IV. Aussicht

[68] Ist es wahr, dass wir alle auf Erden abhängig wandeln, und ungewiss der Zukunft? dass ein dichter Schleier dem Menschen, was er sein wird, verbirgt, und dass des Schicksals blinde Macht, sei es auch der höheren[68] Vorsicht fremde Willkühr – beides gölte mir in dieser Beziehung gleich – mit unsern Entschlüssen wie mit unseren Wünschen spielt? O freilich, wenn Entschlüsse nur Wünsche sind, so ist der Mensch des Zufalls Spiel! Wenn er nur im Wechsel flüchtiger Empfindungen und einzelner Gedanken, wie die Wirklichkeit sie erzeugt, sich selbst zu finden weiss; wenn er im ungewissen Haben äusserer Gegenstände, im schwindelnden Betrachten des ewigen Wirbels, in dem mit diesem Sein und Haben auch er sich bewegt, sein ganzes Leben hindurch begriffen ist, und niemals tiefer in sein eigenes Wesen dringt; wenn er bald von diesem bald von jenem einzelnen Gefühl geleitet, immer nur Einzelnes und Aeusseres sieht und betreiben und besitzen will, wie ihm die Empfindung des Augenblicks gebietet: dann kann ihm das Schicksal feindselig rauben, was er begehrt, und spielt mit seinen Entschlüssen, die ein Spiel zu sein verdienen; dann mag er klagen über Ungewissheit, denn nichts steht fest für ihn; dann erscheint ihm als ein dichter Schleier die eigene Blindheit, und dunkel muss es ja wohl sein, wo nicht das Licht der Freiheit scheint; dann muss er freilich, wiewohl vergeblich, weil er beides nur so wähnt, wie es nicht gedacht werden kann, sich bestreben zu wissen, ob jener Wechsel, der ihn beherrscht, von einem Willen über alle Willen abhängt, oder vom Zusammentreffen vieler Kräfte die neigungslose Wirkung ist. Denn schrecklich muss es den Menschen ergreifen, wenn er nimmer dazu gelangt sich selbst zu fassen; wenn jeder Lichtstrahl, der in die unendliche Verwirrung fällt, ihm klarer zeigt, er sei kein freies Wesen, sei eben nur ein Zahn in jenem grossen Rade, das ewig kreisend sich, ihn und alles bewegt. Nur Hoffnung, immer wieder aller Erfahrung, allem Bewusstsein zum Trotz erneute Hoffnung auf glücklichen Wechsel oder auf endliches Erbarmen muss seine einzige Stütze sein.

Willkommen mir, in jedem Augenblick, wo ich die Sklaven zittern sehe, aufs neue willkommen, geliebtes Bewusstsein der Freiheit! schöne Ruhe des klaren Sinnes, mit der ich heiter die Zukunft, wohl wissend, was sie ist und was sie bringt, mein freies Eigenthum, nicht meine Herrscherin begrüsse. Mir verbirgt sie[69] nichts, sie nähert sich ohne Anmassung von Gewalt. Die Götter nur, die gedichteten, beherrscht ein Schicksal, weil sie in sich nichts zu wirken haben, und die schlechtesten der Sterblichen, weil sie in sich nichts wirken wollen; nicht den Menschen, der auf sich selbst sein Handeln richtet wie ihm geziemt. Wo ist die Grenze meiner Kraft? wo denn finge sich an das fürchterliche fremde Gebiet? Unmöglichkeit ist für mich nur in dem, was ausgeschlossen ist durch der Freiheit in mir ursprüngliche That, durch ihre Vermählung mit meiner Natur. Nur das kann ich nicht, was dieser widerspricht: aber wie konnte ich auch wollen, was jenen ersten Willen, durch den ich bin, der ich bin, rückgängig machen müsste! Wem diese Beschränkung als fremde Gewalt erscheint, diese, die seines Daseins, seiner Freiheit, seines Willens Bedingung und Wesen ist, der ist mir wunderbar verwirrt. – Und fühle ich etwa innerhalb dieser Grenzen mich enger irgendwie beschränkt? Ja, wenn ich, selbst auf dem Gebiet der Sittlichkeit und Bildung, doch den und jenen Erfolg