Das Allgemeine vom dynamischen Prozeß.
(Zusatz zum sechsten Kapitel.)

[270] Vergebens würde man glauben, die vielfachen Wirkungen der Natur oder die wundervollen Hervorbringungen, worin sie ihr Innerstes kundgibt, aus bloß äußeren Wirkungen auf die Materie zu begreifen, dergleichen in denjenigen Systemen, welchen die Materie das absolut Tote, Unbeseelte ist, doch im Grunde alle Einflüsse sind, aus deren Wirkung auf die Materie man die lebendigeren Erscheinungen und die höheren Produktionen erklärt. Der obwohl noch verschlossene Keim des Lebens liegt schon in der Masse, und wenn sich auch der reine leibliche Anteil der Natur in der Körperreihe, der geistige oder die allgemeine Seele in dem Licht abgesondert herauszuwerfen scheint, so finden sich doch beide wieder in dem Organismus, wo die Seele oder Form so sehr die Materie festhält und sich ihr verbindet, daß im Ganzen des organischen Wesens wie in der einzelnen Handlung die Form ganz Stoff, der Stoff ganz Form ist.

Wenn diejenige von beiden Einheiten im Absoluten, worin das Allgemeine ein Besonderes wird, die der Natur, und diese demnach das allgemeine Reich des Fürsichselbstseins ist, so ist der Weltbau die ganze Einbildung des Unendlichen ins Endliche, also selbst wieder die Einheit, die alle andren, sofern sie in der Natur wiederkehren, begreift. Das materielle Universum und jeder Weltkörper für sich ist daher keine der besondern Einheiten, die erst aus ihm hervorgehen, nicht anorganische Masse, nicht Pflanze oder Tier, sondern die dem gemeinen Auge umfaßbare Identität von diesem allem. Erst innerhalb der Einheit jedes Weltkörpers, d.h. jedes solchen Ganzen, welches, als erscheinend Körper und in der Erscheinung zugleich Idee, Universum für sich ist, wiederholt[270] sich jener Akt der Einbildung, wodurch die absolute Identität in die Besonderheiten der Weltkörper einging, in dem Auswachsen der Identität des Weltkörpers in die Reihe der besondern Körper, die hier nicht als Universa, sondern nur als einzelne Einheiten erscheinen können, weil sie der herrschenden Einheit unterworfen sind.

In dem Zustand der ersten Identität der Materie jedes Weltkörpers ruhen alle Verschiedenheiten in ihm unausgebreitet, unentfaltet, aber derselbe ewige Akt, durch den er in der Besonderheit erscheint, setzt seine Wirkung auch in ihm selbst fort. Jede ihm eingebildete Idee wird ebenso, wie er, sich selbst zur Form und erscheint durch ein einzelnes wirkliches Ding.

Die erste Potenz dieses Entfaltens der Identität ist, wie gesagt, die der Einbildung der Einheit in die Vielheit, deren absolute Form der absolute Raum, wie die relative die Linie ist. Alle Formen, wodurch die Dinge in dieser Potenz sich sondern, werden demnach bloße Formen des Raums und, da auch der Raum in seiner Identität als Abbild des Absoluten in der Differenz nur wieder die drei Einheiten begreift, die drei Einheiten oder Dimensionen des Raums sein. Daß nun überhaupt alle Verschiedenheiten der Körper einzig auf ihr Verhältnis zu den drei Dimensionen des Raums zurückkommen müssen und die Körper in allen Qualitäten nach den drei Klassen sich sondern, daß sie entweder das Übergewicht der ersten Dimension und der absoluten Kohärenz, oder das der andern und des relativen Zusammenhangs, oder endlich die größere oder geringere Indifferenz beider im Flüssigen zeigen, dieses folgt schon aus dem allgemeinen Beweis, kann aber auch durch vollständige Induktion begründet werden.

Es fallen hiermit alle absolut qualitativen Verschiedenheiten der Materie hinweg, die eine falsche Physik in den sogenannten Grundstoffen fixiert und permanent macht: alle Materie ist innerlich eins, dem Wesen nach reine Identität; alle Verschiedenheit kommt einzig von der Form und ist demnach bloß ideell und quantitativ.

Die andre Einheit innerhalb der absoluten Einbildung des Unendlichen in das Endliche, welche das Zurückstreben aller Besonderheit in die Allgemeinheit, aller Differenz in die Identität,[271] und da diese hier als Licht erscheint, in das Licht ist, wie dagegen in der ersten Potenz das Licht sich in die Nichtidentität gebildet und in ihr verfinstert hatte, diese andre Einheit, sage ich, begreift alle Formen wieder ebenso in sich, wie die erste, nur als Formen der Tätigkeit, wie jene als Formen des Seins. Jene Zurückbildung der einzelnen Dinge in das Licht ist das, was allgemein als dynamischer Prozeß erscheint, und alle Formen desselben werden, ebenso wie die der ersten Potenz, den drei Raumdimensionen entsprechen müssen.

