Vorwort.

[5] Mein Leben zerfällt in zwei Hälften. Die erste reicht von Magdeburg bis Königsberg, die zweite verläuft seit vierzig Jahren in Königsberg. – Diese Stadt ist so sehr meine zweite Heimath geworden, daß ich mich nach ihr, wenn ich einmal längere Zeit von ihr entfernt war, immer wieder zurücksehnte. Die Freude an meinem Lehramt, die Anhänglichkeit meiner Zuhörer, die Liebe meiner Collegen und die Freundschaft so vieler ausgezeichneter Menschen haben mich die bekannten Unbilden der hiesigen Localität längst vergessen lassen. – Als ich nun vor mehreren Jahren durch eine Reihe sehr schmerzlicher Ereignisse ganz in mich hineingescheucht wurde, reagirte ich, nach meiner Weise, durch wissenschaftliche Arbeiten. Mein Gemüth suchte aber nach einer noch anderen Genugthuung. In dieser Stimmung fiel ich darauf, das vorliegende Buch zu schreiben. Als ich es im vorigen Sommer vollendet hatte, schien es mir nicht unwerth, auch veröffentlicht zu werden, weil es sittengeschichtlich, pädagogisch und literarisch einen Beitrag zu derjenigen Entwickelung in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts giebt, welche wir jetzt mit dem Namen der Romantik zu bezeichnen pflegen. Man sieht, wie ich allmälig ganz in sie versinke und wie ich mich dann allmälig durch die Philosophie aus ihr herauszukämpfen anfange. Ich sage: anfange, denn auch hier in Königsberg dauerte der Kampf fort. Waren der[5] Romantik doch von hier durch Hamann, Hippel und Werner starke Elemente zugeführt worden, die auf einem Dualismus zwischen nüchterner Verständigkeit und phantastischer Ueberschwänglichkeit beruhen.

Die Personen, die ich erwähnen mußte, sind großentheils dahingeschieden; doch lebt noch eine kleine Anzahl meiner alten Freunde, fast von jeder Station noch der eine oder andere Repräsentant. Auch meine gute Schwester Henriette, die Gefährtin und Vertraute meiner Jugend, habe ich das Glück, noch am Leben zu besitzen. Meine Frau erlebte noch die Niederschrift dieses Buchs. An dem Tage aber, an welchem der erste Correcturbogen desselben von Berlin anlangte, legten wir sie, nach langen und schweren Leiden, in den Sarg.

Die ehrwürdige Anstalt, welcher ich die Grundlagen meiner gelehrten Bildung verdanke, das Pädagogium Kloster Lieben Frauen in Magdeburg, habe ich 1866 wiedergesehen. Von der Straßenseite her fand ich die zu ihm gehörigen Häuser unverändert, im Innern dagegen große Umbauten, Erweiterungen und Verschönerungen. Mein ehemaliger College, Herr Professor Dr. Schulze, hatte die Güte, mich umherzuführen. Mit Wehmuth betrat ich die Stufen der großen Treppe, beschritt ich den Classensaal mit seinen nach dem Kreuzgang gerichteten Fenstern und das Zimmer, worin jetzt noch, wie zu meiner Zeit, die Abiturientenarbeiten gefertigt werden. Die Menge der Classen, die Ausdehnung des Alumnats, der überall herrschende Comfort der Einrichtung, gaben mir eine Anschauung von der Blüthe, deren sich das Kloster gegenwärtig erfreut.

Die Ueberschriften, welche ich den einzelnen Capiteln gegeben habe, sollen den Inhalt derselben nicht, wie es jetzt üblich ist, erschöpfen. Sie sollen dem Leser nur einen chronologischen und topographischen Leitfaden mit einer ungefähren Andeutung der Hauptsache darbieten. Wenn ich in der Ueberschrift zum[6] dreizehnten Capitel sage: ich reiße mich von der Theologie los, so hätte ich mich vielleicht anders ausdrücken sollen, nämlich: ich reiße mich von dem Beruf für den geistlichen Stand los. Denn das Nachdenken über die Frage, ob ein Wesen existirt, wie die Menschen es sich unter dem Worte Gott vorzustellen pflegen, ist im Grunde das Problem, welches mich unaufhörlich beschäftigt und auf welches ich von jeder besonderen Wissenschaft aus zurückkomme. Alle sogenannte positive Theologie macht die Existenz Gottes schon zur Voraussetzung, die Philosophie aber hat diese Hypothese selber kritisch zu analysiren. Der Glaube beruhigt sich bei dem Zeugniß der Auctorität; die Wissenschaft, um zur absoluten Gewißheit vorzudringen, kann des Zweifels an der Wahrheit des Glaubens nicht entbehren.

Ich habe einfach, ohne allen künstlichen Aufputz, die Geschichte meiner Jugend erzählt. Die Zusammenhäufung der romantischen Elemente in ihr ist von mir rein thatsächlich, ohne Tendenzmacherei, geschildert. Ich habe der Versuchung widerstanden, diese Elemente über das Maaß meiner Wechselwirkung mit ihnen in eine Breite auszudehnen, zu welcher die biographische Form so leicht verlockt. Ich habe daher z.B. von dem Bergbau in Eisleben nur gesagt, daß ich durch einen öfteren Aufenthalt in dieser Stadt eine genauere Kenntniß des Berg- und Hüttenwesens erlangt habe. Der Bergmann galt nach Novalis' Osterdingen auch als eine poetische Figur der Romantik. Als ich aber in Eisleben mich auf eine gründlichere Anschauung seiner Arbeiten einließ, stand ich schon nicht mehr auf dem Standpunkt, in ihm mit der Romantik nur die geheimnißvolle Seite seines unterirdischen Reiches zu bewundern. Es überwog bereits die rationelle Auffassung. Nichts desto weniger gehört es zu der Vollständigkeit meiner romantischen Erfahrung, daß ich auf ganz natürliche, ungesuchte Weise auch den Betrieb des Bergbaus kennen lernte.[7]

Unter den Druckfehlern dieser Schrift sind manche sehr lächerliche, z.B. ein Operprimaner statt eines Oberprimaners; oder boshafte, wie eine Phrase statt Phase der Begeisterung. Einen Fehler aber muß ich hier ausdrücklich denunciren, weil er eine historische Unrichtigkeit enthält. Seite 277 steht: Reinhard's Garten; es muß aber heißen: Reichhard's Garten.

Eine gerechte Kritik darf ich wohl nicht daran erinnern, daß in diesem Buche nicht mein ganzes Leben, sondern nur dessen erste kürzere Hälfte vorliegt, welche zeigt, wie ich aus dem labyrinthischen Irrgarten der Romantik mich bis zur Freiheit der Philosophie fortgearbeitet habe, deren Cultus in Lehre und Schrift das höchste Glück meiner Existenz ausmacht.


Königsberg, im Mai 1873.


Karl Rosenkranz.[8]

Quelle:
Rosenkranz, Karl: Von Magdeburg bis Königsberg. Leipzig 1878.
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