in irgend einem Augenblick bestimmt begehrte; wenn jemals irgend eine einzelne That das Ziel von meinem Wollen wäre: dann könnte sich mir dies Ziel, indem ich es ergreifen wollte, weit aus den Augen rücken; dann fände ich unter fremder Herrschaft mich; doch wollte ich auch hierüber das Schicksal verklagen, so verfehlt ich nur den eigentlichen Gegenstand der Schuld, mich selbst. Aber niemals kann es mir so ergehen! Lebe ich doch im Bewusstsein meiner ganzen Natur. Immer mehr zu werden was ich bin, das ist mein einziger Wille; jede Handlung ist eine besondere Entwicklung dieses Einen Willens; so gewiss ich immer handeln kann, kann ich auch immer auf diese Weise handeln, nichts kommt in die Reihe meiner Thaten, es sei denn so bestimmt. Lass also begegnen, was da wolle! So lange ich auf diesen Zweck alles ausschliessend beziehe, jedes äussere Verhältniss aber, jede äussere Gestalt des Lebens mich gleichgültig lässt, ja alle mir gleich werth sind, wenn sie nur meines Wesens Natur ausdrücken, und zu seiner inneren Bildung, seinem Wachsthum mir neuen Stoff aneignen; so lange, des Geistes Auge auf dies Ganze allgegenwärtig[70] gerichtet, jedes Einzelne nur in diesem Ganzen, und in diesem alles Einzelne mir erscheint, nie aus dem Bewusstsein ich verliere, was ich unterbreche, immer auch das noch will, was ich nicht thue, und was ich eben thue, auf Alles, was ich will, beziehe: so lange beherrscht mein Wille das Geschick, und wendet Alles, was es bringen mag, zu seinen Zwecken mit Freiheit an. Nie kann solchem Wollen sein Gegenstand entzogen werden, und es verschwindet beim Denken eines solchen Willens der Begriff des Schicksals. Woher entspringt denn jener Wechsel des menschlichen, den sie so drückend fühlen, als eben aus der Gemeinschaft solcher Freiheit? So ist er also der Freiheit Werk und meines. Wie könnte ich ihn für Andere durch mein Thun bereiten helfen, wenn ich nicht auch für mich ihn von den Andern forderte? Ja, ich verlange ihn laut! es komme die Zeit, und bringe wie sie kann zum Handeln, zum Bilden und Aeussern meines Wesens mir mannigfachen Stoff. Ich scheue nichts; gleich gilt mir die Ordnung, und alles was äussere Bedingung ist. Was aus der Menschen gemeinschaftlichem Handeln hervorgehen kann, soll alles an mir vorüber ziehen, mich regen und bewegen um von mir wieder bewegt zu werden, und in der Art, wie ich es aufnehme und behandle, will ich immer meine Freiheit finden, und äussernd bilden meine Eigenthümlichkeit.

Ist es leere Täuschung etwa? Verbirgt sich hinter solchem Gefühl der Freiheit nur die Ohnmacht? So deuten gemeine Seelen, was sie nicht verstehen! Doch das leere Geschwätz der Selbsterniedrigung ist längst für mich verhallt, zwischen mir und ihnen richtet in jedem Augenblick die That. Sie klagen immer, wenn sie die Zeit verstreichen sehen, und fürchten, wenn sie kommt und bleiben ungebildet nach wie vor, bei allem Wechsel immer dieselbe gemeine Natur. Wo ist ein einziges Beispiel, an dem sie läugnen dürften, dass anders, was ihnen begegnete, behandelt werden konnte? So wäre mir es leicht sie mitten im Schmerz noch ärger zu zermalmen, und dem zerknirschten Sinn noch das Geständniss auszupressen, dass nur innere Trägheit war, was sie als äussere Gewalt bejammern, oder dass[71] sie nicht wollten, was sie nur gewollt zu haben scheinen möchten; und so die niedrige Beschränkung ihres eigenen Bewusstseins und Willens ihnen zeigend, sie eben dadurch glauben zu lehren an Willen und Bewusstsein.

