eine ganz neue Anschauung eröffnete.

Nachmittags gingen wir baden, oder streiften in der Gegend umher, besonders nach Althaldensleben, wo Nathusius seine Fabriken angelegt hatte und für eine Art Wundermann galt, und nach Hundisburg, welches von der Familie Alvensleben an Nathusius verkauft war. Es war das erste Schloß, das ich sah. Erste Eindrücke sind immer die mächtigsten. Ich besang Schloß und Garten in einer Art Elegie.

Diese Wochen, die ich bei der liebenswürdigen Familie Grubitz zugebracht habe, gehören zu den schönsten, reinsten, genußvollsten meines ganzen Lebens. Grubitz war verwachsen. Er pflegte im Traum zu sprechen, woran ich mich erst gewöhnen mußte, da ich mit ihm in demselben Alkoven schlief. Er wurde ein seiner Kenntnisse wie seines Charakters wegen höchst geschätzter Rechtsanwalt in Magdeburg, ist aber schon lange verstorben. Er hatte einige Schwestern. Die älteste, Emilie,[92] war sehr hübsch, heirathete aber einen sehr häßlichen Mann, was mir damals unbegreiflich war.

Auf dem Pädagogium sollte ich auch durch einen besondern Umstand zu einer eigenthümlichen Thätigkeit gelangen.

Wir hatten eine Schulbibliothek, die unter der Verwaltung Reuscher's stand. Als dieser abging, übernahm Strebe dieselbe. Er fand aber große Unordnung vor. Viele Bücher waren ganz zerlumpt. Es fehlte an einem Verzeichniß. Er beschloß daher, alle Bücher durchzugehen, die zerlesenen neu binden zu lassen und einen nach Fächern geordneten Katalog anzulegen. Die Bücher wurden in dickes graues Papier geschlagen und auf dem Rücken mit einem gelben Zettel beklebt, der das Fach durch einen Buchstaben, außerdem die Zahl der fortlaufenden Nummern mit den Unterabtheilungen a, b, c u.s.w. für die einzelnen Bände enthielt.

Die Bibliothek war aus Secunda, wo sie gestanden hatte, nach dem alten Refectorium der Mönche geschafft, dort die Arbeit ungestört vorzunehmen. Strebe hatte mich zu ihr herangezogen. Die Hundstagsferien riefen ihn aber zu einer Reise ab. Er vertraute mir daher die Schlüssel an. Ich nahm mir einen Buchbinderburschen vom Königshof mit und arbeitete drei Wochen lang fast jeden Tag von 8–12 und von 2–7, so daß ich ziemlich fertig war, als die Ferien zu Ende waren.

Die Arbeit selbst war mir, da ich büchergierig war, sehr interessant. Allein in den kalten Gewölben – es war ein sehr heißer Sommer – erkältete ich mich jedesmal und legte den Grund zu jahrelangem katharrhalischen Leiden, von denen ich bis dahin nichts gewußt hatte.

Die Bibliothek wurde späterhin nach dem Zimmer über Sexta im Vorhof geschafft. Nach Strebe's Abgang wurde Wilke Bibliothekar. Ich blieb zur Ausgabe der Bücher drei Jahre bei der Anstalt. Mein Nachfolger in diesem Amt wurde W. Genthe. Hier war es, wo ich mit Wilke so genau bekannt ward. Er hatte auf der Universität Halle sehr gute Studien gemacht. Er war ein trefflicher Philologe, ein außerordentlicher Kenner der romanischen Sprachen und Literaturen, ein Mann von großem ästhetischen Geschmack, ein[93] feiner witziger Kopf, aber auch heimlich ein ausschweifender Mensch, von dem allerlei Sagen umliefen. Er regte uns in vielfacher Weise an, namentlich auch dadurch, daß er in religiösen Dingen dem Skepticismus huldigte, über den er sich zuweilen in vertrauten Stunden zu uns äußerte und den wir als etwas Furchtbares anstaunten. Ich war schon Student, als er auf dem Klosterball einen hübschen Schüler auf seine Stube lockte und ihn zur Päderastie verführen wollte, dieser aber Zeter schrie, so daß er seine Beute wieder fahren lassen und selbst das Weite suchen mußte. Er ging, sehr zweckmäßig für seine Gelüste, nach Kleinasien, trat zur griechischen Kirche über und starb als Secretair eines griechischen Bischofs.

Unter meinen Mitschülern hatte ich anfangs von Quinta her mit dem Sohn eines Landgeistlichen, Werner, zusammengehalten und namentlich mit ihm das kleine Lexikon von Scheller und die griechische Grammatik, den kleinen Buttmann, auswendig gelernt, was mir sehr viel Vergnügen machte. Der kleine Scheller enthält alle Wurzelwörter und deren Composita, so daß man eine treffliche Uebersicht über die ganze Sprache gewinnt.

Ich hatte immer recht viel Anhänglichkeit von Anderen. Rufe ich mir jetzt die Schüler zurück, in deren Mitte ich lebte, so ist es mir merkwürdig, wie ausgesprochen mir damals schon die Individualität eines Jeden erschien. Der große von Benningsen, der bleiche Lademann, der wilde, immer mit den Armen säbelnde v. Ragotzki, der zierliche Willimann, der edle Richard von Zerbst, der dicke Michaelis u.s.w. u.s.w., mit welcher Bestimmtheit schieden sie sich mir von einander.

Das Prügeln in der Klasse, auf dem Spielplatz, auf der Treppe, war, wie überall unter Knaben, die Lieblingsunterhaltung. Ich wehrte mich so gut ich vermochte, erlag aber oft, weil ich schwächer war; wie ich schon erwähnte, vermochte ich dem dicklippigten v. Schulenburg, wenn er mich peinigte, nur einen passiven Widerstand entgegenzusetzen. Der starke Heuke von der Schumacherbrücke verdammte mich und Willimann in der Cäsarstunde bei Wilke dazu, seine Menagerie auszumachen. Wir saßen rechts und links neben ihm und oft riß er uns mitten in der Stunde, indem er uns ein Bein unterstellte, plötzlich von der Bank, so daß wir auf Minuten verschwanden. Einmal nahm er mich und[94] kletterte mit mir die Bibliotheksleiter in Secunda zu einem Sims über der Thür empor, wo er mich absetzte und nun, trotz meines Sträubens, die Leiter wieder fortzog, so daß ich noch oben saß, als der Lehrer hereintrat, der mich mit einem Verweise herunterholen ließ.

Ein großer Nachtheil erwuchs mir daraus, daß für die Versetzungen das Fachsystem herrschte. Man konnte daher in einem Gegenstande in einer höheren, in einem andern in einer niedrigeren Klasse sitzen. So war ich im Lateinischen zurück, aber im Deutschen, im Französischen, kam ich bald in höhere Klassen. Mir zum Verderben, denn ich war doch nun schon auch Tertianer, Secundaner, während ich doch in den Gegenständen, welche dem Gymnasium seine Qualität geben, im Lateinischen und Griechischen, noch in Quarta oder Tertia saß. Es scheint nur gerecht zu sein, Jemand nach dem Fachsystem zu behandeln. Aber das Klassensystem ist gewiß in intellectueller und ethischer Hinsicht das praktischere. Der Schüler wird gleichmäßiger ausgebildet; die Schüler derselben Klasse sind körperlich und geistig gleichmäßiger. Ist der eine, was unvermeidlich, in einem Fache vorgeschrittner, so gewinnt er dadurch Zeit, nachzuholen, was ihm in einem andern fehlt. Im Gymnasium sollte die Bestimmung der Reife zu einer Versetzung immer nach dem Lateinischen und Griechischen, in der Realschule nach dem Rechnen und der Mathematik gemacht werden.

In sittlicher Hinsicht wirkte eine Einrichtung verderblich, welche die Sittlichkeit befördern sollte. Es gab drei Sittenklassen. Die zur dritten gehörigen wurden gar nicht genannt. Von der zweiten ab jedoch wurden die Namen öffentlich in einem vergitterten schwarzen Brett auf dem Klassensaal mit Fracturschrift ausgehängt. Da konnte man nun täglich lesen, auf welch' hoher Stufe man stehe. Ich gelangte ziem lich früh zur zweiten, bald sogar, von Secunda ab, zur ersten. Ich wüßte nun in der That nicht, daß ich mich im Geringsten besser betragen hätte, als Andere. Oft urtheilte ich über mich selbst, schlechter gewesen zu sein. Aber in den Censuren, die ich erhielt, wurde mein Betragen stets außerordentlich gelobt. Und zweifelte ich zu sehr an meinem Werth, so durfte ich mich ja nur, wenn der Klassensaal einmal leer war, an das schwarze Brett schleichen; da konnte ich ja schwarz auf weiß lesen,[95] daß ich ein außerordentlich sittlicher Mensch war. Dadurch wurde bei mir eine gewisse Eitelkeit, ja eine gewisse Heuchelei genährt.

Was nun meine Bildung anbetrifft, so fing ich im Winter von 1820 auf 1821 an, mich ernstlicher mit den Alten zu beschäftigen.

Ich hatte bis dahin gar keine besondere Richtung gehabt.

Alles Wissenswürdige in Natur und Geschichte hatte mich fast gleichmäßig angezogen. Ich machte mir aus den verschiedensten Schriften, die ich mir verschaffen konnte, Auszüge. Ich zeichnete mir Landschaften, Karten, Thiere, Waffen, Alterthümer ab. Von 1819 auf 1820 brachte ich einen ganzen Band zusammen, den ich zierlich binden ließ und noch besitze.

Aber in dieser Zeit wurde ich durch Strebe vorzüglich zu einem Interesse für die ältere deutsche, durch Wilke zu einem Interesse für die allgemeine Literaturgeschichte herangezogen, das der Gründlichkeit meiner Studien in den alten Sprachen sehr nachtheilig wurde, weil es mich zu sehr von ihrem Betrieb ablenkte und meine Mußestunden mit sehr inhaltlosen Lesereien und Schreibereien erfüllte.

Durch die Freiheitskriege war eine Neigung entstanden, unsere eigene Literatur und Sprache im Gegensatz zur französischen hervorzuheben.

Die romantische, damals herrschende Schule, hatte das Studium des deutschen Mittelalters in den Vordergrund gestellt.

Fr. v.d. Hagen hatte die Nibelungen als das Evangelium deutscher Tapferkeit gepriesen.

Strebe, ganz der patriotischen Richtung der Freiheitskriege und der Sentimentalität der Romantik ergeben, ging mit höchstem Eifer darauf ein, uns Schülern Bewunderung für die Nibelungen einzuflößen.

Er errichtete ein Nibelungenkränzchen, das auf seiner Stube zusammenkam. Wir lasen dort die Nibelungen, übersetzten sie nothdürftig. Er versuchte, uns, nach Anleitung der Grimm'schen Grammatik, die eben erschienen war, die Sprache zu erklären, das Versmaß begreiflich zu machen, die Schönheiten dieser alten Dichtung aufzufinden.

Bei Vielen schlug dies nicht an. Die Frau »Uete« wurde ein[96] Gespött. Ich aber zwang mich zur Bewunderung, weil ich so viel von der Herrlichkeit dieser alten Zeit und ihrer Poesie hörte und las.

Im tiefsten Innern fühlte ich keine rechte Befriedigung. Dann aber glaubte ich, es läge an mir, es fehle mir der rechte Sinn für die Einfachheit, Naivetät, Ursprünglichkeit. Ich las mir dann laut die Verse vor und bildete mir nun ein, einen Wohllaut herauszuhören, der mit dem der römischen und griechischen Dichter zu wetteifern vermöchte.

Die Hülfsmittel zu diesen Studien waren sehr unvollkommen.

Heinsius Teut der Bardenhain, Adelungs Magazin, Eschenburgs Denkmäler, Graeters Iduna, Hagens und Büschings Altdeutsches Museum, Docens Miscellaneen, Jördens Lexikon deutscher Dichter und Prosaisten, Schilters Thesaurus, der sich auf der Klosterbibliothek vorfand, Franz Horns Geschichte der deutschen Poesie, Tieks Minnelieder, Küttners Charaktere deutscher Dichter, v.d. Hagen Grundriß zur Geschichte der ältern deutschen Poesie, und ähnliche Schriften waren die Quellen, aus denen ich schöpfte und die ich mir größtentheils zusammenkaufte.

Ich schrieb vom März bis Juli 1821 einen kurzen Ueberblick der Literatur der deutschen Poesie, der von 300 bis 1600 reichen sollte, aber nur bis zum dreizehnten Jahrhundert, bis zu den Nibelungen gelangte.

In demselben Jahre schrieb ich vom August bis zum November eine 84 große Quartseiten enthaltende sehr gelehrt scheinende kurze geschichtliche Uebersicht »der Sprache der Teutschen«, die schon einen höheren Flug nahm, aber mit der Hroswitha abbrach.

Es ist gar nicht zu beschreiben, in welcher Einseitigkeit ich das ganze altdeutsche Wesen auffaßte, zumal es mir an einer gründlichen grammatischen und historischen Vorbildung fehlte.

Ich trieb mich wochenlang mit dem Erforschen der größten Kleinigkeiten umher. Namen von Titeln, von Dichtern, Bestimmung von Jahreszahlen, Beschreibung von Handschriften beschäftigten mich oft überernstlich. Es war ein Glück, daß Cäsar und Tacitus doch nicht für die älteste Zeit vorbeigegangen werden konnten. Die germanischen Stämme galten mir als die edelsten Heldengeschlechter und die wüste Geschichte der Völkerwanderung wurde lange ein Mittelpunkt von[97] Studien, bei denen zu bedauern ist, daß sie ziel-und rathlos ausschweiften.

Man muß sich ganz in jene Zeiten der burschenschaftlichen Romantik zurückversetzen, wie sie damals das Leben beherrschte. Als Zeune z.B. einst mit Fichte's Sohn, dem spätern Tübinger Philosophen, nach Magdeburg kam, besuchte er die ihm befreundete Familie Favreau in der Jakobsstraße. Dadurch wurde ich mit ihm bekannt. Man gab mich ihm zum Begleiter, ihm die Merkwürdigkeiten Magdeburgs zu zeigen. Zeune ging im kurzen schwarzen Rock, bloßem Hals, übergeschlagenen Hemdkragen, langen Haaren und sprach »reines teutsch«. Als ich ihm nun in dem Dome Tilly's Commandostab in die Hand gab und dabei dies Wort gebrauchte, verwies er es mir heftig und rief mir wiederholt zu: »Befehlshaberstab, Befehlshaberstab!«

Das vaterländische Museum, das bei Perthes in Hamburg 1810–12 im Sinne der Gegenwirkung gegen den Gallicanismus in jeder Gestalt erschienen war, war mir früh bekannt geworden, und hatte mich ganz der romantischen, der patriotischen und zum Theil juristischen Bestrebung gewonnen.

Aus derselben Quelle, der Leihbibliothek der Buchhandlung Kretzschmar am breiten Wege, stammte auch eine für meine Bildung überfrühe Bekanntschaft mit den Heidelberger Jahrbüchern der Literatur, die in ihrem ersten Decennium die entschiedensten Träger der romantischen Anschauungsweise waren. Goerres namentlich schrieb viele Kritiken darin, die mich um so mehr berauschten, je weniger ich sie zu verstehen vermochte. Der prophetische Ton, der bilderreiche Styl, entzückte mich.

Mein geschichtlicher Sinn war jedoch nicht ohne Neigung zur Universalität.