Es ist in dein Vorhergehenden bewiesen worden, daß der Magnetismus als Prozeß, als Form der Tätigkeit, der Prozeß der Länge, die Elektrizität der Prozeß der Breite, wie dagegen der chemische Prozeß derjenige ist, der allein die Kohäsion oder Form in allen Dimensionen, und demnach der dritten, affiziert.

Auch hier sind durch die Konstruktion selbst alle fixe qualitative Gegensätze besondrer Materien ausgeschlossen, aus deren Wirkung man jene Erscheinungen lange genug umsonst zu begreifen gesucht hat: ihr Grund und Quelle liegt in der Form und dem innern Leben der Körper selbst, obgleich das Licht als allgemeines notwendig allem dynamischen Prozesse vorsteht. Die Verschiedenheit der Formen desselben beruht einzig auf dem verschiedenen Verhältnis derselben Tätigkeit zu den drei Dimensionen, und so können wir auch umgekehrt wieder alle qualitativen Verschiedenheiten der Körper in der ersten Potenz auf ihrem verschiedenen Verhältnis zu den drei Dimensionen des dynamischen Prozesses beruhen lassen.

Es ist mit dieser Konstruktion zugleich ausgemacht, daß der chemische Prozeß als Totalität die beiden ersten Formen in sich begreift.

Die Substanz, das Wesen der absoluten Einheit, stellt sich ganz dar in dem Organismus, welcher die dritte Potenz bezeichnet. Allgemeines und Besonderes sind hier ganz indifferenziert, so daß der Stoff ganz Licht, das Licht ganz Stoff ist; äußerlich angesehen, z.B. in der Farbe, welche nicht mehr, wie die des Körpers in der ersten Potenz, eine tote, ruhende, sondern eine lebendige, bewegliche, innerliche ist; innerlich angesehen dadurch, daß das ganze Sein hier Tätigkeit, die Tätigkeit zugleich Sein ist. Und selbst in[272] dieser höchsten Vermählung des Stoffs und der Form kehrt jener erste Typus in den drei Formen alles organischen Lebens zurück.

Was in der ersten und zweiten Potenz Kohäsion und Magnetismus war, kehrt hier, nachdem das ideelle Prinzip sich dem Stoff für die erste Dimension identifiziert hat, als Bildlingstrieb, Reproduktion zurück. Was dort sich als relative Kohäsion oder Elektrizität darstellte, ist hier in der absoluten Identifizierung der Form und des Stoffs für die zweite Dimension zur Irritabilität, zum lebendigen Kontraktionsvermögen erhoben. Endlich, wo das Licht ganz an die Stelle des Stoffes tritt, in die dritte Dimension dringt, Wesen und Form auf diese Weise ganz eins wird, geht der chemische Prozeß der untern Potenz in der Sensibilität zum innern absoluten Bildungsvermögen über.

Hiermit erst ist das ganze Problem eines jeden Weltkörpers, das, was er in sich als Identität verschloß, als Differenz darzustellen, gelöst. Die dritte Einheit ist in ihm die erste und absolute. Aber sie kann nicht als die besondre erscheinen, ohne als die Indifferenz der beiden entgegengesetzten zu erscheinen und umgekehrt.

Unmittelbar mit der Produktion des realen Indifferenzpunkts in der realen Welt tritt er in derselben auch ideal hervor in der Vernunft, der Identität, dem wahren idealen Urstoff aller Dinge.

Vergleicht man die verschiedenen Potenzen unter sich wieder, so sieht man ein, daß die ersten im Ganzen der ersten Dimension, die zweite der zweiten unterworfen, in dem Organismus aber zuerst die wahre dritte Dimension erreicht sei, während in der potenzlosen Vernunft, dem ruhigen Spiegel der absoluten Identität, ebenso wie in ihrem Gegenbild, dem grundlosen Raum, welcher die in der Relativität der Einbildung des Unendlichen ins Endliche durchbrechende Identität ist, alle Dimensionen sich indifferenzieren und als Eine liegen.

Dies ist die allgemeine Artikulation des Universums, welche als dieselbe für alle Potenzen der Natur nachzuweisen das eigentliche Geschäft der Naturphilosophie ist.


(Ende des ersten Buchs.)[273]

Quelle:
Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Werke. Band 1, Leipzig 1907, S. 270-274.
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