Doch mögen sie es lernen oder nicht: dass nichts, was mir begegnet, der eigenen Bildung Wachsthum zu hindern, und vom Ziel des Handelns mich zurückzutreiben vermag; der Glaube ist lebendig in mir durch die That. So habe ich, seitdem sich meines Daseins die Vernunft bemächtiget, seit Freiheit und Selbstbewusstsein in mir wohnen, die wechselreichen Bahnen des Lebens durchwandelt. Im schönen Genuss der jugendlichen Freiheit habe ich die That vollbracht hinwegzuwerfen die falsche Maske, frevelnder Erziehung langes mühsames Werk; betrauern habe ich gelernt das kurze Leben der Meisten, die sich, auch wenn ihnen dasselbe gelungen, doch wieder von neuen Ketten binden lassen; verachten habe ich gelernt das schnöde Bestreben der oft schon in der kräftigsten Lebenszeit kraftlos Abgelebten, die auch der letzten Erinnerung an den kurzen Traum der Freiheit schon verlustig, nicht wissen, was der Jugend, die eben anfängt, sich ihrer zu erfreuen, begegnet, und gern der alten Weise sich getreu erhielten. Im fremden Hause ging der Sinn mir auf für schönes gemeinschaftliches Dasein; ich sah, wie Freiheit erst veredelt und recht gestaltet die zarten Geheimnisse des menschlichen Geschlechts, die dem Ungeweihten immer dunkel bleiben, der sie als Bande der Natur oft mehr nur erträgt als verehrt. Im buntesten Gewühl von allen weltlichen Verschiedenheiten lernte ich den Schein vernichtend in jeder Tracht die gleiche Natur erkennen und die mancherlei Sprachen übertragen, die sie in jedem Kreise sich bildet. Im Anschauen der grossen Gährungen, der stillen und der lauten, lernte ich den Sinn der Menschen verstehen, wie sie immer nur an der Schale haften; und in der stillen Einsamkeit, die mir zu Theil ward, habe ich die innere Natur betrachtet, alle Zwecke, die der Menschheit durch ihr Wesen aufgegeben sind, und alle Verrichtungen des Geistes in ihrer ewigen Einheit angeschaut, und in lebendiger Anschauung gelernt das[72] todte Wort der Schulen richtig schätzen. Ich habe Freud und Schmerz empfunden, ich kenne jeden Gram und jedes Lächeln, und was giebt es unter Allem, was mich betraf, seitdem ich wirklich lebe, woraus ich meinem Wesen nichts Neues angeeignet, und Kraft gewonnen hätte, die das innere Leben nährt?