Da ich mir selbst so ganz überlassen war und da meine guten Eltern, – ich bewundere es jetzt mit höchster Dankbarkeit, – mir die Mittel gewährten, so raffte ich viele und vielerlei Bücher zusammen. Durch Bredow's kleineres Handbuch der Weltgeschichte hatte ich einen guten Grund auf der Altstadt gelegt. Mein Vater schenkte mir einige Jahre später die ausführliche Darstellung der wichtigeren Weltbegebenheiten von demselben Verfasser, die ich oft und mit großem Nutzen durchgelesen habe. Sie sind ein classisches Buch, das noch jetzt ein[98] großes Publikum besitzen würde, wenn bei uns nicht die Zerspaltenheit der Nation in Katholiken und Protestanten, in Baiern, Sachsen, Preußen u.s.w. das Aufkommen einer einheitlichen Auffassung der Geschichte zu sehr hinderte.

In meiner Begierde nach einer immer vollständigeren Uebersicht kaufte ich mir von andern Schülern, die im zufälligen Besitz waren, oder auf Auctionen, allmälig eine Menge Compendien zusammen. Ein Quartant, die Statua Danielis, machte mich mit den vier Monarchieen bekannt, welche die unter Melanchthon herrschende Eintheilung der Weltgeschichte war.

Das Compendium von Hilmar Curas, in der verbesserten Gestalt von Schrökh, schloß sich noch daran an.

Die Compendien von Zopf und Essig schlugen etwas andere Wege ein.

Gatterer's ethnographische Manier gehörte schon einer Periode der Göttinger geläuterten Gelehrsamkeit an.

Ebenso ist ein Quartant von Achenwall zu nennen.

Pölitz sogenannte große Weltgeschichte imponirte mir Jahre lang, obwohl ich gleichzeitig Uebersichten, wie von Carl Stein, immer liebte.

Ich besaß ein mit Papier durchschossenes Exemplar von Kohlrausch's vortrefflichen chronologischen Tabellen, denen ich Vieles einverleibte, was ich in den übrigen Büchern fand. Ich bedauere, dies Exemplar, ich weiß nicht wie, verloren zu haben. Ich hatte z.B. eine genaue Uebersicht aller Khalifate darin aufgezeichnet.

Die höchste Befriedigung aber gewährten mir Dippold's Skizzen, die aus Vorträgen desselben in Danzig entstanden waren.

Ich laß sie wiederholt und besitze noch die Abschrift, die ich mir aus ihnen von der alten griechischen Geschichte machte. Auch sie sollten zu den classischen Büchern der Nation gehören.

Daß ich später auch die Monographie Dippold's über Carl den Großen mit Andacht las, brauche ich wohl kaum zu sagen.

Dippold's Skizzen standen damals in meinem Bewußtsein als das Seitenstück zu einem andern Buche da, das ich auch, jedoch ohne hinreichendes Verständniß, mehrfach las. Es waren Richter's Phantasieen über die Religionen des Alterthums; oder Sammlung der mythologischen[99] Sagen der Hellenen, Römer und Aegyptier. Ich wurde dadurch zuerst mit der Creuzer'schen Ansicht bekannt. Eine solche höhere, wenn auch oft irrige Auffassung der heidnischen Religionen that mir sehr Noth; denn einerseits strahlten durch Schiller's Dichtungen und durch Homer die griechischen Götter bei mir in ätherischem Glanze; andererseits aber, wo es auf ein bestimmteres Wissen ankam, besaß ich unter meinen Büchern nur das Pantheum mythicum von dem Jesuiten Pomey; ein scheußliches Buch mit noch scheußlicheren Kupfern. Das Handbuch der Mythologie von Moritz, das ich in der Favreau'schen Bibliothek, wie so viel Anderes, vorfand, erschien mir dagegen schon als ein ideales Werk.

Auf dem Pädagogium ward für die alte Geschichte Bredow's Handbuch in den oberen Klassen zu Grunde gelegt.

Für die neuere Geschichte führte Strebe in Prima Heeren's Handbuch der Geschichte der neueren europäischen Staatensysteme ein. Das Buch war unzweckmäßig. Es enthielt zu wenig Thatsachen und zu viel Reflexionen, die als Anhalt zu akademischen Vorträgen brauchbar, für Schüler, auch wenn sie Primaner, noch nicht passend waren. Ueberdem war es zu theuer.

Zuletzt führte er Wachler's Handbuch der allgemeinen Weltgeschichte ein, das ebenfalls zu wenig thatsächlichen Stoff und zu viel abstracte Combinationen, zu viel bloße Andeutungen und zu viel über den Gymnasialstandpunkt hinausgreifende Literatur enthielt.

Strebe selbst trug uns die nordische Geschichte mit Einschluß des Freiheitskrieges, besonders aber die Geschichte Englands recht gut vor. Ich besitze noch das Heft, das ich bei ihm hierin nachgeschrieben und ausgearbeitet habe.

Als charakteristisch für die Zeit erwähne ich, daß die Schlacht von Leipzig mehrere Wochen lang bis in die kleinsten Details vorgetragen wurde. Das Terrain, die Stellung jedes Armeecorps, die einzelnen Gefechte, das Schwanken des Sieges während der drei Tage und Napoleons meisterhafter Rückzug wurden genau durchgenommen. Wir waren darin so zu Hause, wie auf der Ebene von Troja in der Ilias.

Die Bekanntschaft mit den alten Dichtern führte mich zuerst zu[100] Uebersetzungen in Prosa, dann in Versen, dann zu Nachahmungen. Dies war ein ganz natürlicher Gang.

Vom Virgil übersetzte ich die Eklogen, die Georgika und zwei Bücher der Aeneis metrisch; von Horaz eine Anzahl Oden.

Diese Uebersetzungen waren höchst unvollkommen, wie ich jetzt sehr wohl erkenne, da ich sie theilweise noch besitze.

Die hexametrische Form fing bei mir an, zu grassiren. Ich las zahllose Gedichte in diesem Metrum: Klopstock's Messias, Bodmer's Noachide, Sonnenberg's Donatoa, Kunze's, eines Predigers im Quedlinburgischen, Heinrich den Löwen, ein Heldengedicht in drei Bänden von 21 Gesängen, Bielefeld's Thuiskon, Vossen's Louise, Baggesen's Parthenais und vieles Andere. Küttner's Kurona, welche Idyllen aus den Baltischen Uferländern boten, gefielen mir sehr. Wie hätte ich ahnen können, einst selbst dort zu wohnen und so oft in den Wellen der Ostsee mich zu baden.

Einen besonderen Gebrauch von der erlangten Fertigkeit im Hexameterschmieden machte ich bei dem Jubiläum der funfzigjährigen Dienstzeit unseres Probstes Röttger, das sehr glänzend gefeiert ward. Wir Schüler führten Wallenstein's Lager auf. Ich hielt einen poetischen Vortrag, der fast eine Stunde dauerte, gewiß höchst langweilig war, mir aber viel Bewunderung eintrug, eben der Länge halber und weil ich ihn selber verfaßt hatte. Es war eine Idylle in der Manier von Vossen's siebenzigstem Geburtstag: des Vaters Heimkehr betitelt. Ich habe nur noch eine dunkle Vorstellung von diesem Machwerk.

Bei diesem Jubiläum eröffnete der Rector Solbrig die Feierlichkeiten mit einer lateinischen Rede. Der anwesende Gouverneur Magdeburgs, Graf von Haake, verstand kein Latein. So oft nun das Wort hac vorkam, z.B. hac die, stand er auf und verbeugte sich gegen den Redner, weil er sich erwähnt glaubte. Dies Quid pro quo drohte die ernste Stimmung der Versammlung in unwillkührliche Lachlust aufzulösen, bis Wilke sich entschloß, ihm seinen Irrthum artig bemerklich zu machen.

Als nun alle Anreden vorüber waren, hielt Röttger seine Gegenrede. Er hob an: »Der Schmerz ist stumm«. Kaum gesagt, griff er aber in die Tiefe seiner Brusttasche und zog ein dickes Manuscript[101] hervor, das er ablas und das vom Wortreichthum eines Schulnestors überströmte.

Beim Nachtisch eines schwelgerischen Mittagessens, an welchem auch eine Auswahl der Stadtschüler Theil nahm, wurde ich von Wilke dem von Halle herübergekommenen Kanzler Niemeyer vorgestellt, der mir sehr freundlich alles Mögliche von Unterstützung verhieß, falls ich einmal in Halle studiren sollte. Niemeyer hatte im Magdeburgischen und darüber weit hinaus etwa den Nimbus, den später Humboldt in Berlin besaß. Seine Charaktere der Bibel, seine Deportation und Gefangenschaft unter Napoleon, seine Vorträge über theologische Moral und praktische Theologie, seine stattliche Figur und seine angenehme Unterhaltung machten ihn in Verbindung mit seiner einflußreichen Stellung zu einem der bedeutendsten Männer jener Zeit.

Eine große Veränderung wurde in mir durch eine Bekanntschaft bewirkt, die ich mit Wilhelm Volk, dem Sohn des Hofrath Volk, 1819/20 machte. Er war mir an Kenntnissen voraus. Er bestach keineswegs durch ein angenehmes Aeußere, aber er verstand Jeden, wenn er es wollte, durch ein eigenthümliches Gemisch von sentimentaler Hingebung und von herrischem Zwang sich zu unterwerfen.

Seine Eltern und seine einzige Schwester, Rosalie, waren die liebenswürdigsten Menschen.

Das gesammte Hauswesen des Hofraths hatte einen vornehmen Anstrich. Die Familie war sehr wohlhabend und mit vielen Gutsbesitzern im Halberstädtischen, namentlich mit der Familie Heyne, verwandt.

Volks wohnten in der goldenen Apfelstraße in der belle étage der Restauration Belle Alliance in unserer Nähe, wo mein Vater Abends häufig Billard zu spielen pflegte.

Mit Volk verwandt und befreundet war Eduard Oppermann, der Sohn eines Oberlandesgerichtsraths, der ein herrlicher Mann war.

Wir drei wurden, da Oppermann auch in der Nähe des alten Marktes wohnte, auf dem Rückwege von der Schule bald unzertrennlich.

In der Stube des Pförtners Knopp, wo wir unsere Mützen und Mäntel ablegen und wieder holen mußten, fanden wir uns immer zusammen, falls wir in den Klassen getrennt gewesen waren.[102]

Volk brachte nun bald ein Journal unter uns zusammen, das wir gemeinschaftlich in der Art schrieben, daß wir ihm unsere Arbeiten gaben, die er dann in einen Bogen zusammenschrieb, den wir unter uns umlaufen ließen und ihm zuletzt zurückgaben. Er war der Redacteur, der auch zuerst seine Bemerkungen machte.

Er hatte eine erstaunliche Arbeitskraft und Hartnäckigkeit. Seine Vielleserei übertraf die meinige noch unendlich.

Wenn von unserer Seite Arbeiten ausblieben, so wußte er immer Rath, die Spalten zu füllen, namentlich durch Uebersetzungen aus den romanischen Sprachen, in denen er es bald zu außerordentlicher Kenntniß brachte. Das Italienische betrieb ich eine Zeit lang mit ihm gemeinschaftlich. Auch das Spanische fing ich mit ihm an, arbeitete Wagner's Grammatik durch, ließ es dann aber liegen.

Diese Zerstreuung schadete meinem classischen Studium nicht weniger, als das Altdeutsche.

Damit die übrigen Schüler nicht wissen sollten, wovon wir sprächen, wenn wir in der Schule uns Mittheilungen in Betreff unseres Journals machten, schlug Volk vor, es den »Tischkasten« zu nennen.

Ich habe sehr kindische und werthlose Arbeiten zu demselben geliefert. Ich erinnere mich nur noch, daß ich eine komisch sein sollende »Geschichte des Flohkönigs Albroscher«, mehrere Gedichte und ein dreiactiges Drama: »Die Bürgschaft«, nach der Schiller'schen Ballade verfertigte. An Uebersetzungen werde ich es auch nicht haben fehlen lassen. Es schwebt mir noch vor, daß ich Voltaire's Henriade in Hexameter zu übersetzen anfing. –

Wir nahmen späterhin noch Heuke in unsere Gesellschaft auf. Dieser Kraftmensch, der mir später ganz verschollen ist, schrieb einen Aufsatz: »Keine Rose ohne Dornen.«

Er wollte darin die Nothwendigkeit des Uebels als eine von allem Dasein unabtrennliche beweisen.

Volk opponirte. Heuke beschränkte sich mit seinem Satze auf die »sublunarische Welt.« Aber das Journal, nachdem es zwei Jahre bestanden, hörte damit auf.

Ich selbst wurde durch diesen Streit zum ersten Male auf eigentlich philosophische Betrachtungen geführt.[103]

Diese verknüpften sich bei mir mit dem tiefen Eindruck, den die Lectüre von Sonnenbergs Donatoa auf mich gemacht hatte. Noch besitze ich den Auszug, den ich mir aus diesem weitläufigen Epos fertigte. Der Kampf von Heroal und seiner geliebten Herkla zur Ueberwindung des Antichrists beschäftigte mich Monate lang und versetzte mich in eine religiöse Schwärmerei. Der Gedanke, daß, wenn alles Böse getilgt worden, auch alles Uebel verschwinden müsse, lief bei Sonnenberg consequent in das Aufhören aller Geschichte aus. Dies Ende des Weltgerichts stellt er sehr erhaben in einem Vaterunser dar, welches alle erlösten Geister zu Gott in der Version beteten, daß nun alle Bitten erfüllt wären: »Du vergiebst uns unsere Schuld, wie wir unsern Schuldigern vergeben haben.«

Sonnenbergs Weltgericht ist der Ausläufer der geistlichen Epik, die mit Miltons Paradies begonnen hatte. Ihm war in Klopstocks Messias die Erlösung gefolgt. Der Erlösung mußte wieder das Resultat, der Schluß der Geschichte, im Weltgericht folgen.

Sonnenberg war Katholik und Romantiker. Er beendete sein excentrisches Werk in Jena und stürzte sich dann aus dem Fenster. Im Herbst 1859 hat mir Kuno Fischer in Jena das Haus gezeigt, vor welchem er den Tod fand.

Volk und Heuke verspotteten mich in meiner religiösen Melancholie; so oft ich davon zu reden anfing, verlachten sie mich und erfanden eigene Wendungen, mich zu verhöhnen. Wir gingen an Sonnabenden oft vor das Sudenburger Thor nach dem Militärkirchhof. Auf diesen Abendgängen erfaßte mich denn meine Traurigkeit mit besonderer Gewalt und reizte dann umsomehr ihre Satyre zu allerlei groteskem Hohn.

Es mag dies Betragen ganz passend gewesen sein, mich von meinem Gegenstande abzubringen, aber es riß mich nur von ihm los, ohne mir ein Resultat zu geben.

Volk liebte mich unstreitig, wie ich ihn; aber in unserem Verhältniß war eine Ungleichheit. Er war mir übermächtig und wünschte, bewundert zu werden. Sein Ton fiel bald in eine sentimentale Zärtlichkeit, bald in eine sarkastische Krittelei oder in die halb schadenfrohe Mystification von räthselhaften Anspielungen, so daß im Umgang mit ihm nicht eine einfache Gleichheit herrschte, sondern sich immer – auch[104] Andere machten diese Erfahrung – eine gewisse Aufgespanntheit kundgab. Er hatte eine ganz eigene Gattung des Barocken, womit er unfehlbar Lachen zu erregen vermochte.

