Einiges zur Geschichte der Wasserzersetzung.
(Zusatz zum dritten Kapitel.)

[215] Schwerlich kann ein widersinnigeres Unternehmen gedacht werden, als aus partikulären Experimenten eine allgemeine Theorie der Natur entwerfen zu wollen; gleichwohl ist die ganze französische Chemie nichts anders als ein solcher Versuch: schwerlich aber möchte sich auch der überwiegende Wert höherer, auf das Ganze gerichteter Ansichten vor solchen, die auf Einzelheiten gegründet sind, am Ende so vortrefflich bewährt haben, als gerade in der Geschichte jener Lehre, vornehmlich desjenigen Teils derselben, der die Natur des Wassers betrifft.

Im Jahr 1791 schrieb de Lüc in einem Brief an Fourcroy folgendes: »Wenn der Fundamentalsatz zugelassen wird (daß der Regen sich nicht aus bloßen Dünsten, sondern aus der Luft als solcher bilde, und daß ferner diese Bildung nicht aus einem Zusammentreten des Sauer- und Wasserstoffs erklärbar sei), so bleibt die Folgerung unvermeidlich (daß die atmosphärische Luft das Wasser selbst als ponderable Substanz zur Grundlage habe). Es muß folglich jener Satz selbst widerlegt werden, sonst bleibt es gewiß, daß die zwölf Unzen Wasser, die binnen mehreren Tagen in Ihrem Laboratorium hervorgebracht worden sind, die Zusammensetzung des Wassers keineswegs beweisen. Denn diese geringe Wassererzeugung hat gar nichts mit der von heftigen Güssen gemein, die sich plötzlich in sehr trockener Luft bilden, noch mit irgend einem Phänomen des Regens, der früh oder spät die neue Physik ersäufen wird, wenn sie sich nicht dagegen festiglich verwahren kann64

Es ist bekannt, daß Lichtenberg ganz in denselben Grundsätzen war; ja er hat in der bekannten Vorrede, worin er sich über die neuere Chemie erklärt, in dem berühmten Amsterdamer Versuch bereits dasselbe erblickt, was man nach ihm in den mit[215] der Voltaischen Säule angestellten freilich palpabler erkannt hat. Er verlangt in seiner populären Sprache: man solle nur zusehen, ob sich nicht vielmehr die elektrische Materie zersetzt, und ob nicht ein Teil von ihr mit dem Wasserdampf inflammable Luft und der andere mit demselben dephlogistisierte Luft gemacht habe. (Man sehe a. a. O. S. XXIX.)

In der Abhandlung vom dynamischen Prozeß in der Zeitschrift für spekulative Physik Bd. I. H. 2. S. 71 stand folgende Stelle: »Aus dem allem zusammengenommen erhellt, inwiefern man sagen könne, negative Elektrizitätsei Sauerstoff, nämlich nicht das Gewichtige der sogenannten Materie, sondern das, was die Materie (an sich bloße Raumerfüllung) zum Stoff potenziert, sei negative Elektrizität. Der vortreffliche Lichtenberg behauptete fortwährend und, wie es scheint, ohne einen weiteren Grund als die Analogie dafür zu haben, die Verbindung der beiden Luftarten zu Wasser könnte eher ein Verbinden von beiden Elektrizitäten genannt werden. Er hat völlig recht. Das Tätige, was unter der groben chemischen Erscheinung eigentlich sich verbindet, ist nur positive und negative Elektrizität, und so ist das hermaphroditische Wasser nur die ursprünglichste Darstellung der beiden Elektrizitäten in Einem Ganzen. Denn daß der Wasserstoff, d.h. abermals nicht das Ponderable der sogenannten Materie, sondern das, was sie zum Stoff macht – positive Elektrizität sei, daß der Wasserstoff die gerade entgegengesetzte Funktion des Sauerstoffs habe, nämlich die: dem negativ-elektrischen Körper (durch Desoxydation) Attraktivkraft zu entziehen und dadurch in positiv-elektrischen Zustand zu versetzen, betrachte ich als einen unumstößlich gewissen Satz – und so wären also die beständigen und allgemeinen Repräsentanten der potenzierten Attraktiv- und Repulsivkraft – die beiden Stoffe, Sauerstoff und Wasserstoff.«

Bald nachher hat in Deutschland Herr J. W. Ritter die Versuche mit der Voltaischen Säule angestellt, wodurch man Hoffnung bekam, diese Art des Hergangs bei der sogenannten Wasserzersetzung sogar auf empirische Art anschaulich zu machen. Es hat sich bei dieser Gelegenheit Folgendes hervorgetan.[216]

1. Daß der größte Teil der Physiker und Chemiker von den früheren Sätzen de Lücs und Lichtenbergs nicht das Allergeringste verstanden haben müsse.

2. Wie blind und ohne Nachdenken die meisten bis dahin die Erzählungen, die sie über die von ihnen beobachteten Tatsachen gemacht hatten, für die Theorie dieser Tatsachen selbst, für eine wirkliche Erkenntnis des inneren Hergangs dabei gehalten hatten, da ihre Experimente, z.B. daß sie in gewissen Fällen aus dem Wasser brennbare Luft erhielten, während ein anderer Körper durch Vermittlung desselben Wassers oxydiert wurde, oder: daß sie durch das Verbrennen der beiden Luftarten zusammen eine Quantität Wassers erhalten hatten, ihnen ja ganz ruhig stehen blieben (wie denn auch de Lüc in obiger Stelle das Faktum mit den zwölf Unzen nicht leugnet), und diese für sie ganz neuen Ideen nur die Physik des ganzen Hergangs betrafen, sie aber nichtsdestoweniger meinten oder sich bereden ließen, daß damit eine totale Veränderung in der Chemie selbst, als solcher, gedroht werde. So sehr hatte das leere chemische Experimentalwesen der Franzosen einwiegend gewirkt, daß man von einem höheren Forum, wovor diese Erscheinungen gezogen werden können, auch nicht den geringsten Begriff hatte. Es ist kaum zu zweifeln, daß wer auch nur einmal sich selbst die Frage aufgeworfen hätte, was es denn wohl mit aller sogenannten Zerlegung oder Zusammensetzung in der Chemie auf sich habe, oder wie es damit physisch zugehe, auch eingesehen haben würde, daß diese Reduktion der Zerlegung des Wassers auf eine Darstellung derselben und Einer Substanz unter differenten Formen ebenso in Ansehung aller Zerlegung gelte und nur Anwendung der allgemeinen Formel derselben auf den besondern Fall sei, daß also in dem Sinn, in welchem das Wasser einfach ist, es überhaupt alle Materie sei, und umgekehrt, daß in dem (gemeinen) Sinn, in welchem man überhaupt sagen kann, daß Materie zersetzt und wieder zusammengesetzt werde, dasselbe auch von dem Wasser gesagt werden könne.

Wir bemerken noch beiläufig wegen der in obigem Kapitel berührten Frage von der Art der Verbindung des Stickstoffs und[217] Sauerstoffs in der Atmosphäre, daß selbige nur in einer allgemeinen Konstruktion der Verhältnisse der Planeten im Sonnensystem beantwortet werden kann, wegen welcher wir den Leser auf die im zweiten Heft des ersten Bandes der Neuen Zeitschrift für spekulative Physik (Tübingen bei Cotta) § VIII. enthaltene Darstellung verweisen.

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Man sehe den ganzen merkwürdigen Brief in Grens Journal der Physik von 1793. VII. Band. 1. Heft. S. 134.

Quelle:
Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Werke. Band 1, Leipzig 1907, S. 215-218.
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