So sei denn die Vergangenheit mir Bürge der Zukunft; sie ist ja dasselbe, was kann sie mir anderes thun, wenn anders ich derselbe bin? Bestimmt und klar sehe ich in den Inhalt meines Lebens vor mir. Ich weiss, wiefern mein Wesen schon fest in seiner Eigenthümlichkeit gebildet und abgeschlossen ist; durch gleichförmiges Handeln nach allen Seiten mit der ganzen Einheit und Fülle meiner Kraft werde ich mir dies erhalten. Wie sollte ich nicht des Neuen und Mannigfachen mich erfreuen, wodurch sich neu und immer anders die Wahrheit meines Bewusstseins mir bestätigt? Oder bin ich meiner selbst so sicher, dass ich dessen nicht mehr bedürfte, sondern auf wechsellose Stille gerechten Anspruch hätte? Nein, noch immer sollen Leid und Freude, und was sonst die Welt als Wohl und Wehe bezeichnet, mir gleich willkommen sein, weil jedes auf eigene Weise diesen Zweck erfüllt und meines Wesens Verhältnisse mir offenbart! Wenn ich nur dies erreiche, was kümmert mich glücklich sein! – Ich weiss auch, was ich mir noch nicht zu eigen gemacht, ich kenne die Stellen, wo ich noch in unbestimmter Allgemeinheit schwebend von frühe her den Mangel eigener Ansicht und eigener Regel schmerzlich fühle. Dem Allen streckt sich schon lange Zeit die Kraft entgegen; und irgend wann werde ich es mit Thätigkeit und mit Betrachtung umfassen, und innig verbinden mit allem, was schon in mir ist. Wissenschaften, ohne deren Kenntniss nie meine Ansicht der Welt vollendet werden kann, sind mir noch zu ergründen. Fremd sind mir noch viele Gestalten der Menschheit; Zeitalter und Völker giebt es, die ich nur erst durch fremde Bilder oberflächlich kenne, in deren Denkart und Wesen sich nicht auf eigene Weise die Phantasie versetzt, die keinen bestimmten Platz einnehmen in meiner Anschauung von den Entwicklungen des Geschlechts. Manche von den Thätigkeiten, die in mein eigenes[73] Wesen minder gehören, begreife ich noch nicht, und über ihre Verbindungen mit allem, was gross und schön ist in der Menschheit, fehlt mir das eigene Urtheil oft. Das alles werde ich mit einander, nach einander gewinnen; die schönste Aussicht breitet sich vor mir aus. Wie viele edle Naturen, die ganz von mir verschieden die Menschheit in sich bilden, kann ich in der Nähe betrachten! Von wie viel kenntnissreichen Menschen bin ich umgeben, die gastfrei oder eitel in schönen Gefässen mir ihres Lebens goldene Früchte bieten, und die Gewächse ferner Zeiten und Zonen durch ihre Treue ins Vaterland verpflanzt. Kann mich das Schicksal fesseln, dass ich mich diesem Ziele nicht nähern darf? Kann es mir die Mittel der Bildung weigern, mich entfernen aus der leichten Gemeinschaft mit dem Thun des jetzigen Geschlechtes, und mit der Vorwelt Monumenten? mich weit von der schönen Welt, in der ich lebe, hinaus in öde Wüsteneien schleudern, wo Kunde von der anderen Menschheit zu erlangen unmöglich ist, wo in ewigem Einerlei mich die gemeine Natur von allen Seiten eng umschliesst, und in der dicken verdorbenen Luft, die sie bereitet, nichts schönes, nichts bestimmtes das Auge trifft? Wohl ist es Vielen so geschehen; doch mir kann es nicht begegnen: ich trotze dem, was Tausende gebeugt. Nur durch Selbstverkauf geräth der Mensch in Knechtschaft, und nur den wagt das Schicksal anzufeilschen, der sich selbst den Preis setzt und sich ausbietet. Was lockt den Menschen unstät von dem Orte weg, wo seinem Geiste wohl ist? Was treibt ihn wohl mit feiger Thorheit die schönsten Güter von sich zu werfen, wie fremdes Gut im tobenden Sturme der Schiffer auswirft? Es