Nicht weniger verstand er, bedeutsam zu schweigen, den Andern wie in Ekstase anzustarren, zu seufzen, plötzlich die Hand krampfhaft zu drücken, unerwartet eine zarte Aufmerksamkeit zu erweisen und mit all' diesem sich vorzüglich Mädchen und Frauen zu unterwerfen.

Während ich so mit Volk, Oppermann und Heuke verkehrte, wurde ich doch meinen alten Freunden nicht gerade untreu.

Mit Buschmann namentlich führte mich die Liebe zu einem Dichter wieder näher zusammen, der auf uns Beide großen Einfluß gewann. Dies war Ernst Schulze, der früh gestorbene Verfasser der bezauberten Rose, der Cäcilie, vieler zarten Sonnette und Episteln.

Schulze war der romantische Ausläufer der Wieland'schen Schule. Er hatte eine außerordentliche Sprachgewandtheit und eine blumenduft-gewürzte Phantasie, wie sie jener weichlich-träumerischen Epoche unendlich zusagte. Seine Verse mit ihren vielen adjectivischen Füllwörtern, mit ihrem Sinnen und Minnen, Hangen und Bangen, mit ihrer Sonne und Wonne, mit ihren Herzen und Schmerzen ließen sich leicht nachahmen. Statt des Hexameters wurden von uns nun freie Stanzen gemacht. Auch die Sonnette fingen an, neben den Stanzen etwa so gedichtet zu werden, wie wir auch neben den Hexametern zuweilen eine Sapphische oder Alkäische Ode gemacht hatten. Schulze's Dichtung hatte in ihrer Naturanschauung einen lieblich träumerischen Zug, der gern in Ruinen, in Mondschein, in Nachtigallgebüschen, bei Elfentänzen, an Wasserfällen verweilte.

Sie hatte aber auch einen nordischen Zug, der uns »Teutschgesinnten« sehr zusagte. Die Klopstock'sche Poesie hatte zuerst den Versuch gemacht, die Edden für eine deutsche Mythologie in's Spiel zu bringen. Der Wingolf, Bragur, Tyr, Frigga, Odin, Thor, Walhalla und Niflheim hatten eine gewisse Popularität er langt. Eine Zeit hindurch hatten unsere Dichter sich selbst Barden genannt. Kretzschmar hatte sich als Barde Rhingulph benannt. Fouqué hatte nun zwar die Götterwelt der Asen bei Seite gelassen, hingegen sich ganz der nordischen Helden- und Ritterwelt zugewendet. Seine Romane wurden[105] mit Begeisterung verschlungen. Sein Zauberring, seine Fahrten Thiodolfs des Isländers, seine Geschichte von Sintram und dessen Gefährten, seine Undine, seine Aslauga waren fast zu Volksbüchern geworden. Das Gespenstische, was schon manchmal bei ihm auftauchte, war ganz im Geschmack der Zeit. Das eisige Island und das glühende Italien, der riesige Heidenrecke und der zierliche Saracene, die schöne stahlgepanzerte Walkyrie und die marmorbleiche, schleierumflossene Nonne waren die Extreme, zwischen denen sich seine christgläubigen Ritter auf ihren Wallfahrten bewegten. Fonqué hatte bei seiner dramatischen Behandlung der Nibelungensage 1809 eine höhere künstlerische Begabung gezeigt, als er anfänglich unter dem Namen Pellegrin verrathen. Seine Tragödie: »Sigurd der Schlangentödter«, ist in einem reineren Geschmack, in einem echteren Pathos gedichtet, als Viele, die ihn nur vom Hörensagen kennen, ihm zutrauen würden.

Es ist aber bei uns das Geschick des Guten, oft unbekannt zu bleiben. Als Fouqué sein 1814 geschriebenes Rittergedicht »Corona« veröffentlicht hatte, war ich, als ich es mir endlich verschaffte, nebst meiner Schwester, die ihn, wie ich, verehrte, so entzückt, daß ich Ende Juli 1821 einen Panegyrikus in regelrechten Stanzen darauf dichtete. Er schien uns Ansprüche auf den Namen eines nordischen Tasso oder Ariost zu haben.

Allein Schulze's »Cäcilie« übertraf ihn an Frische der Phantasie, an Innigkeit des Gefühls, an Anschaulichkeit der Malerei und an einer Structur, die einen epischeren, an die Kämpfe der Ilias erinnernden Typus hatte. Wir fanden hier in Aganthyrs Geschichte Fouqué'sche Elemente, aber wir fanden sie zu höherer Idealität fortgebildet.

In der elegischen, duftigen Manier Schulze's habe ich nun viele Gedichte gemacht, die zum Theil wohl nur Rückklänge aus seiner Lectüre waren. Das psychologisch wahrste entsprang bei mir dem Gefühl einer Zerflossenheit, worin ich mich befand. Ich dichtete es im August 1822 und betitelte es: »Unstät.«

Strebe, unter welchem ich den größten Theil meiner stylistischen Fortbildung absolvirte, begünstigte, da er ein weiches Gemüth hatte, das Gefühl und die Phantasie. Die Cultur des Gedankens trat bei ihm entschieden zurück. Von Philosophie war bei ihm gar nicht die Rede.[106]

Ich erinnere mich, bei ihm von Unten nach Oben folgende Themata behandelt zu haben:

Sprich nicht von dem, was du thun willst. Die eitle Karoline. Ein Charaktergemälde. Commentar zu Schiller's Glocke.

Schilderung einer glücklichen Insel im Ocean.

Die Ruinen. Eine Betrachtung. Der Frühling.

Eine Vision am Hellespont in der Neujahrsnacht. (Wurde selbstverständlich in Hexametern bearbeitet.)

Ueber den Unglauben. (Natürlich gegen denselben.)

Wie wünsch' ich mir mein Leben nach dem Tode? (In Hexametern.) – Ich besitze es noch und sehe, daß ich einige rationalistische Anmerkungen zur Rechtfertigung der Vorstellungen, die ich vortrug, hinzuzufügen für nöthig erachtete.

Rede Alexanders bei der Umkehr am Hydaspis.

Charakteristik Attila's, November 1821. Mit Benutzung von Gibbon u.s.w.

Ueber die Nibelungen. Eine recht gut geschriebene Vertheidigung ihres Werthes.

Kritik von Houwald's Drama: »Fluch und Segen«, Februar 1822. Sehr scharf.

Die Verdienste Alfred des Großen und England, Juli 1822.

Musik und Poesie. Die Begleiterinnen des Menschen. Ein Gedicht in freien Stanzen von ziemlichem Umfang. Es ist ganz in der Schulze'schen Manier. Strebe war so davon entzückt, daß er es dem Probst vorlegte, der mir eine höchst lobende Kritik darüber schrieb, die nur einige Formfehler tadelte.

Dies war, im August 1822, die letzte Arbeit, die ich bei Strebe lieferte, weil er bald darauf die Anstalt verließ.

Bei dieser großen Einseitigkeit, die überall das Gefühl, die Phantasie, die geschichtlichen Kenntnisse in den Vordergrund stellte, ist es nicht zu verwundern, wenn ich mich selbst in der Werthschätzung meiner poetischen Versuche und kleinen historischen Skizzen bestärkte. Wurde ich doch im Deutschen fast immer als der Erste proclamirt. Zum Glück hatten wir im Lateinischen andere Themata.

Im Französischen durften wir uns in Prima sogar selbst Themata[107] wählen. Von diesen ist mir nur eines in Erinnerung geblieben, an das ich oft gedacht habe. Es hieß: Sous quelle forme de gouvernement voudrais je vivre, si je ne vivais pas à présent en Prusse?

Diese Frage beschäftigte mich lebhaft. Mein erstes politisches Bewußtsein erwachte mit ihr. Jeder Gymnasiast ist durch den Enthusiasmus für die Griechen und Römer Republikaner in der Theorie. Als Sohn seines Landes und Volkes aber erklärt er, unter einer gemäßigten Monarchie sich glücklich zu fühlen. Einer solchen genieße er unter dem Scepter der Hohenzollern. Das ist die politische Praxis, wie sie anerzogen wird.

Nun gerieth ich in dieser Arbeit, ich weiß nicht mehr wie, auf Polen, und führte die Nothwendigkeit aus, daß Polen zwischen dem despotischen Rußland und zwischen dem freien Preußen als eine schützende Zwischenmacht fortbestehen und daß Preußen, ja Deutschland, wenn Rußland Polen etwa aller Selbstständigkeit berauben wollte, Polen zu Hülfe kommen müßte, es in seiner Integrität zu erhalten.

Der alte Koch, bei dem ich die Arbeit eingereicht hatte, strich mir meine Versehen an und sagte mit ironischem Lächeln: »Nun, lieber Rosenkranz, über Ihre Politik will ich nicht mit Ihnen streiten. Suchen Sie vor der Hand nur so gut französisch zu schreiben, als die Polen es sprechen!«

Da in den altdeutschen Epen die Burgunder eine so große Rolle spielten, so ging ich an die Erforschung ihrer Geschichte. Ich fing aber von hinten her an. Boso, der Gründer des Arelatensischen Königreichs, fesselte mich so, daß ich eine ziemlich ausführliche Geschichte desselben aus allen mir zugänglichen Quellen zusammenschrieb, die vielleicht nicht schlecht war. Ich habe sie verloren. Ostern 1823 kam ich dazu, die Geschichte der alten Burgunder, ebenfalls quellenmäßig, zu bearbeiten. In diesem Versuch, sowie in einem etwas früheren, über die Cimbern und Teutonen, ging ich dann bis auf das erste Erscheinen der Germanen zurück.

Doch dies Alles sollte noch nicht Zerstreuung genug sein.

Ich war in meinem Gemüth fromm. Ich glaubte auf das Lebendigste an den allmächtigen, allwissenden, allgegenwärtigen, allweisen und allliebenden Gott. Ich betete zu ihm mit höchster Inbrunst.[108]

In der Zeit vor meiner Einsegnung hatte ich mindestens alle vierzehn Tage die Predigt in unserer Kirche besuchen müssen. Wir hatten einen Stuhl, zu welchem auch der alte Onkel Lefevre vom breiten Wege gehörte, der nie einen Sonntag versäumte und mich sofort, wenn ich gefehlt hatte, zur Rede stellte.

Nach meiner Einsegnung durfte ich gehen, wohin ich wollte. Oft ging ich mit meinem Vater zusammen. Wir besuchten im Laufe des Jahres fast alle Kirchen. Es gehörte zum Vergnügen meines Vaters, die Gaben der Kanzelredner zu vergleichen. Koch und Westermeier im Dom, Dennhardt in der Heiligengeist-Kirche, Fritze in St. Ulrich, Jasper in St. Catharinen, Reinhard in St. Jakob, Mellin und später Mänsz in der deutsch-reformirten Kirche u.s.w. wurden genau geprüft. Das Gespräch darüber begleitete gewöhnlich den Genuß des Sonntagsbratens. Der Vater war dann in der besten Stimmung. Nach der Kirche besuchte er gewöhnlich eine der Conditoreien oder den Volkmar'schen Weinkeller auf dem neuen Markt, wohin er mich auch mitnahm. Nur am Charfreitag unterblieb dies grundsätzlich und wir machten einen stillen Gang durch das Glacis, von welchem mir unvergeßliche Eindrücke wahrer Sabbathruhe zurückgeblieben sind. Die ersten Frühlingslüfte pflegten sich zu regen, die ersten Lerchen mit ihrem Gesang sich zu melden und die ersten Schwalben sich einzufinden. Die jungen Baumknospen sahen so verheißend aus und alle Menschen, wie sie im Sonntagsstaate dahinschritten, schienen im tiefsten Innern der Versöhnung sich mit gerührtem Dank zu freuen, welche der Tod des Erlösers ihnen gebracht.

Gewiß verdanke ich dem Anhören so vieler, oft guter Predigten, viel geistige Anregung. Es wurde damals aber auch ganz anders gepredigt, als jetzt, wo man sich oft auf Paraphrasen des Bibelworts, auf Dogmen-Interpretation, auf Declamation von Gesangbuchversen beschränkt. Das Predigen galt für eine Kunst und wurde im Bewußtsein der Rivalität geübt. Der Blick auf das gesammte Weltwesen machte es sehr mannichfaltig. Dennhardt gab in der Neujahrspredigt z.B. immer eine politische Rundschau Europa's.

Ich ward mit allen Resultaten der Aufklärung bekannt. Ich glaubte nicht an Gespenster. Aber in meinem zehnten Jahre etwa hatte[109] ich die Geschichte eines Schlosses gelesen, in welchem ein Ritter, dessen Bild im Ahnensaal hing, dazu verurtheilt war, die Kinder seiner Nachfolger durch einen Kuß dem Tode zu weihen. Es war vortrefflich geschildert, wie der gespenstische Ritter mit trauriger Miene in einem dunklen Mantel sich zum Bett des schlafenden Kindes schlich. Diese Vorstellung setzte sich bei mir fest, so daß ich in unserer Schlafstube im goldenen A aus der Thür, die nach einer alten unbenutzten Küche führte, oft den Ritter fürchtete heraustreten zu sehen, und deshalb das Deckbett über die Augen zog. Am Tage lachte ich mich aus. Nachts aber glaubte ich doch halb und halb an die Möglichkeit eines solchen Spuks.

Ich war aber nicht blos im theistischen Sinne fromm, ich war auch abergläubisch. Ich konnte mich lange Zeit immer noch nicht von der Knechtschaft gewisser Vorzeichen losmachen. Ich glaubte noch immer zuweilen, daß die Art, wie ich meine Kleider Abends vor dem Bett auf den Stuhl legte, nicht ganz ohne magischen Zusammenhang mit den großen Feuersbrünsten sei, welche damals oft ganze Quartiere der Stadt hinrafften. Ich glaubte, daß es für die Fehler, die ich im Lateinischen oder Griechischen den Tag über in der Schule machen würde, nicht gleichgültig sei, durch welche Straße ich zum Pädagogium ging. Ich glaubte, daß ein gewisser Schnörkel, mit welchem ich meine Arbeiten am Schluß verzierte, einen Einfluß auf ihre Werthabschätzung habe. Ich glaubte sogar Ahnungen zu haben.

Dies Alles war mir auch wieder lächerlich. Aber wenn ich mich entscheiden mußte, fühlte ich doch oft die Gewalt der abergläubischen Gewohnheit, denn unstreitig ist es die Gewohnheit, die uns in solche alberne Abhängigkeiten versetzt.

Vom sogenannten specifischen Christenthum war nichts in mir. Auch das Abendmahl hatte ich bei meiner Einsegnung nicht als einen mystischen, sondern als einen nur mnemonischen, zur strengeren Tugendhaftigkeit anregenden Act genommen.

Im Herbst 1822 dichtete ich zum Geburtstage meines Schulfreundes Bernhard Nöldechen aus Schönebeck, der Theologe werden wollte, eine Art Cantate, die ich meinen Eltern vorlas, bevor ich sie verschickte. Sie vergossen Freudenthränen darüber, zumal die Mutter, denn es schien[110] ihnen daraus ein unzweifelhaftes Talent für das geistliche Fach hervorzuleuchten.

Die Mutter besonders wünschte mich zum Theologen.

