Ist Chemie als Wissenschaft möglich?
(Zusatz zum siebenten Kapitel.)

[368] Daß eine wissenschaftliche Einsicht in den Grund der spezifischen Differenzen der Materie möglich sei, ist in dem vorhergehenden Zusatz bewiesen worden: daß eine gleiche Einsicht in die durch jene Verschiedenheiten der Materie bedingten Erscheinungen, die wir chemisch nennen, möglich ist, ließe sich schon aus dem Ersten zur Genüge einsehen.[368]

Allein daraus würde noch nicht folgen, daß Chemie, als solche, eine Wissenschaft sein könne, denn alle jene Untersuchungen gehören in ein viel höheres und allgemeineres Gebiet, das der allgemeinen Physik, welche keine Naturerscheinung isoliert, sondern alle im Zusammenhange und der absoluten Identität darzustellen hat. Wenn also Chemie, als solche, ein besonderer Zweig der Kenntnis sein sollte, so wäre dies nur insofern möglich, als sie sich bloß auf das Experimentieren beschränkte, nicht aber insofern sie die Prätension hätte Theorie zu sein.

Nur ein Zeitalter, welches fähig war, die Chemie selbst an die Stelle der Physik zu setzen, konnte sie in dieser ihrer wissenschaftlichen Nackt- und Bloßheit für eine selbständige Skienz und ihren durch bedeutungslose Begriffe entstellten Bericht von beobachteten Tatsachen für die Theorie selbst halten. Es bedarf nur der einfachen Reflexion, daß das was Ursache oder Grund des chemischen Prozesses ist, nicht selbst wieder Gegenstand chemischer Untersuchung sein könne, um das Widersprechende einer durch die Chemie selbstgefundenen Theorie der chemischen Erscheinungen und die Eitelkeit ihres Erhebens über die Physik einzusehen.

Was aber die Gründe betrifft, die gegen eine wirkliche Physik der Chemie vorgebracht werden könnten, so würden die hauptsächlichsten ohne Zweifel von der allgemeinen und tief eingewurzelten Vorstellung des Spezifischen in der Natur hergenommen sein, welche die unendliche Differenzierung bis in das Wesen der Materie selbst fortsetzt, absolute qualitative Verschiedenheiten behauptet und unter dem Namen einer falschen, bloß äußern Verwandtschaft die wahre innere Verwandtschaft und Identität der Materie gänzlich aufhebt. Es gehört zu dieser Vorstellungsart, zur Erklärung der Qualitäten Wesen einer eigenen Art zu denken, und da man weder die Anzahl dieser Wesen sicher bestimmen noch durch Erfahrung alle Launen derselben kennen lernen kann, so ist hiermit eine erschöpfende Physik und wahre Wissenschaft ihrer Erscheinungen so unmöglich, als etwa eine Physik der Luftgeister oder anderer unfaßbarer Wesen.

Die absolute Identität und wahrhaft innere Gleichheit aller[369] Materie bei jeder möglichen Verschiedenheit der Form ist der einzige wahre Kern und Mittelpunkt aller Erscheinungen der Materie, von dem sie als ihrer gemeinschaftlichen Wurzel ausgehen und in den sie zurückstreben. Die chemischen Bewegungen der Körper sind der Durchbruch des Wesens, das Zurückstreben aus dem äußeren und besonderen Leben in das innere und allgemeine, in die Identität.

Andere Gründe gegen die Möglichkeit einer Erkenntnis der Ursachen der chemischen Erscheinungen könnten von den Voraussetzungen hergenommen sein, nach welchen die inwohnenden Prinzipien der Bewegungen und des Lebens selbst zu Materien gemacht werden.

In diesem Fall läßt man sie entweder selbst chemischen Verhältnissen unterworfen sein, so daß auch sie der Zerlegung, Zusammensetzung, Verwandtschaft usw. fähig sind: hiermit kehrt die Frage nach dem Grund aller chemischen Erscheinungen und dessen, was man Verwandtschaft, Bindung usw. nennt, bei ihnen selbst, nur in dem hohem Fall, zurück, oder man läßt diese Materien die chemischen Erscheinungen äußerlich, mechanisch bewirken, so daß mit dieser Erklärung die ganze Art dieser Erscheinungen selbst, als solche, nämlich als dynamische, aufgehoben wird; in diesem Fall ist, weil der bleibende Grund jener Erscheinungen dann einzig in der Figur der kleinsten Teile gesucht werden kann, welche für alle Erfahrung unerreichbar ist, vollends alle Aussicht auf eine Wissenschaft der Chemie gänzlich aufgehoben.

Die andere Bedingung der Möglichkeit einer solchen, außer der innern und wesentlichen Einheit der Materie, ist also, daß die Tätigkeit der Wärme, des Magnetismus, der Elektrizität usw. immanente und der Substanz der Körper selbst ebenso inhärierende Tätigkeiten seien, wie die Form überhaupt auch in Ansehung der toten Materie mit dem Wesen eins und von ihm unzertrennlich ist. Es ist aber durch die dynamische Physik hinlänglich bewiesen, daß alle jene Tätigkeiten ein ebenso unmittelbares Verhältnis zur Substanz haben, als die drei Dimensionen der Form selbst, und andere Veränderungen als der Verhältnisse der Körper zu den drei Dimensionen sind auch die chemischen nicht.[370]

Endlich ist für die letzte Aufgabe einer Physik der Chemie, die auch in diesen Erscheinungen nur das All darzustellen hat, notwendig ihre Sinnbildlichkeit und Beziehung auf höhere Verhältnisse zu fassen, da jeder Körper von eigentümlicher Natur in seiner Idee allerdings wieder ein Universum ist. Erst wenn man in den chemischen Erscheinungen nicht mehr Gesetze, die ihnen als solchen eigentümlich, sondern die allgemeine Harmonie und Gesetzmäßigkeit des Universums sucht, werden sie unter die höheren Verhältnisse der Mathematik treten, wozu durch den Scharfsinn eines deutschen Mannes einige Schritte geschehen sind, dessen Entdeckungen, wovon wir hier als Beispiel nur die der beständigen arithmetischen Progression der Alkalien im Verhältnis zu jeder Säure, und der geometrischen der Säuren zu jedem Alkali anführen wollen, in der Tat auf die tiefsten Naturgeheimnisse deuten.

Quelle:
Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Werke. Band 1, Leipzig 1907, S. 368-371.
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