ist der schnöde äussere Gewinn, es ist der Reiz der sinnlichen Begierde, den, schon verdampft, das alte Getränk nicht mehr befriedigt. Wie könnte mir bei meiner Verachtung solcher Schatten dies geschehen! Mit Fleiss und Mühe habe ich mir den Ort errungen wo ich stehe, mir mit Bewusstsein und Anstrengung die eigene Welt gebildet, in der mein Geist gedeihen kann: wie sollte dies feste Band ein flüchtiger Reiz der Furcht oder Hoffnung lösen? wie sollte ein eitler Tand mich aus der Heimath locken, und aus dem Kreise der lieben Freunde?[74]

Doch diese Welt mir zu erhalten und immer genauer zu verbinden, ist nicht das Einzige, was ich fordere: ich sehne mich nach einer neuen Welt. Manch neues Bündniss ist noch zu knüpfen, mancher noch unbekannten Liebe neu Gesetz muss mir das Herz bewegen, dass sich zeige, wie sich dies in meinem Wesen zum Anderen fügt. In Freundschaft jeder Art habe ich gelebt; der Liebe süsses Glück habe ich mit heiligen Lippen gekostet, ich weiss, was mir in beiden ziemt, und kenne meiner Schicklichkeit Gesetz: noch aber muss die heiligste Verbindung auf eine neue Stufe des Lebens mich erheben, verschmelzen muss ich mich zu Einem Wesen mit einer geliebten Seele, dass auch auf die schönste Weise meine Menschheit auf Menschheit wirke; dass ich wisse, wie das verklärte höhere Leben nach der Auferstehung der Freiheit sich in mir bildet, wie erneut der Mensch die neue Welt beginnt. In Vaterrecht und Pflichten muss ich mich einweihen, dass auch die höchste Kraft, die gegen freie Wesen Freiheit übt, nicht in mir schlummere, dass ich zeige, wie wer an Freiheit glaubt, die junge Vernunft bewahrt und schützt, und wie in diesem grossen Problem die schönste Verwirrung des Eigenen und des Fremden der klare Geist zu lösen weiss. Wird mich nicht hier gerade beim liebsten Wunsch des Herzens das Schicksal ergreifen? Wird sich hier die Welt nicht rächen für den Trotz der Freiheit, für das übermüthige Verschmähen ihrer Macht? Wo mag sie wohnen, mit der das Band des Lebens zu knüpfen mir ziemt? Wer mag mir sagen, wohin ich wandern soll, um sie zu suchen? denn solch hohes Gut zu gewinnen, ist kein Opfer zu theuer, keine Anstrengung zu gross! Und ob ich sie nun finde frei, oder wenn unter fremdem Gesetz, das sie mir weigert, ob ich vermögen werde, sie mir zu lösen? Und wenn ich sie gewonnen – spielt etwa nicht oft das Unbegreifliche auch mit der süssesten und treuesten Liebe, und wehrt, dass nicht dem Gattenrecht der süsse Vatername sich beigeselle? Hier steht endlich Jeder an der Grenze der Willkür und der Mysterien der Natur, über die wir auch nicht wünschen dürfen, die Willkür zu erheben. Denn wenn mich früher fremde Freiheit und der Lauf der Welt zu hemmen trachten: dem stelle ich[75] mich. Viel vermag da der Mensch, und manches Schwere erringt des Willens Kraft und ernstliches Bestreben. Doch wenn nun Hoffen und Bestreben vergeblich ist; wenn Alles sich mir weigert: bin ich dann vom Schicksal hier besiegt? Hat es dann wirklich der Erhöhung meines inneren Lebens sich widersetzt, und meine Bildung zu beschränken vermocht durch seinen Eigensinn? Es hindert nicht der äussern That Unmöglichkeit das innere Handeln; und mehr als mich und sie würde ich die Welt bedauern, die Welt, die wohl ein schönes und seltenes Beispiel mehr verlöre, eine von den Erscheinungen aus tugendlicher Vorzeit oder aus der besseren Zukunft hieher verirrt, an der sie ihre todten Begriffe erwärmen und beleben könnte. Uns, so gewiss einander wir gehören, trägt doch auch unbekannt in unser schönes