Ich hatte daher auch das Hebräische angenommen. Aber der Unterricht, den ich darin successiv von Händler, Thiemann, Immermann und Hennig erhielt, war ein zu wechselnder, zu unterbrochener, zu oberflächlicher. Auch lagen die Stunden – im Winter von 7 bis 8, im Sommer von 6 bis 7 Uhr – zu ungünstig dafür. Nur zu oft trafen wir den Lehrer noch im Bette. Es verging einige Zeit, bis er sich ankleidete. Unterdessen trieben wir Allotria, waren aber auch oft selber noch schläfrig und verdrossen, in gleich übler und unheiliger Stimmung mit dem Lehrer.

Das Erlernen des Hebräischen an und für sich war mir interessant, weil es mir eine von den übrigen mir bekannten Sprachen ganz abweichende Sprachform eröffnete.

Als ich das Hebräische unter Händler zuerst anfing, lernte ich auch den Charlatanismus kennen. Händler, ein Sächsischer Magister, verschrieb uns ein kurzgefaßtes Compendium: »Die Kunst, in vierundzwanzig Stunden Hebräisch zu lernen.« Wochen und Wochen würgten wir daran!

Im Rechnen und in der Mathematik blieb ich schwächer, als in Sprachen, obwohl ich die Planemetrie gut lernte.

Für die Stereometrie machte ich eine wirkliche Anstrengung und repetirte sie mit Oppermann und mit Lettgau, der gegenwärtig Baumeister hier in Ostpreußen ist. Alle stereometrischen Gestalten entzückten mich durch ihre Proportionen.

Das Lehrbuch von Lorentz wurde dem Unterricht zu Grunde gelegt. Der elementare Unterricht wurde von Valet recht gut gegeben.

Der Unterricht in Prima fiel über ein Jahr dem höchst gutmüthigen, edlen, aber schwachen Thiemann zu. Wir benutzten die Stunden nur zum Skandalmachen. Das »Beweisen« namentlich an der Tafel wurde zu einer Possenreißerei.

Ich war mir bewußt, das eigentliche Geheimniß in den Beweisen der sogenannten höheren Mathematik nie recht zu verstehen. Ich lernte die Formeln der Algebra auswendig und gebrauchte sie ganz mechanisch.[111]

Noch weniger begriff ich, weshalb man in der Algebra so ganz willkürlich sagen durfte: Ich substituire die Werthe so und so, ich verwandle diese Formel in jene u.s.w.

Ich verwunderte mich im Stillen immer, wie aus solcher Willkür schließlich eine »exacte Evidenz« hervorgehen konnte oder sollte.

Zu meinem Schrecken wurde ich aber für so tüchtig in der Mathematik gehalten, daß ich sogar in die Selecta unter dem Procurator Meyer versetzt ward, die aus etwa 8 bis 9 Primanern bestand.

Hier wurde ebene und sphärische Trigonometrie getrieben.

An die Stelle von Lorentz' Lehrbuch trat Mathias', des Directors des Domgymnasiums, Leitfaden nach analytischer Methode. Was dies eigentlich heiße, habe ich auf der Schule nie begriffen. Für das Berechnen mußten wir uns Vega's Logarithmische Tabellen anschaffen.

Das Zutrauen, welches die Versetzung zu meiner mathematischen Fähigkeit aussprach, munterte mich auf. Ich gab mir einige Monate hindurch die äußerste Mühe.

Aber Meyer beschäftigte sich bald nur mit zwei, drei der hervorragendsten Schüler, namentlich mit Roloff, dem jetzigen Apellationsgerichtsrath in Marienwerder, der für mich dadurch sehr verhängnißvoll wurde, daß er, ein großer starker Mensch, mich einst in der Zwischenstunde der Art herumtrug, daß ich mit der Handfläche und gesteiftem Arm mich auf seine Schultern stützte. Ich büßte aber bei einer seiner Bewegungen das Gleichgewicht ein und stürzte kopfüber auf den Boden. Ich hatte die Besinnung verloren. Voller Schrecken packten mich meine Mitschüler, legten mich hinter eine Bank an den Boden, setzten sich, mich unsichtbar zu machen, mit dichtgedrängten Füßen davor und ließen mich so bis zum Ausgang der Stunde liegen. Ich kam allmälig wieder zu mir, schlich unter der Assistenz Einiger mit einer fürchterlichen Beule und entsetzlichen Schmerzen nach Hause und konnte erst nach einigen Tagen die Schule wieder besuchen.

In der Physik war es ähnlich. Auch in ihr gab Meyer den Unterricht, beschränkte sich aber, wozu fast alle Lehrer der Mathematik und Physik neigen, auch hier auf eine Elite und ließ uns Uebrige treiben, was wir wollten. Gewöhnlich lasen wir Romane. Nur zuweilen richtete er an uns Pöbel einige Fragen, mit offenbarem Humor, uns[112] etwas einzuschüchtern, damit wir nicht zu weit in den Freiheiten gingen, die uns unser Unverständniß gestattete. Ich höre noch seine Stimme: »Wenn das Licht aus einem dünneren Medio in ein dickeres übertritt, was geschieht?« Hierauf oder auf die umgekehrte Frage antworteten wir stereotyp: »Es bricht sich.« Damit waren wir abgefunden.

In der Naturgeschichte wurde nur bis Tertia hin Unterricht gegeben. Valet zeigte uns Kupfer von Thieren und las uns aus Büchern vor. Nach der utilistischen Auffassung der Natur, wie die Aufklärung sie geschaffen hatte, wurden die Vertilgungsarten schädlicher Thiere sehr weitläufig vorgetragen. Ich erinnere mich, daß der Vortrag über die Mäuse und Ratten nach Bechstein Monate lang dauerte.

Ich hatte für die organische Natur vielen Sinn. Ich besaß Stein's große Naturgeschichte. Ich zeichnete mir aus Kupferwerken viele Pflanzen und Thiere ab.

Aber es fehlte mir an wissenschaftlichem Einblick. Blumenbach's Handbuch der Naturgeschichte hatte ich mir erst von einem Vetter Wilhelm Hüttmann geliehen und excerpirt und kaufte mir es später selbst, weil es mir am meisten eigentliche Erkenntniß schaffte. Ohne weitere Anleitung und Erklärung half es mir jedoch auch nicht viel.

Mit derselben Zeit würde man bei richtiger Auswahl der charakteristischen Formen und vorsichtiger Anwendung der vergleichenden Methode sehr Vieles leisten, während das Interesse für die Naturwissenschaft auf den Gymnasien durch den langweiligen Vortrag gewöhnlich getödtet wird. Die Schüler merken schon früh, daß es für die Entscheidung der Reife zum Abgang nicht auf sie ankommt. Mit der Geographie, die im Grunde doch auch Naturwissenschaft, verhält es sich ähnlich. Ich hatte eine große Liebe zu ihr, die sich in dem Eifer kund gab, mit welchem ich Reisebeschreibungen las, aber der Unterricht darin war sehr mangelhaft, selbst bei Wilke.

Er dauerte auch nur bis Tertia. In Secunda wurde nur für die Geschichte die alte Geographie von Griechenland und Rom genauer durchgenommen.

Die philosophische Bildung erwuchs mir eigentlich unbewußt aus dem Religionsunterricht, aus der philosophischen Propädeutik und aus enzyklopädischen Werken.[113]

Der Religionsunterricht war, wie schon erwähnt, auf Quarta Erklärung von Ziegenbein's Katechismus mit Auswendiglernen vieler Bibelverse und Gesangbuchstrophen.

In Tertia trug Valet den ersten Theil der Kirchen-und Dogmengeschichte vor, dem in Secunda der zweite folgte.

Er hielt sich, wie ich später erkannte, an Henke mit Zuhülfenahme seiner akademischen Hefte.

Ich hatte viele Mühe, die Namen der Ketzer, der Concilien, der Bischöfe, Päpste und Ausbreiter des Christenthums zu behalten. Es blieb damals diese ganze Welt des Monophysitismus und Dyophysitismus, der Nestorianer und Arianer u.s.w. für mich ein Räthsel.

Ich halte eine solche abgesonderte Darstellung der Kirchen- und Dogmengeschichte für einen Fehler auf dem Gymnasium. Das Wesentliche davon kann in dem Vortrag der Weltgeschichte erwähnt werden. Ja, es muß dort erwähnt werden.

In Secunda fing die Lectüre des neuen Testaments in der Ursprache an, die in Prima fortgesetzt ward.

Auch sie halte ich für einen Fehler. Sie macht den Schüler mit einem andern Griechisch bekannt, als er es in den Classikern findet, mit dem sogenannten Hellenistischen Idiom, das sich in hebraisirenden Formen bewegt.

Wer nicht auch Hebräisch lernt, kann sie nicht verstehen.

Der Schüler wird zerstreut, gestört.

Der theologische Nutzen aber ist gering. Die Lehrer machen sich breit mit den Commentaren, welche sie auf der Universität gehört haben. Händler trug uns die ganze Eichhorn'sche Hypothese vom Ur- Evangelium vor.

Die Kritik einzelner Stellen führt durch die Varianten der Codices zum Skepticismus. Ich habe nichts gegen diesen, allein ich glaube, daß das Gymnasium noch nicht reif genug für sein Verständniß ist.

Außerdem war Niemeyer's Lehrbuch der Religionswissenschaft eingeführt. Es enthielt eine kurze Geschichte der Wissenschaften überhaupt von Thales an, eine Kirchen- und Dogmengeschichte und eine Moral und schloß sich Kant'schen Grundsätzen an.

Redlich, kann ich sagen, habe ich mich bemüht, aus ihm zu lernen.[114] Hundertfältig habe ich es in die Hand genommen. Aber es ließ mich kalt.

Am meisten interessirte mich noch jene Einleitung, welche einen Ueberblick der Schicksale der Philosophie brachte.

Die Namen, die ich hier fand, suchte ich mir durch Nachschlagen in Jöcher's Gelehrtenlexikon, das ich besaß, in Bouginé's Handbuch der allgemeinen Literaturgeschichte und zuletzt im Conversationslexikon zu beleben.

Der Trieb, mir eine vollständigere Kenntniß der Literatur zu schaffen, warf sich erst auf Specialwerke.

Die Encyklopädie der classischen Alterthumskunde von Schaaf, Prediger in Schönebeck, hatte 1820/21 eine neue Auflage erhalten, die ich von meinen Freunden Hänel, in deren Offizin sie gedruckt war, zum Ge schenk empfing.

Dies Buch ist eines der wahrhaft classischen Schulbücher, die eine Nation nicht sowohl durch immer neue zu verdrängen, als vielmehr in neuen Auflagen nur zu verbessern suchen sollte, um ihren Gebrauch immer allgemeiner zu machen.

Der erste Band enthält die Geschichte der Literatur und die Mythologie, der zweite die Archäologie der Griechen und Römer. Ich lernte viel daraus.

Für die romanische Literatur hielt ich mich an Bouterweck und Sismondi, die ich in unserer Schulbibliothek vorfand.

Es glückte mir, für einen umfassenden Ueberblick Meusel's Leitfaden zur Geschichte der Gelehrsamkeit, drei Bände, zu kaufen; ein für jene Zeit ganz vorzügliches Werk!

Wachler's allgemeine Geschichte der Literatur, die ich mir später kaufte, ist in vieler Beziehung nur eine Reproduction desselben in jener kräftig scheinenden Sprache, die Wachler sich zurecht gemacht hatte und von deren Schimmer ich durch seine Vorlesungen über die teutsche Nationalliteratur bestochen war.

Eichhorn's Literaturwerk lernte ich nur theilweise kennen, soweit es sich auf das Mittelalter bezieht.

Eine unendliche Menge von Büchertiteln aus allen Zweigen des Wissens notirte ich mir, weil ich meinte, ich könnte ihrer einmal bedürfen. Es war gar kein bestimmtes Ziel, das ich verfolgte.[115]

Selbst in Noltenii Lexicon antibarbarum, das ich einst erhandelte, las ich die angehängte Geschichte der aetates der römischen lingua mit einer stupiden Andacht.

Es war daher ein großes Glück, daß bei uns eine philosophische Propädeutik gelehrt ward, die mir doch bestimmtere Begriffe gab.

Brederlow trug in Secunda eine empirische Psychologie und eine Rhetorik vor, welche die Poetik mit in sich schloß. Ich wurde ihnen viel Aufklärung schuldig.

In Prima trug Solbrig die philosophische Grammatik vor.

Zuletzt endlich hörte ich bei Solbrig Logik, die er nach Krug vortrug. Sie war uns Allen entsetzlich langweilig und unverständlich, weil der Rector, wie ich glaube, zwar den besten Willen hatte, jedoch selber in dieser abstracten Materie nicht recht zu Hause war. Die Spielerei mit den Buchstaben für die logischen Begriffe und mit den Kreiszeichnungen für die Urtheile und Schlüsse zerstörte vollends die Ansätze, die unser Denken zur Aneignung der Kategorien und der Denkformen machte. –

Nie hätte ich damals geahnt, daß ich selbst eines Tages sogar eine ausführliche Logik schreiben würde. Indessen wurden wir wenigstens mit der Terminologie vertraut.

Unstreitig lebte in mir ein wahrhafter Erkenntnißdrang, allein in meiner ganzen Umgebung war Niemand, der mir zu rathen vermocht hätte. Ich war ganz mir selbst überlassen.

Es ging mir im Philosophischen, wie im Altdeutschen. Ich verirrte mich in leere Aeußerlichkeiten, während ich innerlichst nach dem Wesen seufzte.

Das Symptom, welches bei mir den Hang zur Wissenschaft schlechthin damals verrieth, war der Encyklopädismus.

Ich hätte gern Alles gewußt. Immer weiter aber dehnten sich die Grenzen. Immer unermeßlicher häufte sich der wissenswürdige Stoff.

Ein altes Buch von Sulzer, ein anderes von dem Hamburger Büsch über allgemeine Wissenschaftskunde, das ich irgendwo auflas, gaben mir den ersten Anstoß zu dem Versuch einer systematischen Ueberschau aller Wissenschaften.[116]

Ich las und las diese Bücher ohne alle Kritik. Eine Wissenschaft schien mir so wichtig, als die andere.

Da schenkte mir mein Vater zu Weihnachten 1821 Klügel's Encyklopädie der Wissenschaften, prachtvoll gebunden.

Ich war entzückt, einen solchen Schatz zu haben.

Die Encyklopädie enthielt eine deutsche Sprachlehre von Klügel; eine Arithmetik, Geometrie, Mechanik und Statik von demselben; eine Astronomie, Naturlehre und Naturgeschichte auch, wenn ich nicht irre, von ihm. Von Andern war eine bürgerliche Baukunst und Schiffszimmerkunst. Die theoretische und praktische Philosophie, halb Wolffisch, halb Kantisch, war wieder von Klügel. Die Geschichte hatte Remer in Helmstädt, die Geographie der außereuropäischen Länder Bruns, die Geographie Europas Stein gearbeitet. Mit dieser schloß das Werk.

Man kann sich vorstellen, mit welchem Eifer ich an seine Lectüre ging.

Bald aber zeigte sich, daß die Behandlung der Wissenschaften darin eine ganz andere war, als sie in dem Pädagogium herrschte. Ich verstand die Definitionen der Begriffe, welche Klügel gab, nur mühsam oder gar nicht. Die Ordnung war eine andere, als diejenige, an welche ich mich schon gewöhnt hatte. Die deutsche Sprachlehre ward bei uns nach dem sogenannten kleinen Adelung, die Mathematik, wie schon erwähnt, nach Lorentz, die Geschichte nach Kohlrausch und Wachler vorgetragen.

Die Folge war, daß dies umfangreiche Werk, statt, wie der Vater beabsichtigte, mich aufzuklären, mich nur noch gründlicher verwirrte und mich noch mehr zerstreute.

Ich fiel daher auf Thorheiten. Ich wandte z.B. einst eine ganze schöne Ferienzeit dazu an, zu Remer's Weltgeschichte ein Register zu fertigen, das ich dann, quasi re bene gesta, schön einbinden ließ und neben der Encyklopädie auf das Bücherbrett hinstellte.

Das ganze Werk wurde mir endlich verhaßt. Ich entdeckte allmälig so viel, daß es eigentlich einem schon antiquirten Standpunkt der Bildung angehöre, mich also mehr hemmen als fördern müsse. Diese Ueberzeugung wuchs, als ich in Berlin studirte. Alls ich diese Stadt Ostern 1826 verlassen wollte, verkaufte ich die ganze Encyklopädie[117] einem Antiquar, der unter den Colonnaden der Alexanderbrücke sein Gewölbe hatte. Der schöne Einband bewirkte, daß ich es leidlich bezahlt erhielt. Als ich 1828 um Michaelis wieder nach Berlin kam, ging ich eigends nach der Colonnade hin, die abgestellten Bücher des Antiquars mir anzusehen. Und siehe, da stand die Encyklopädie noch in einem Glasschrank in aller Pracht, welche der geschickte Curtius ihr gegeben.

Ich fand also keine Befriedigung, wie ich sie suchte.

1823 kaufte ich mir daher ein Taschenconversationslexikon in vier Bänden, das zugleich eine systematische Generalkarte aller Wissenschaften enthielt.

Dies Werk war schon mehr im modernen Geist abgehalten und gab mir manche gute Anregung.

Da es aber alphabetisch abgefaßt war und die systematische Uebersicht nur die Namen der Wissenschaften tabellarisch ohne Entwicklung der Begriffe angab, so vermehrte auch dies Buch nur meine Verworrenheit.

Ich weiß nicht, wo ich es gelassen habe, aber manchmal habe ich mir seinen Besitz zurückgewünscht, weil es in der That einer höheren Auffassung huldigte.

Wenn ich jetzt nach so langer Zeit auf jene Irrsale meines Jugendstrebens zurückblicke, so erkenne ich als einen Hauptfehler, daß ich so Vieles immer von Neuem aufnahm, ohne es wenigstens bis zu einem gewissen Grad zu erledigen.

Hätte ich mir selbst für alle Wissenschaften die ersten Hefte, die ich für sie schrieb, so angelegt, daß ich zu den fundamentalen Bestimmungen die weiteren Kenntnisse, die ich erwarb, mit einer gewissen Leichtigkeit hätte hinzuschreiben können, etwa so, wie ich es lange mit Kohlrausch's chronologischen Tabellen wirklich machte, so hätte ich viel gediegenere Kenntnisse sammeln, viel schärfere Begriffe bilden müssen.

Wie unendlich oft wiederholen wir nicht auf Schulen, auf Universitäten, im Lernen und Lehren, denselben Kreis. Man erwäge, daß im Thatsächlichen Vieles sich doch nicht ändern kann, wenn gleich die Ansichten darüber sich ändern.

Die Ilias und Odyssee sind, was sie sind, mag man ihren Ursprung so oder so erklären.[118]

Die römischen Könige sind, was sie sind, mag man, was wir von ihnen wissen, als Historie oder als Mythe ansehen.

Eben so ist es mit Begriffen. In der Geometrie sind der Punkt, die Linie, der Winkel, das Dreieck u.s.w. in ihrer Bestimmtheit über alle Versuche hinaus, welche die Geometer gemacht haben und machen werden, uns die Genesis dieser Raumformen zu erklären.

In der Poetik sind das Epos als heroisches, sei es religiöses oder nationales, als romantisch erotisches und als idyllisches feste Begriffe, in welcher Ordnung oder aus welcher Ableitung heraus man sie auch darstellen möge.

Diese einfache Substanz sollte man festzuhalten versuchen.

Statt dessen besteht ein großer Theil gerade unseres gelehrten Wissens darin, von zahllosen Büchern zu wissen, in denen die Gegenstände unserer Erkenntniß in der That oft nur so verschoben sind, wie die bunten Glasstücke und Perlen in einem Kaleidoskop, wenn man es ein wenig dreht.

Man frage sich doch, welches denn zwischen so vielen Grammatiken, Lehrbüchern der Arithmetik und Geometrie, der Naturlehre, der Geographie und Geschichte, der Logik u.s.w. der wahrhafte Unterschied sei? Man wird, ganz Unwesentliches abgerechnet, keinen zu finden vermögen.

Es wäre also ganz überflüssig gewesen, solche Bücher zu schreiben.

Oft unterscheiden sie sich nur durch das größere Ungeschick und den schlechteren Styl.

Die Kenntniß der Literatur hat nur dann einen Werth, wenn sie mit Kritik verbunden ist und wenn sie in eine Geschichte des Erkenntnißprozesses übergeht, der in seinen Wandlungen seine Selbstkritik vollzieht.

Davon aber wußte ich damals nichts, und stopfte mein Hirn mit einer Menge inhaltloser Namen voll.

Wie es möglich gewesen, daß ich so Vieles zugleich habe betreiben können, begreife ich jetzt kaum, und erkläre es mir nur durch meinen großen Fleiß.

Im Sommer stand ich zwischen vier und fünf Uhr auf und diese[119] stillen Stunden bis nach sechs Uhr, wo Kaffee getrunken wurde, hatten etwas himmlisch Ideales. Ich sehe noch, wie die ersten Strahlen der Morgensonne beim Aufsehen hoch oben auf dem Giebel von Kerstens Hinterhause glänzten, bevor sie senkrechter herunterstiegen, das rege Leben des Marktgetümmels zu wecken.

Und Abends hörte ich in unserer großen Schlafstube zur Winterzeit alle meine Lieben – oft nur mit Ausnahme der guten kranken Mutter – sanft im Schlummer athmen, während ich noch bis Mitternacht arbeitete. Die Füße froren mir oft, der Kopf glühte. Der Schirm einer kleinen Studirlampe war niederschlagen, Schatten zu verbreiten. Heut zu Tage würde ein junger, an Gaslicht gewöhnter Mensch glauben, sich die Augen dabei zu verderben.

Noch eine andere Bemerkung über die Vereinfachung des Schulunterrichts kann ich mir hier nicht versagen. Sie betrifft die Ausgaben der Classiker. Ich halte nämlich für wünschenswerth, daß sie von den Schülern nur in ganz einfacher Gestalt besessen werden. Der Lehrer möge sich mit den verschiedenen Lesarten der Handschriften, mit den verschiedenen Conjecturen und Auslegungen, mit den Parallelstellen bei demselben Autor und bei andern, gründlich bekannt machen, aber für den Schüler ist dieser ganze kritische Apparat ein verderblicher Luxus, der ihn die Sache zu sehr aus den Augen verlieren läßt. Ich besaß den Virgil in der Heyne'schen, den Horaz in der Zeune'schen Ausgabe. Wie oft habe ich da nicht das Argumentum, die Animadversiones, die Excursus gelesen, ohne etwas Anderes, als Zerstreuung davon zu tragen. Das Verständniß wurde oft von der Wahrheit abgelenkt. Die Bemerkungen waren oft so überraschend trivial, daß ich mich zweifelnd fragte, ob ich sie auch recht verstanden?

Selbst beim Platon, den ich nur in der Schäfer'schen Ausgabe von Tauchnitz besaß, konnte ich nicht unterlassen, die angehängten Griechischen Scholien nachzusehen, weil ich mir einbildete, in ihnen die rechte Tiefe Platons erschlossen zu finden.

Darüber wurde dann dem Studium des eigentlichen Textes Zeit, Kraft und Vertiefung entzogen. Ich habe aus dem Gymnasium, abgesehen von den Wörtern und Redensarten, von Platon, der in Prima[120] bei Koch gelesen wurde, nichts verstanden, trotz oder vielmehr wegen der Scholien.

Was der gute kranke Koch, auf dessen Stube wir uns versammelten, zur Erklärung sagte, verstand ich noch weniger als die Scholien.

Wenn nun heutzutage sogar elementare Lesebücher, die nicht zum Selbstunterricht, sondern für die Schule bestimmt sind, mit Anmerkungen überladen werden, die Alles und Jedes erklären, so halte ich das für einen höchst unpraktischen Mißgriff. Der Schüler wird bequem, denkt nicht nach, lernt nicht das Lexikon gebrauchen und nicht seine anderweitig erlernten Kenntnisse in's Spiel setzen. Er vergißt daher ebenso schnell, als er lernt.

Wenn es nach dem bisher Erzählten den Anschein gewinnen muß, als sei ich ganz in das Bücherwesen aufgegangen, so sorgte doch das Leben dafür, daß sich auch der Sinn für die Wirklichkeit entwickeln konnte.

Bald war es die Familie, die zu Festlichkeiten sich vereinte, z.B. wenn der Bruder meiner Mutter, Philipp Grüson, Professor der Mathematik in Berlin, mit seiner Frau zum Besuch kam; oder wenn es eine Hochzeit von Verwandten gab; oder wenn, wie eine Zeitlang bei Onkel Hüttmann, eine Tanzstunde arrangirt war; oder wenn wir Kinder Winterszeit als Anhang zu einem Kartenkränzchen mitgenommen wurden; das mein Vater mit einigen Steuerbeamten hielt und wo wir namentlich sehr gern zum Steuerdirektor Daubert in der Accise am breiten Wege gingen, weil hier große Höfe und Bodenräume waren, in denen wir uns recht austoben konnten. Sommers hatten die Familien ein Gartenkränzchen, das in verschiedenen Gärten der Stadt, zuweilen auch vor dem Ulrichsthor, im Gummert'schen Garten, abgehalten wurde. Die Herren kegelten dann, während wir Kinder alle möglichen Spiele trieben und die Mütter für die leibliche Pflege sorgten.

Aber auch das öffentliche Leben ließ es nicht an Aufregung fehlen.

Zuweilen kam der König nach Magdeburg. Da gab es denn großen Zapfenstreich, große Parade, Illumination, auch des Domes (an welchem der deshalb bewunderte Glasermeister Beck die Lampen bis[121] zur Blumenkrone des Thurmes hinaufbrachte), Feuerwerk auf dem Anger vor dem Biederitzer Busch. Das waren immer köstliche Tage.

Zuweilen waren es auch schreckliche Dinge, wel che die Phantasie in Anspruch nahmen. Magdeburg, als eine Festung, hatte auch sogenannte Baugefangene, die in graugelber Kleidung, mit Ketten belastet, zu öffentlichen Arbeiten verwendet wurden und denen man daher oft in den Straßen begegnete. Was erzählte man sich nicht Alles von diesen finstern Gesellen! Früherhin war der Uebergang über den Hof der Citadelle erlaubt. Wie scheu blickten wir da nicht in die Casematten, in denen die Gefängnisse der Verbrecher waren!

Wie furchtbar war das Entsetzen, wenn man zufällig über den Hof kam, während eine Prügelstrafe vollstreckt ward und der Sträfling mit abgezogenen Oberkleidern das Hemd heruntergeschlagen, auf den nackten Rücken die Kantschuhiebe mit stummem Grimm oder lautschreiend empfing! Es war nur in der Ordnung, daß dieser Durchgang später verboten ward.

Eines Tags kam ich mit meinem Vater über die Strombrücke. Unweit vor uns ging ein Strafgefangener, von einem Soldaten begleitet. Plötzlich schwang sich der Gefangene über das Geländer, seinen Tod in dem Wasser zu finden. Es entstand sofort ein allgemeines Halloh. Kähne stießen von den in der Nähe gelegenen Wassermühlen ab. Der Gefangene war zwar untergesunken, aber die Mächtigkeit des hier zusammengezwängten Stromes hatte ihn wieder emporgebracht. Genug, er ward wieder aufgefischt und war zwar bewußt- aber nicht leblos.

In einem Eckhause, bei welchem mein Schulweg mich oft vorbeiführte und in welchem ein Schulkamerad Ziegler als Pensionär lebte, war eine gräßliche That geschehen. Zwei alte Damen, die hier zu ebener Erde wohnten, waren beraubt und ermordet gefunden. Der Mörder hatte sie theils mit Betten erstickt, theils mit der Spitze einer Kaffeetrommel schrecklich getödtet. Bald wurde der Mörder ermittelt. Es war ein Soldat, der Bruder unserer Waschfrau, die auf dem rothen Horn wohnte und eine durchaus rechtliche Frau war. Sie war außer sich über die Beschimpfung ihrer Familie.

Oft begegneten wir nun dem Unglücklichen Mittags in der Klosterstraße, wenn er vom Inquisitoriat mit einer Wache wieder nach der[122] Citadelle zurückgeführt wurde. Man hatte ihm zwei Hörner von Holz auf den Kopf gesetzt, an welchem sich Schellen befanden. Endlich wurde er zum Tode durch das Rad verurtheilt. Er war reumüthig und sehnte sich zu sterben. Das Schaffot ward vor dem Krökenthor aufgerichtet. Man durfte es Tags zuvor besehen. Ich ermangelte nicht, mit einigen Kameraden hinzugehen, um von der Vorrichtung zum Rädern einen Begriff zu bekommen, denn die Balken mit den Austiefungen zum Zerbrechen der Knochen waren schon befestigt. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Am andern Morgen herrschte eine feierliche Dumpfheit in der Stadt. Ich lief noch nach dem breiten Wege, wo der Zug vorüber kam, der in seiner Mitte den bleichen, langbärtigen, elenden, armen Sünder auf einer Schleife hatte, die mit einer Kuhhaut bedeckt war. Ich schauderte, ich weinte, ich wollte dem Zuge folgen, aber ich konnte es doch nicht über mich gewinnen und schlich wieder nach Hause, wo ich in einer unbeschreiblichen Seelenangst zubrachte, bis die rückkehrenden Menschenmassen, die sich erzählend durch die Straßen drängten, das Geschehensein der Hinrichtung ankündigten.

Erst allmälig legte sich bei mir die Aufregung.

Auch eine mehrere Jahre später erfolgende Hinrichtung durch das Beil konnte ich mich nicht entschließen, anzusehen.

Von dem mannigfaltigen Aberglauben, der sich bei diesen Gelegenheiten in Betreff der fabelhaften Wirkungen kund gab, welche ein Stückchen in das Blut der Hingerichteten eingetauchtes Zeug oder gar ein Haar oder Knochen von ihnen haben sollte, kann man sich jetzt kaum noch eine Vorstellung machen. Sie bildeten wochenlang das Tagesgespräch.

Die Festung hatte auf ihren beiden Thoren einen kurzen Thurm. In dem nördlichen wurde ein großes Feuerwerk zubereitet, das am 3. August, dem Geburtstage des Königs abgebrannt werden sollte. Durch irgend einen Zufall entzündete es sich. Der Thurm flog in die Luft und das explodirende Pulver schleuderte die großen Sandquadersteine, mit denen er an den Ecken eingefaßt war, weit umher. Der Krach war ungeheuer. Alle Fenster erbebten. Es war Morgens etwa um 9 Uhr. Wir Schüler stürzten mit den Lehrern auf den Spielplatz, bis wir den Grund erfuhren. Als ich Mittags nach Hause kam, hörte[123] ich, daß mein Vater sich gerade, weil er Holz auf einer Holzstrecke bestellt hatte, auf dem außen vorüberführenden Wege befunden hatte. Einer der mächtigen Quadersteine war unweit von ihm durch das Dach eines Hauses niedergeschlagen, das einem Bäcker gehörte.