Paradies die Phantasie. Nicht vergeblich habe ich mancherlei Gestalten des weiblichen Gemüthes gesehen, und ihres stillen Lebens schöne Weisen mir bekannt gemacht. Je weiter ich noch selbst von seinen Grenzen stand, desto sorgsamer nur habe ich der Ehe heiliges Gebiet erforscht; ich weiss, was Recht dort ist, was nicht, und alle Gestalten des Schicklichen habe ich mir ausgebildet, wie erst die späte freie Zukunft sie zeigen wird, und welche darunter mir geziemt, weiss ich genau. So kenne ich die auch unbekannt, mit der ich mich fürs Leben aufs innigste vereinigen könnte; und indem schönen Leben, das wir führen würden, bin ich eingewohnt. Wie ich jetzt trauernd in öder Einsamkeit mir Manches einrichten und beginnen, verschweigen, versagen und in mich verschliessen muss, im Kleinen und Grossen: es schwebt mir doch immer lebendig dabei vor, wie das in jenem Leben anders und besser wurde sein. So ist es gewiss auch ihr, wo sie auch sein mag, die so geartet ist, dass sie mich lieben, dass ich ihr genügen könnte; gleiche Sehnsucht, die mehr als leeres Verlangen ist, enthebt auch sie wie mich der öden Wirklichkeit, für die sie nicht gemacht ist, und wenn ein Zauberschlag uns plötzlich zusammenführte, würde Nichts uns fremd sein; als wären wir alter, süsser Gewohnheit verpflichtet, so anmuthig und leicht würden wir in der neuen Lebensweise uns bewegen. So fehlt uns also nicht,[76] auch ohne jenen Zauberschlag, in uns das höhere Dasein; für solches Leben und durch dasselbe sind wir doch gebildet, und nur die äussere Darstellung entgeht uns und der Welt.

O wüssten doch die Menschen diese Götterkraft der Phantasie zu brauchen, sie, die allein den Geist ins Freie stellt, ihn über jede Gewalt und jede Beschränkung weit hinausträgt, sie, ohne die des Menschen Kreis nur ängstlich enge sich schliesst! Wie Vieles berührt denn Jeden im kurzen Lauf des Lebens? Von wie viel Seiten müsste der Mensch nicht unbestimmt und ungebildet bleiben, wenn nur auf das Wenige, was ihn von aussen wirklich anstösst, sein inneres Handeln ginge? Aber so sinnlich sind sie in der Sittlichkeit, dass sie auch sich selbst nur da recht vertrauen, wo ihnen die äussere Darstellung des Handelns Bürgschaft leistet für ihres Bewusstseins Wahrheit. Umsonst steht in der grossen Gemeinschaft der Menschen der, der so sich selbst beschränkt! es hilft ihm nicht, dass ihm vergönnt ist, ihr Thun und Leben anzuschauen; vergebens muss er sich über die träge Langsamkeit der Welt und ihre matten Bewegungen beklagen. Er wünscht sich immer neue Verhältnisse, von aussen immer andere Aufforderungen zum Handeln, und neue Freunde, nachdem die alten, was sie konnten, auf sein Gemüth gewirkt; und allzulangsam weilt ihm überall das Leben. Und wenn es auch in beschleunigterem Lauf ihn tausend neue Wege führen wollte, könnte denn in der kurzen Spanne Zeit sich die Unendlichkeit erschöpfen? Was so Jene niemals sich erwünschen können, gewinne ich durch das innere Leben der Phantasie. Sie ersetzt mir, was der Wirklichkeit gebricht; jedes Verhältniss, worin ich einen Anderen erblicke, mache ich mir durch sie zum eigenen; es bewegt sich innerlich der Geist, gestaltet es seiner Natur gemäss, und bildet, wie er handeln würde, mit sicherem Gefühle vor. Auf gemeines Urtheil der Menschen über fremdes Sein und fremde That, das mit todten Buchstaben nach leeren Formeln berechnet wird, ist freilich kein Verlass; und gar anders als sie vorher geurtheilt haben, handeln sie hernach. Hat aber, wie es sein muss, wo wahres Leben ist, ein inneres