Er war ganz unbeschädigt davon gekommen. Bei solchen Gelegenheiten mag man nun von Zufall reden, so viel man will, so wird man ein Dankgefühl für die Gunst des Zufalls nicht unterdrücken können. Bei uns aber, da wir alle fromm waren, verwandelte sich dies Gefühl in den gerührtesten Dank gegen Gott und wir umarmten und küßten den lieben Vater mit Inbrunst, daß er einem schrecklichen Tode entgangen und uns gleichsam neu geschenkt war.

Eine eigenthümliche Welt wurde mir auch durch den Umgang erschlossen, in dem ich mit Jacob Simon, dem Sohn eines jüdischen Wattenfabrikanten am breiten Wege, trat. Es war ein vortrefflicher Mensch, den ich sehr geliebt habe, obwohl wir in späteren Jahren außer allem Verkehr kamen.

Seine Eltern waren ebenfalls ganz ausgezeichnete Menschen; der Vater aufgeklärt, die Mutter orthodox. Zwei Schwestern, Emma und Julie, waren sehr liebenswürdige Mädchen; die ältere etwas sentimental, die jüngere, die nach orientalischem Typus schön war, schalkhaft und mit großem musikalischen Talent ausgestattet. Der erste Commis, Fröhlich, gehörte gleichsam zur Familie. Es war ein kleiner beweglicher Mann, der an Bildungseifer mit den Kindern seines Prinzipals um die Wette sich bemühte. Er war ein Rigorist in der Moral, aber gegen Andere voller Freundlichkeit und Dienstfertigkeit. Ein eigener trockener Witz stand ihm zu Gebot.

In dieser Familie lernte ich nun erst alle die Widersprüche kennen, in welche das moderne Judenthum inmitten einer christlichen Bevölkerung verfällt. Welche seelenzerreißende Kämpfe entspinnen sich daraus! Ich dachte anfänglich gar nicht an den confessionellen Unterschied. Ich kam und ging mit höchster Unbefangenheit und wurde stets mit der größten Freude empfangen. Ja, man trug mich auf Händen und widmete mir eine Zärtlichkeit weit über mein Verdienst, die mich rührte, indem sie mir schmeichelte. Nie ist es mir im entferntesten eingefallen, meinerseits das christliche Element hervorzukehren. Erst nach mehreren[124] Jahren, sehr allmälig, wurde ich inne, wie die Mutter, festhaltend am mosaischen Glauben, sich zu grämen anfing, als die Kinder zum Christenthum sich hinzuneigen begannen und wie der Vater, wenn er auch als aufgeklärter Mann tolerant war, doch sehr empfindlich berührt ward, als sein Sohn entschieden zum Christenthum übertrat und sich taufen ließ.

Emma, die älteste Tochter, ließ sich ebenfalls taufen, um einen christlichen Beamten zu heirathen.

Julie mußte der Mutter versprechen, wenigstens so lange sie lebe, in dem Glauben der Synagoge zu verharren. Als die Mutter endlich gebrochenen Herzens starb, wurde auch sie Christin und heirathete ebenfalls einen christlichen Beamten.

Fröhlich hatte sich in Emma verliebt. Als sie einem Christen die Hand gab, wurde er menschenscheu und starb plötzlich. Er hatte in den letzten Jahren seines Lebens viel Sonderbarkeiten gezeigt. So gehörte es zu seinem größten Vergnügen, zur Sommerzeit mit Sonnenaufgang nach dem Biederitzer Walde zu gehen, einen Band von Jean Paul in die Tasche zu stecken, sich einen recht einsamen Fleck auszusuchen, auf einen Baum zu klettern und in dieser vogelartigen Situation sich Jean Paul laut vorzulesen.

Mein geliebter Jacob war von großer Empfänglichkeit. Schnell reizte ihn Alles. Schnell assimilirte er. Schnell ahmte er nach. Aber es fehlte ihm an Ausdauer, um es in einer Kunst oder Wissenschaft zu etwas Bedeutenderem zu bringen. Auch neigte er in der Ausführung zu extremen Formen.

Er hatte, wie die meisten Juden, musikalisches Talent; er lernte zuerst die Violine, dann auch das Clavier. Erstere spielte er gut. Auch dem Cello wandte er sich zu.

Alle Sprachen lernte er leicht. Mit Leidenschaft warf er sich auf das Griechische, als Primaner auch auf die Kunstgeschichte, in welcher er mir mit dem Studium Winkelmann's imponirte, den ihm sein Vater schenkte. An Geld zu Büchern und Kunstgenüssen ließ dieser überhaupt es ihm nicht fehlen.

Es steckt im modernen Juden ein ungeheurer Drang nach Bildung, denn durch sie kann er thatsächlich beweisen, daß er werth ist,[125] in gesellschaftlicher Beziehung jedem Andern gleichgestellt zu werden. Der Jude entwickelt daher eine ungemeine Rührigkeit. Das energische Naturell seiner Race unterstützt ihn in seinem Bemühen. Hat er aber einen gewissen Grad von Fertigkeit erreicht, durch den es ihm gelingt, sich mit Erfolg geltend zu machen, so wird er oft stehen bleiben. Seinen Arbeiten auf dem Gebiete der Kunst und Wissenschaft haftet daher oft im Inhalt etwas Eklektisches, in der Form etwas Aeußerliches an. Die reine, sich in sich vertiefende Originalität, die continuirliche Tendenz in's Unendliche, ist daher unter den jüdischen Talenten eine seltene und in Erwägung aller Umstände, welche den Juden in älterer Zeit hemmten, um so ruhmvoller anzuerkennende.

Aus den vielfachen Studien meines Freundes Simon ist zuletzt nichts besonderes hervorgegangen, so große Erwartungen ich oft von ihm hegte. Er ist gestorben, ohne etwas Anderes, als ein paar Bände Predigten, zurückzulassen.

In seiner Jugend war er der heiterste Mensch, der für das Komische vielen Sinn hatte, so daß ich mich kaum erinnern kann, mit irgend Jemand mehr als mit ihm gelacht zu haben. Ich mußte oft über sein Lachen lachen.

Wurde ich so mit dem jüdischen Element in eine Berührung gesetzt, die sich in meinem Leben noch unendlich oft wiederholen sollte, da ich stets mit vielen ungetauften und getauften Juden und Jüdinnen Umgang gehabt habe, so wurde ich nach einer andern Seite auch einmal wieder, jedoch sehr vorübergehend, mit dem Katholicismus der mir in meiner Kindheit vom Neustädter Nonnen-Kloster her nicht fremd war, in ein näheres Verhältniß gebracht. Eine Cousine von mir, die Oberamtmann Schulz, eine reiche Wittwe, war mit dem Hauptpfarrer der katholischen Kirche, Döleker, sehr befreundet. Durch sie lernte mich dieser Mann kennen und fand an mir einen gewissen Geschmack, weil ich mich des Mittelalters wegen auch der ästhetischen Seite des Katholicismus zuwendete, die ja in der Romantik stets außerordentlich gefeiert ward. Die Burgen nicht nur, auch die Klöster, und die gothischen Kirchen, der Cultus der Messe, der Mariendienst, waren ja Lieblingsgegenstände der Romantiker. Der Pfarrer Döleker hatte die Güte, mich mit der Einrichtung der Kirche genau bekannt zu machen. Er[126] wies mir auch den Mechanismus des Beichtstuhls. Er schloß die großen Schränke auf, in denen die Prachtgewänder des fungirenden Priesters hingen und erklärte mir ihre Farben, ihren Schnitt, ihren Gebrauch. Er borgte mir auch den Prudentius, nachdem ich ihm einige Bekanntschaft mit Boethius verrathen hatte.

Aber diese Eindrücke hafteten nicht tief. So poetisch mir das katholische Element immer von Außen her erscheint, wenn ich nicht selbst dabei betheiligt bin, so beklommen macht es mich, wenn ich mich innerhalb seines magischen Kreises stellen soll. Dann empört sich sofort mein Verstand gegen alle Wunder seiner Heiligen, gegen den Exorcismus seiner Sacramente, gegen die Apotheose der Maria. Mein Freiheitsgefühl aber empört sich gegen die Abhängigkeit des Laien vom Priester. Ich war zu tief aus der reformirten Kirche hervorgegangen, als daß ich zwischen mir und Gott irgend eine menschliche Vermittelung hätte ertragen können. So sehr ich daher die berechnete Ordnung des Kirchendienstes, die Symbolik des Cultus in ihren Kleidern, Gefäßen, Rauchopfern, Weihwassern und Ceremonien, so sehr ich kirchliche Baukunst, Malerei und Musik bewunderte, so empfand ich doch dies Alles nicht anders, als ich auch die Schönheit des antiken Hellenischen Cultus genoß, dessen Wirklichkeit mich noch weniger zu befriedigen vermocht hätte. Mein Erstaunen, meine zustimmenden Aeußerungen über Zweckmäßigkeit und Schönheit dessen, was der gefällige Mann mir zeigte, erreichten bald eine Grenze, wo ich fühlte, daß ich unwahr zu werden anfing. Ich hörte daher bald auf, zumal auch meine Neugier gesättigt war, den Herrn Pfarrer zu besuchen. Einige Jahre später sollte ich allerdings selbst einmal von Innen heraus in eine katholisirende Anwandlung verfallen. Sie hing mit meinem theologischen Studium zusammen, wurde aber bald überwunden.

Aus dem bisher Gesagten erhellt schon, daß das kirchliche Leben mich in meiner Jugend viel beschäftigte. Von Hause aus gehörte ich der reformierten Kirche an; diese stellte sich mir aber in dreifacher Gestalt dar: als wallonische am Petersberge, wo ich getauft und confirmirt ward und in welche die Familie meiner Mutter, das zahlreiche Geschlecht der Grüson's, eingepfarrt war; als französische in einem nicht sehr großen Gebäude auf einem von Häusern eingeschlossenen Hofe im[127] Jacobiviertel, und als deutsch-reformirte am breiten Wege, in der Nähe des Sudenburger Thores. Die Familien dieser drei Kirchen, die sogenannten Colonisten oder Réfugiés, waren aber alle unter einander verwandt. Unser Wirth, Defoy, war ein Vorsteher der deutsch-reformirten Kirche. In diesen drei Kirchen betrachtete ich mich daher als zu Hause, und ein Besuch des Gottesdienstes in der französisch- oder deutsch-reformirten Kirche ward selbst von der Mutter ziemlich ebenso gerechnet, als wenn ich in die wallonische ging. Ueberall fand ich in diesen Gemeinden Verwandte und Bekannte aus den Familien Coqui, Lhermet, Ravia, Seiffert, Bonte u.s.w.

Die lutherische Kirche war mir durch die Jacobikirche ganz vertraut geworden, weil wir über fünf Jahre ihr gegenüber gewohnt hatten und ich durch unsern Wirth, den Zimmermeister Struve, der die Holzbau-Reparaturen besorgte, sowie durch die Familie des Todtengräbers und Glockenläuters Wittich ganz mit allen Einzelheiten mich befreundete. In der Zeit der Erhebung gegen Frankreich hörte ich hier auch oft die Predigten der alten Pfarrer Treuding und Breytung im Abendgottesdienst. In die katholische Kirche kam ich nur selten, mit Ausnahme der geschilderten Episode. Sie war mir mehr als malerisches Schauspiel merkwürdig. In die Synagoge der Juden bin ich aber trotz meiner genauen Bekanntschaft mit dem Simon'schen Hause gar nicht gekommen.

Nun sollte ich aber auch noch eine evangelische Secte kennen lernen. Unter meinen Schulkameraden waren drei Brüder Nöldchen, Söhne eines Salinen-Inspectors aus Schönebeck. Sie zeichneten sich durch Talent und Betragen aus, und ich sowohl als Volk und Simon wurden mit ihnen befreundet. Der zweite von diesen Brüdern, Julius, wurde von Volk vorzüglich geliebt, während ich mich mehr zu Bernhard, dem ältesten, hingezogen fühlte. Julius hatte gegen mich immer ein sonderbar neckendes Benehmen, das mir zuweilen albern erschien. Er vernachlässigte sich auch oft, aber epochenweis trat er wieder mit merkwürdiger geistiger Energie hervor, sowie auch seine seltsamen Neckereien gegen mich, die sogar in cynische Töne herunterfielen, gewiß nur ein barocker Ausdruck seiner Anhänglichkeit an mich waren.

An einem Sonntage, wo die Klosterschüler zur Kreuzhorst gewallfahrtet[128] waren, ging ich mit Volk und Oppermann vor der hohen Pforte das Elbufer entlang hinter dem Trümmerberg der Neustädter Kirche bis zu dem dicken Weidicht. Dies liebten Oppermann und ich besonders. Wir gingen gern dorthin, zogen uns aus, badeten in dem flachen Uferwasser, gruben uns nackt in den warmen Sand und ergötzten uns in tausendfältigem Muthwillen, wie junge Wilde von Otaheiti oder Nukahiva. Oppermann konnte unerschöpflich in burlesken Späßen sein. Volk theilte unsere Badelust nicht. Jener Nachmittag war schwül; der Himmel war verschleiert. Ein traurig gedämpftes Licht lag mit falber Erstorbenheit auf allen Gegenständen. Es kam keine Laune unter uns auf. Wir kehrten bald wieder um, wurden müde in der Hitze und setzten uns zum Ausruhen auf einen Kahn, der am Ufer lag, indem wir den Blick über den Strom bis nach dem schräg gegenüberliegenden Herrnkrug schweifen ließen. Da gewahrte Volk in der Ufernähe eine todte Wasserratte, die auf dem trägen Spiegel unbeweglich zu liegen schien, weil das Schwanzende unterhalb von einem Stein festgehalten werden mochte, oder weil die Wellenbewegung hier zu schwach war. Sofort schlug er vor, diesen Gräuelanblick zu tilgen und das Thier mit Steinen zu bewerfen, bis es untersänke. Es geschah; wir schleppten Steine zusammen und brauchten fast eine Viertelstunde, bis das Wasser über den Leichnam hinspülte. Es war ein wunderlich widriges Beginnen, das uns nicht aufheiterte. Mißgestimmt schlichen wir nach Hause, wo ich noch von 6 bis 8 Uhr tüchtig arbeitete, aus der trüben Lässigkeit, die mich gefesselt hielt, herauszukommen.

Am andern Morgen, als ich zum Kloster kam, erfuhr ich, daß Julius, weil er sich nicht recht wohl gefühlt, nicht mit zum Kreuzhorstforste gezogen war. Am Nachmittag hatte er aber Lust zum Ausgehen verspürt und war mit noch einem Schüler nach dem Herrnkrug gewandert. Hier hatte die übermäßige Hitze sie zum Baden verlockt und Julius war ertrunken – gerade in derselben Zeit, als wir am gegenüberliegenden Ufer uns bemüht hatten, jene Thierleiche mit Steinwürfen unter das Wasser zu versenken.

Wir Alle waren schwer von dem Unglück betroffen, Volk aber besonders, da er Julius so sehr bevorzugt hatte. Er wurde eine Zeit lang ganz melancholisch und wollte nun durchaus in unserem Spaziergang,[129] in unserer unlustigen Stimmung und in unserem kindischen Beginnen, weil es der Zeit nach mit dem Tode des hoffnungsvollen Jünglings zusammentraf, etwas Ahnungsvolles, Mystisches sehen.

Mein Rationalismus sträubte sich gegen solche Annahme, allein Volk hatte eine so große Uebermacht über mich und sein Schmerz ging mir so nahe, daß ich seinen leidenschaftlichen Ergüssen gegenüber verstummte.

Der Wohnort Nöldechen's, Schönebeck, ist von Magdeburg zwei Meilen entfernt. Das Salzwerk mit einer großartigen Gradiranstalt war allein schon eines Ausfluges werth. Die Solenschen Berge lockten mich wegen ihrer Mineralien, weil ich mehrfach, wie schon erwähnt, versteinerte Muscheln auf ihnen fand. Wir wanderten daher zuweilen Sonntags hin und her. Bei Schönebeck aber liegt eine Herrnhuter-Colonie, Gnadau, die wir auch gelegentlich besuchten. Mit dem Herrnhuter Gesangbuch war ich aus dem kleinen Bücherapparat meines elterlichen Hauses bekannt. Die Namen der über den ganzen Erdboden verstreuten Herrnhutischen Gemeinden waren mir ganz geläufig; der süßliche Ton in der Liederdichtung der Brüder ein unverstandenes Räthsel. Daß aber eine einfache Gesellschaft frommer Menschen zu einer solchen Ausbreitung und Macht gelangen konnte, war mir an der Secte höchst merkwürdig. Ich betrat daher Gnadau das erste Mal mit wahrer Ehrfurcht. Wir besahen uns das Bethaus. Die einfache Tracht der Brüder und Schwestern, das stillfreundliche Betragen derselben, ihre Betriebsamkeit in Industrie und Handel, die überall herrschende Ordnung und Sauberkeit machten einen sehr wohlthätigen Eindruck auf uns. Wir tranken im Gasthause vortrefflichen Kaffee und kauften für unsere Schwestern noch in einer Conditorei einige Näschereien zum Geschenk.

Nach dem Tode von Julius wandte Volk seine Neigung theils dem jüngsten Nöldechen, Wilhelm, vorzüglich aber einem Mitschüler, Klee, zu, mit welchem auch ich, nachdem Volk abgegangen, ebenfalls sehr innig mich verband und das ganze Leben über in Freundschaft blieb, zumal wir durch seine Verheirathung sogar weitläufig verwandt wurden. Klee gehörte zu den frühreifen Menschen. Er war klein von Gestalt, aber sehr lebhaft und von den angenehmsten Sitten. Mit[130] sechszehn Jahren war er in Oberprima und nach Volk's und Oppermann's Abgang war er, als ein ausgezeichneter Lateiner, längere Zeit der einzige Operprimaner. Klee vergötterte Jean Paul, dem ich damals noch keinen rechten Geschmack abgewinnen konnte, obwohl Strebe ihn uns sehr empfahl und mein eigener Vater sich aus der Lectüre seiner Romane ein Fest machte. – Von Jean Paul wurde Klee zu Jacobi's Philosophie geführt, worauf ich später zurückkommen werde. Ich bewunderte Klee's Fassungskraft, daß er Jean Paul so gründlich zu verstehen schien, während mir mehrere Anläufe, die ich damals machte, gänzlich mißglückten. Noch mehr aber bewunderte ich Klee, als er eigentlich philosophische Schriften förmlich zu studiren begann, denn ich selbst bildete mir ein, daß sie für mich noch viel zu schwer seien. Klee wollte Jurist werden und im letzten Semester seines Schulaufenthaltes fing er an, das Naturrecht von Schmalz vorzunehmen, um sich für die Universität damit vorzubereiten.

Auf unsern Spaziergängen referirte er mir von seinen Studien. Ich bekenne, daß mir diese Definitionen von Person und Sache, von Erwerbung des Eigenthums, von der Verschiedenheit der Verträge, vom Verbrechen und den Strafarten u.s.w. unendlich dunkel waren. – Schmalz war Kantianer, und so kam denn das Princip der Kant'schen Philosophie, die Unterscheidung von Erscheinung und von Ding-an-sich, unter uns zur Sprache, mit welcher auch der Rector Solbrig uns jeweilig imponirte. Ich gerieth über solche Bestimmungen in Beängstigung. Der Kant'sche Ausdruck, daß unsere Vernunft gesetzgebend sei, wollte mir durchaus nicht einleuchten, theils weil ich vom Religionsunterricht und von den vielen Predigten her, die ich hörte, Gott als den alleinigen Gesetzgeber anzusehen gewohnt war, theils weil ich, in meiner großen Liebe zur Natur, trotz des schlechten Unterrichts, den ich in ihrer Wissenschaft empfing, doch überall in ihr, sowohl in ihrer physikalischen, als in ihrer organischen Gestalt, die allgemeinste und folgerichtigste Gesetzmäßigkeit zu erkennen und zu verehren gelernt hatte. Wie es nun möglich sein konnte, daß unser Selbstbewußtsein die Gesetze enthalten solle, nach denen die Erscheinung sich zu richten habe, war mir damals ganz unverständlich. Ich begriff sehr wohl, daß die Gesetze unseres Denkens, die uns in der Philosophie der Sprache und in der[131] Logik vorgetragen wurden, die nothwendige Form sein müßten, in welcher wir die Erfahrungs-Thatsachen zu erfassen genöthigt seien, aber ich begriff nicht, wie man, Gott und der Natur gegenüber, behaupten dürfe, daß unsere Vernunft gesetzgebend sei! Im Stillen wunderte ich mich, da ich doch sonst meinen Gefährten nicht eben nachstand, über meine Beschränktheit. Ich vermuthete auch hier, wie in der Mathematik, ganz aparte Geheimnisse, die zu durchdringen mir versagt seien. Ich rückte mitunter, wenn mir die Widersprüche zu klar schienen, mit meinen Einwürfen dreist hervor. Dann aber fing Klee an, die Wörter Subject und Object, transscendent und transscendental, Begriff und Idee, Verstand und Vernunft mit solchem Nachdruck spielen zu lassen, daß ich einsah, mich in Demuth fügen zu müssen.

In diesen Gesprächen mit Klee über das Naturrecht wurde mir die Nothwendigkeit, mich mit der neueren Philosophie zu beschäftigen, zum ersten Male klar.

Mit welch' erhöhter Ehrfurcht staunte ich nun erst den Prediger Mellin an, wenn ich ihm auf der Straße begegnete oder wenn ich eine Predigt bei ihm hörte; denn dieser dicke, wohlhäbige Mann hatte ja ein vielbändiges Wörterbuch der Kant'schen Philosophie geschrieben. Er war also im Besitz aller der Dinge, die für mich so quälerische Räthsel waren. Was mußte aber nicht Kant selbst erst für ein Riese gewesen sein!

Die ersten Gedanken, die ich gehabt hatte, waren, wie ich erzählt habe, bei mir aus dem Erschrecken über die Unendlichkeit der Welt entsprungen. Ich wußte nicht, daß es Gedanken waren.

Eine zweite Hauptanregung ward mir durch den Streit gegeben, den Heuke's Aufsatz: »Keine Rose ohne Dornen« in unserem Journal hervorgerufen. Bei dieser Angelegenheit war das innere Verhältniß des Negativen zum Positiven lebhaft zur Sprache gekommen, aber in einer noch ganz eudämonistischen Fassung der Begriffe von Lust und Unlust. Unwillkürlich hatten wir auch die Veränderung der Dinge berühren müssen und bei dieser Wendung war mir ganz deutlich geworden, daß das Quantum der Materie an sich im Weltall nicht vermehrt und nicht vermindert werden könne, sich also, wie es sich auch im Besondern durch chemische Processe und Formgestaltung verändere,[132] gleich bleiben müsse. Ohne anzunehmen, daß eine neue Schöpfung zur gegebenen neue Materie hinzufüge, kann die Materie an sich weder größer noch kleiner werden. Dies war mir mehrere Wochen lang eine ganz interessante Betrachtung.

Eine weitere Hauptanregung zu tiefem Nachsinnen hatte mir die erwähnte Lectüre von Sonnenberg's Donatoa gegeben. Der Gedanke der Zukunft der Geschichte hatte sich dadurch bei mir festgesetzt. Welche Kämpfe stehen unserem Geschlecht noch bevor? Wird die Geschichte sich in's Unendliche hin fortpflanzen? Wird sie ein Ende haben durch eine Zerstörung dieses Planeten? Wird sie gleichsam von Innen aus durch Selbstvollendung des Menschengeschlechts sich abschließen? Haben auch andere Gestirne eine Geschichte? Darf die Geschichte des Menschengeschlechts sich für den Mittelpunkt des Universums halten, auf welche die Geschichte anderer Welten, wenn sie eine haben, sich nur ergänzend bezieht? O Heroal und Herkla, ihr hohen Menschen der Zukunft, wie trug ich Euch in meinem Herzen, wie erschient ihr mir in meinen Träumen! Wie malte ich mir die Majestät des Weltgerichts aus!

Aber diese Gedanken waren noch zu gewaltig für meine damalige Bildung. Sie drückten mich nieder; sie machten mich melancholisch. Volk und Heuke ironisirten mich. Es mag mir zum Glück gewesen sein. Ich schlug sie mir endlich aus dem Sinn oder barg sie wenigstens tief, tief in meiner Seele, wo sie von Zeit zu Zeit sich zu regen versuchten, wie die erdumwälzenden Titanen, über welche die neuen Götter Berglasten hingethürmt hatten.

So weit war ich in Leben und Wissenschaft gekommen. Ich war immer gesund gewesen, aber nun sollte – im Frühjahr 1822 – eine schreckliche Krankheit mich eine Zeit lang gänzlich niederwerfen und einen wichtigen Abschnitt bei mir bilden. Es war um Pfingsten. Ich hatte in der Frühe einen Freund, der in die Ferien ging, auf dem Wege nach Oschersleben begleitet und kam Mittags sehr erhitzt nach Hause. Bei Tische wurde mir außerordentlich unwohl, so daß ich aufstehen mußte, ohne etwas genießen zu können. Man schickte zum Arzt. Dies war nicht mehr jener alte, joviale Hausfreund Hoppe, sondern ein junger, ernster Mann, Namens Weinschenk. Er verordnete einen Aderlaß und Bettruhe. Den andern Tag erklärte er den Ausbruch eines[133] gastrisch-nervösen Fiebers. Ich lag mehrere Wochen, magerte zum Skelett ab und mußte doch noch, als ich genas, Bitterwasser trinken, was mich andauernd schwächte, so daß, als ich die ersten Ausgänge versuchte, mein guter, lieber Vater mich unter den Arm nahm, mit ihm den Fürstenwall zu besuchen, der die einzige Promenade innerhalb der Stadt ist und die reinste Luft bietet.

Seit dieser Krankheit habe ich eine Geneigtheit zu gastrischen Affectionen behalten, und bis ich mich verheirathete, verlief selten ein Jahr ohne eine solche.

Als ich, mit Noth dem Tode entronnen, wieder zu Kräften kam, was sehr allmälig geschah, war ich in allen meinen Gefühlen unendlich reizbar geworden. Meine romantische Excentricität steigerte sich. Meine Handschrift veränderte sich. Ich habe diese Thatsache noch ganz deutlich vor Augen. Ein Freund unseres Hauses, der Registrator Kämmerer, hatte mir zur leichten Lectüre während des Fiebers den Gil Blas geliehen, den ich mit großem Vergnügen las und mir darüber ein kritisches Referat in meine mir noch vorliegenden Excerptbücher schrieb. Dies Urtheil hat noch die Züge meiner älteren Handschrift. Einige Wochen darauf übersetzte ich metrisch aus Euripides Iphigenie in Tauris die Wiedererkennungs-Scene zwischen Iphigenie und Orest; diese Uebersetzung hat die umgewandelten Züge.

Meine Stimmung war eine so zu sagen hyperidealische, die sich ganz dem Mittelalter zuwandte. Einige Bücher, auf die ich verfiel, nährten meine Schwärmerei, wie Tieck's Phantasus, Tieck's Octavian, die Bekanntschaft mit des Knaben Wunderhorn, mit der Wilkina- und Niflungasage, eine im burschenschaftlichen Sinne abgefaßte Sammelschrift: Des Knaben Luftwald, worin die Herrlichkeit des alten deutschen Reiches, das Zunftwesen, das Turnen, der Schlangentödter Sigfried u.s.w. überschwänglich gepriesen war. Wohlthätiger wirkte eine andere Sammelschrift aus Wien: Beiträge zur Bildung für Jünglinge, in welcher die Gedichte eines gewissen Ottenwalt mich im höchsten Grade ansprachen, weil sie meine eigensten Empfindungen ausdrückten. Mittelmäßige Schriften können uns, sofern sie uns über uns aufklären helfen, doch sehr förderlich sein. Von diesem Ottenwalt, der eine Fahrt in's Gebirge so reizend beschrieb und die Wehmuth und Sehnsucht des[134] Jünglingsherzens mir so ganz aus der Seele schilderte, erwartete ich einen großen Dichter der Nation. Ich schrieb mir Vieles aus seinen Gedichten ab, das ich oft wieder las. Ossian's nebelgraue Sagen in der Stollberg'schen Uebersetzung entzückten mich nicht weniger und förderten die sentimentale Auflösung meines Gemüths über alle Schranken.

Da war es denn ein Glück, daß ich auch zur Lectüre eines Buches kam, durch welches ich doch einigermaßen wieder auch einem höheren Gedankenleben zugeführt ward, wenn es auch theilweise dem romantischen Dämmer entsprungen war. Dies Buch war Steffens treffliche Schrift: Die gegenwärtige Zeit und wie sie geworden. Steffens war ein herrlicher Mensch, eine geniale Natur. Wenn man aus dem Kreise der Schelling'schen Schule einen Philosophen nennen soll, der Natur und Geschichte mit wirklich intellectueller Anschauung auffaßte und das höchste Talent besaß, seine Anschauung auch vortrefflich auszudrücken, so darf man Steffens nennen. Sein Fehler war eine zu große Breite. Er hatte sich nicht in der Gewalt und wiederholte sich auch zu häufig in gewissen Lieblingswendungen. Seine Bücher schwollen gewöhnlich zu sehr auf und trieben zu viel üppige Wildschößlinge, allein Alles kam bei ihm aus dem tief bewegten Geist und dem vollen Herzen. Er hatte sich in Deutschland, in Preußen eingelebt und begleitete die verschiedenen Wandlungen der Zeit als ein aufmerksamer Beobachter. Das obengenannte Buch rollte zuerst ein farbenhelles Gemälde der Weltgeschichte auf, worin der Nationalcharakter der verschiedenen Gruppen der europäischen Völkerfamilie und die Hauptepochen ihrer Entwickelung zwar nicht immer richtig, aber doch im Ganzen treu skizzirt sind, umschließ lich die Gegenwart einer eingehenden Kritik zu unterwerfen. Ich wurde hier zum ersten Mal mit der Wichtigkeit der Frage der Preßfreiheit bekannt gemacht. Später habe ich eingesehen, daß Steffens Werk eine Wiederholung und Nachahmung der Fichte'schen »Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters«, jedoch von einem andern Standpunkte aus, war. Fichte erblickte in dem Stadium zwischen der Revolution und den Freiheitskriegen in der Gegenwart das Zeitalter der absoluten Sündhaftigkeit und geißelte seine Gebrechen mit scharfer Satire. Steffens, zwischen dem Freiheitskriege und der Restauration, fühlte sich von der Erhebung der Nation, welche Fichte durch seine Reden so mächtig hatte[135] fördern helfen, ermuthigt, war aber nicht ohne Besorgniß über den Gang, den die Entwickelung im Frieden einschlagen würde.

Der Horizont meines Blickes wurde durch Steffens sehr erweitert, allein das hinderte nicht, daß ich nebenher in den elendesten Subjectivismus verfiel und in ihm viel Stimmung und Zeit verschleuderte. – Meine Schwester hatte eine Freundin, die Tochter eines Brauers auf der Stephansbrücke. Da ich nun meine Schwester, wenn sie dort zum Besuch war, Abends abholte, oder umgekehrt, wenn Fräulein Caroline bei meiner Schwester gewesen war, diese nach Hause brachte, so wurde auch ich mit ihr und ihrer Familie, und dadurch mit einem Vetter derselben, dem Sohne eines Predigers aus der Gegend von Brandenburg, Kersten, bekannt, der unter seinen Verwandten für ein Genie galt und der bei einem Besuch in Magdeburg eine schwärmerische Zuneigung zu mir faßte. Er war noch auf dem Gymnasium in Brandenburg und sollte Theologie studiren. Wir traten in Briefwechsel, voll von himmlischen Freundschaftsversicherungen. Da aber kein realer Gehalt vorhanden war, der uns ernstlich verbunden hätte, so artete der Briefwechsel bald in's Leere aus. Ohne das Interesse der hübschen Caroline Hoyer an unserer Correspondenz würde dieselbe auch gewiß sehr bald in's Stocken gerathen sein. Kersten bezog ein Jahr vor meinem Abgang vom Pädagogium die Universität Berlin, wo er bei einer Schwester wohnte. Als ich nun Ostern 1824 dorthin kam und ihn besuchte, zeigte sich sogleich, daß wir uns eigentlich nichts zu sagen hatten. Ich fand gar keinen tieferen Berührungspunkt mit ihm heraus und er schien mir überhaupt ein ganz anderer Mensch, als der zu sein, an welchen ich so viel überschwängliche Briefe gerichtet hatte. Es waren etwa zwei Jahre, daß wir uns persönlich nicht gesehen hatten, und in der Jugend sind zwei Jahre eine lange Zeit, während welcher die Individuen sich schnell umgestalten. Gewiß machen fast alle Jünglinge ähnliche Erfahrungen und verwundern sich über den Contrast ihrer Vorstellungen mit der Realität. Die halb künstlich gespannte, idealisirte Correspondenz hatte uns über unser eigenstes Wesen getäuscht. Nachdem Kersten meinen Besuch erwidert hatte, war unser Umgang beendet. Wenn wir uns zufällig einmal sahen, grüßten wir freundlich, aber ohne weitere Anziehung auf einander zu üben.[136]

Viele meiner Bekannten verließen vor mir das Pädagogium, theils um die Universität zu beziehen, theils um sich dem Kaufmannsstande, dem Baufach oder sonst einem Betriebe zu widmen. Zu den Ersteren gehörten außer Bernhard Nöldechen, der sich der Theologie ergab, Volk und Oppermann, die Ostern 1823 nach Göttingen abgingen, die Rechte zu studiren. Das war nun ein großes Ereigniß für uns, und fast noch mehr für mich, den Zurückbleibenden, als für meine Freunde, mit denen ich in Briefwechsel trat. Es war Alles so unerhört, was sie mir schrieben, daß der lebhafteste Wunsch entstand, sie zu besuchen und dies fabelhafte Göttingen selber zu sehen. Meine guten Eltern gewährten mir die Mittel, in den Hundstagsferien 1823 diesen Wunsch zu befriedigen. Ich machte mich mit Simon und Klee unter der Anführung des Lehrers Wilke zu Fuß nach dem Harz auf, den ich so oft am Horizont als eine dunkle blaue Linie gesehen hatte. Wir besuchten zuerst den Unterharz, Ballenstädt, Blankenburg, Quedlinburg, Thal, die Roßtrappe, das Selkethal, den Falkenstein. Dann wandten wir uns durch das Rübethal der Richtung auf den Brocken zu, besahen unterwegs die Biels- und Baumannshöhle mit ihren seltsamen Tropfsteinbildungen, ergötzten uns an den Schnarcherfelsen zwischen Schirke und Elend und gelangten über die Heinrichshöhe auf den Brocken, wo indessen die Aussicht sowohl am Abend als am andern Morgen durch trübes, mitunter regnerisches, kaltes Wetter sehr verkümmert ward. Das Bewußtsein aber, uns auf dem höchsten Punkt von ganz Norddeutschland zu befinden, tröstete uns hierüber, wie über alle ausgestandenen Strapazen. Auf dem Brocken sahen wir nun selber jene ungeheuren, wild umhergestreuten Granitblöcke, die seinen Gipfel zu einem geeigneten Schauplatz für den Sabbath der Hexen machten, welche der Volksaberglaube, d.h. die Verzerrung, welche die alte Religion der Deutschen unter dem Christenthum empfangen hat, am ersten Mai hier tanzen läßt. Ich trennte mich hier mit Simon von Wilk und Klee, die eine andere Tour einschlugen, und wanderte mit ihm nordwestlich über den Rehberger Graben auf Nörthen und Göttingen zu.

Der Harz war damals noch nicht so gangbar, wie heutzutage, wo man sogar die Roßtrappe in einem recht bequemen Zickzackpfade gemächlich besteigen kann und wo aller Orten stattliche Hôtels dem Reisenden[137] allen möglichen Comfort bieten. Die Berliner haben den Harz ganz umgearbeitet. Mit Ausnahme der Gegend von Ellrich ist das Wilde seiner Physiognomie, was er damals noch hatte, sehr verschwunden. – Wie hätte ich mir träumen lassen, einige vierzig Jahre später im Eingang des Bodethals Kellner im schwarzen Frack, die Serviette unter dem Arm, vor den Thüren riesiger Gasthäuser, wie das Zehnpfund-Hôtel, wie der große Waldkater u.s.w. herumspazieren zu sehen! – Der Harz ist ein reizendes Gebirge, das, nach meiner Meinung, sich vorzüglich dadurch auszeichnet, daß es eine so große Mannichfaltigkeit der verschiedensten Formen vereinigt. Die Anmuth der Vorberge, wie des Ziegenrückens u.s.w. ist eben so groß, als die einiger Thäler, namentlich des Selkethales mit seinen schönen Bäumen. Das Bodethal wirft bei der Roßtrappe eine gigantische Felsenmasse auf. Der Ilsenstein bei Stollberg-Wernigerode bietet wieder eine ganz andere Gestalt dar, und die Blechhütte von Thale, die Eisenhammer von Mägdesprung, die Marmorschneidemühlen des Rübelandes, die Kohlenbrennereien von Andreasberg, die Kupfer- und Silberwerke von Goslar und Clausthal geben uns eine Kenntniß der verschiedensten Betriebszweige eines Berg- und Waldlandes. Da nun der Harz inmitten einer großen Ebene als ein isolirtes Gebirge liegt, so öffnet er nach allen Weltgegenden hin die anziehendsten Fernsichten, und wie wir von Magdeburg nach dem Brocken auszuspähen liebten, so suchten unsere Blicke von seiner Spitze den Magdeburger Dom. Man kann sich vorstellen, mit welcher Befriedigung ein so ganz auf die Romantik präparirtes Gemüth, als das meinige, die fürstlichen Schlösser und Gärten am Unterharz, die Burg des Falkensteins, die Ruinen der Lauenburg, die Teufelssteine zwischen Halberstadt und Quedlinburg u.s.w. aufnahm. Es war die höchste Zeit, daß ich all dergleichen als greifliche Wirklichkeit zu schauen bekam.

Ich wanderte, den Tornister auf dem Rücken, den Ziegenhainer in der Hand, mit meinem Gefährten in Göttingen ein, wo unsere Freunde, die in der breiten Weender Straße wohnten, uns freundlich beherbergten. Wir hörten nun von nichts, als von Duellen und von Schlägereien mit den Nachtwächtern und Pedellen erzählen. Heinrich Heine hat das damalige Göttingen – denn er studirte gerade dort – in einigen[138] Aufsätzen humoristisch, aber treffend geschildert, so daß ich mich enthalte, ihn ergänzen zu wollen. Unsere Freunde waren aber, bei allem Reiz, welchen das studentische Treiben für sie hatte, sehr fleißige Leute, die auf den pünktlichen Besuch der angenommenen Collegia hielten. Auch waren sie von allgemeinem Interesse beseelt, so daß sie nicht blos auf sogenannte Fachcollegien sich beschränkten, sondern auch philosophische Vorträge hörten. Es war für mich von hoher Bedeutung, mit ihnen in die Auditorien gehen zu können.

Ich besuchte mit meinen Freunden die Collegia, welche sie hörten. Mit Nöldechen ging ich in die theologischen. Hier hinterließ der alte Eichhorn, der gerade bei der Kritik der Hypothesen über den Verfasser der Mosaischen Genesis stand, bei mir einen großen Eindruck. Er wußte so überzeugend zu sprechen, als ob er beim Niederschreiben des letzten Textes zugegen gewesen sei. Es war unmöglich, seinen Beweisen zu widerstehen. Und diesen Mann hatte ich bis dahin nur als allgemeinen Literarhistoriker bewundert, während ich nun vernahm, wie er mit dem Hebräischen und Arabischen ganz vertraut war. Nöldechen nahm mich aber auch in ein Collegium mit, welches er aus besonderem Interesse für die Mathematik hörte. Dies war eine Vorlesung über Mathematik von Thibaut, welche von sehr vielen Studenten aus allen Fakultäten besucht ward, weil Thibaut es versuchte, die mathematischen Bestimmungen genetisch zu erklären. Ich schaffte mir später sein Lehrbuch an und lernte auch Manches daraus, ohne jedoch die erwartete Befriedigung zu finden. Er ging nicht philosophisch genug zu Werke, sondern wollte durch Beweglichkeit der Linie die Gestaltabänderung erklären. Mit Volk und Oppermann ging ich ein paarmal, den großen Romanisten Hugo zu bewundern. Er galt für den Matador unter den damaligen Göttinger Berühmtheiten. Auch Blumenbach, mit dessen Lehrbuch der Naturgeschichte ich bekannt war, wurde in der Physiologie besucht. Er handelte gerade vom Pulsschlage und ermangelte nicht, sein Auditorium durch scurile Späße aufzuheitern, z.B. durch eine launige Kritik der Versuche, das Wort Puls durch ein deutsches Wort, Praller u. dgl. zu ersetzen. Das besuchteste Auditorium hatte damals der Historiker Sartorius, wo sich wohl an dreihundert Studenten zusammenfanden. Mit großer Ehrfurcht kam ich zu Heeren, da ich dessen[139] kleine historische Schriften, namentlich seine berühmte Preisschrift über die Ursachen der Kreuzzüge, kannte und Strebe sein Handbuch der neueren Staatengeschichte in Prima eingeführt hatte. Er hatte einen ganz vorzüglichen Vortrag. Er sprach in der Ethnographie, die Volk bei ihm hörte, gerade über die Insel Madagascar und entwarf ein so anschauliches Bild von ihr, daß ich ganz entzückt war. Von den eigentlichen Philosophen wurden Schulze in der Anthropologie und Bouterweck in der Religionsphilosophie besucht. Bouterweck hatte ich bis dahin nur als Literarhistoriker und als Verfasser eines Romans: Donamar, kennen gelernt. Wie imponirte es mir, ihn nun über den Pantheismus reden zu hören! Er war der eleganteste Docent in Diction, Manieren und Kleidung. Die Aesthetik war sein stärkstes Collegium, aber auch die Religionsphilosophie erfreute sich zahlreicher Zuhörerschaft, selbst an dem berüchtigten Grafentisch dicht vor dem Katheder.

Die Professoren lasen alle in ihren Häusern. Jeder hatte sich sein Auditorium nach Gelegenheit und nach seinem Geschmack eingerichtet. Die Individualität des Docenten, der oft nur aus seiner Studirstube durch eine Tapetenthür in seinen Hörsaal trat, wurde dadurch zu einer viel breiteren und behäbigeren Erscheinung gemacht.

Nicht weniger, als dieser erste Einblick in die akademische Lehrthätigkeit, von der ich damals nicht die geringste Ahnung hatte, ihr selber das ganze Leben hindurch anzugehören, fesselte mich die Bibliothek. Durch mein mehrjähriges Amt bei der Schulbibliothek des Klosters war ich mit dem Formalismus des Bibliothekwesens wohl vertraut. Aber die riesenhaften Verhältnisse, die mir hier entgegentraten, überwältigten mich. Ein Saal nur für die Folianten der Kataloge! Und nun die Lokalität der Benutzung. Ich, ein Fremder, ich, noch ein Gymnasiast, durfte frei in den Büchersälen umhergehen und die Titel der Bücher lesen. Ich durfte ein Buch sogar zum Lesen herausnehmen, mich damit an einem mit grünem Tuch behangenen Tisch setzen und hatte weiter keine Verpflichtung, als es, nach gemachtem Gebrauch, auf dem Tisch liegen zu lassen. Ich wollte es kaum glauben, als ich auf diese Weise Grimm's Ausgaben des Hildebrand- und Hadubrand-Liedes, wonach ich so lange geschmachtet hatte, in den Händen hielt. Wir ließen uns zwar auch von einem Bibliothekdiener die Merkwürdigkeiten[140] der Bibliothek zeigen, aber ich habe sie bald vergessen, denn ich hatte nur Sinn für das, was ich von Schriften zur altdeutschen Literatur sehen konnte. Ich wagte es, nach einigen Besuchen, den Professor Beneke, der zugleich Bibliothekar war, um manche Nachweisung anzugehen, welche er mir mit großer Freundlichkeit ertheilte.

So verliefen vierzehn Tage in angestrengtester Thätigkeit. Ehe wir aber von Göttingen schieden, sollte noch ein größerer Ausflug nach Cassel gemacht werden.

Wir vier, Volk, Oppermann, Simon und ich mietheten uns einen Wagen, der uns erst mitten in der Nacht bis zu einer Vorstadt brachte. Das Thor der eigentlichen Stadt war geschlossen und wir mußten froh sein, in einer Ausspannung unter Fuhrleuten auf Stroh ein Lager zu finden, bis wir am Morgen nach dem Hof von England fuhren. Es war Sonntag und wir hatten den Nachmittag, als wir Wilhelmshöhe besuchten, das Vergnügen, die Wasser springen zu sehen. Wir besahen auch die Löwenburg mit ihrer künstlichen Mittelalterphysiognomie und was sonst Merkwürdiges sich darbot. Mir war Cassel deshalb besonders interessant, weil mein Vater, wie ich erzählt habe, hier drei Jahre als Beamter Jerome's gelebt hatte. Ich konnte nun das Theater seiner Schwelgerei mit eigenen Augen schauen, auch das Marmorbad, in welchem er Kraftbäder, wie ein Tiberius auf Capri, genommen haben sollte.

Oppermann hatte auf dieser Fahrt einen köstlichen Humor. Er persiflirte mich und Simon beständig, wenn wir in romantische Schwärmerei verfallen wollten, mit den treffendsten und barocksten Witzen. Es regte sich darin schon die Ironie gegen die Romantik, die von Göttingen durch Heine ausging.

Ueber Clausthal, Goslar, Stollberg-Wernigerode und Halberstadt, von hier ab in dem damals noch schauerlich unbequemen Postwagen, kehrte ich mit Simon nach Magdeburg zurück.

Quelle:
Rosenkranz, Karl: Von Magdeburg bis Königsberg. Leipzig 1878, S. 72-141.
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