Handeln das Bilden der Phantasie geleitet;[77] und ist so die vorgebildete That des gewohnten inneren Handelns reines Bewusstsein: dann hat das angeschaute Fremde den Geist gebildet, eben als wäre es auch in der Wirklichkeit sein Eigenes, als hätte er auch äusserlich gehandelt. So nehme ich wie bisher auch ferner kraft dieses inneren Handelns von der ganzen Welt Besitz, und besser nutze ich Alles in stillem Anschauen, als wenn jedes Bild in raschem Wechsel auch äussere That begleiten müsste. Tiefer prägt so sich jedes Verhältniss ein, bestimmter ergreift es der Geist, und reiner ist des eigenen Wesens Abdruck im freien unbefangenen Urtheil. Was dann das äussere Leben wirklich bringt, ist nur des früheren und reicheren inneren Bestätigung und Probe; nicht aber ist in das dürftige Maass von jenem die Bildung des Geistes eingeschränkt. Darum klage ich über des Schicksals Trägheit eben so wenig als über seinen schnellen und krümmungsvollen Lauf. Ich weiss, dass nie mein äusseres Leben von allen Seiten das innere Wesen darstellen und vollenden wird. Nie wird es mir ein grosses Verhältniss bieten, wo meine That das Wohl und Weh von Tausenden entschiede, und sich es äusserlich beweisen könnte, wie Alles mir nichts ist gegen ein einziges von den hohen und heiligen Idealen der Vernunft. Nie werde ich vielleicht in offene Fehde gerathen mit der Welt, und zeigen können, wie wenig Alles, was ihr vergönnt ist, zu geben und zu nehmen, den inneren Frieden und die stille Einheit meines Wesens stört. Doch hoffe ich in mir selbst zu wissen, wie ich auch das behandeln würde, wie zu dem allen schon lange mein Gemüth bereitet und gebildet ist. So lebe ich, wiewohl in stiller Verborgenheit, dennoch auf dem grossen thatenreichen Schauplatz der Welt. So ist der Bund mit der geliebten Seele schon dem Einsamen gestiftet, die schöne Gemeinschaft bestellt, und ist der bessere Theil des Lebens. So werde ich auch der Freunde Liebe, die einzige theure Habe, mir gewiss erhalten, was auch mir oder ihnen in Zukunft mag begegnen.

Wohl fürchten die Menschen, dass nicht lange die Freundschaft währe; wandelbar scheint ihnen das Gemüth, es könne der Freund sich ändern, mit der alten[78] Gesinnung fliehe die alte Liebe, und Treue sei ein seltenes Gut. Sie haben Recht; es liebt ja, wenn sie über das Nützliche hinaus noch etwas kennen, doch Einer vom Andern nur den leichten Schein, der das Gemüth umfliesst, die oder jene Tugend, die, was sie eigentlich im Innern sei, sie nie erforschen; und wenn in den Verwirrungen des Lebens ihnen das zerfliesst, so schämen sie sich nicht, nach langen Jahren noch zu gestehen, sie haben am Menschen sich geirrt. Mir ist nicht schöne Gestalt, noch was sonst im ersten Anblick das Herz der Menschen fängt, verliehen: doch webt auch Jeder, der mein Inneres nicht durchschaut, sich einen solchen Schein. Da wird an mir ein gutes Herz geliebt, wie ich es nicht möchte, ein bescheidenes Wesen, was ganz anders in mir ist, als sie meinen, ja Klugheit auch, die ich von Herzen verachte. Darum hat auch solche Liebe mich schon oft verlassen; auch gehört sie nicht zu jener Habe, die mir theuer ist. Nur was ich selbst hervorgebracht und immer wieder aufs Neue mir erwerbe, ist für mich Besitz: wie könnte ich zu dem Meinen rechnen, was nur aus jenem Schein entsteht, den ihr blödsichtiges Auge dichtet. Rein weiss ich mich davon, dass ich sie nicht betrüge; aber wahrlich, es soll die falsche Liebe mich auch nicht länger, als ich es tragen mag, verfolgen. Nur eine Aeusserung des inneren Wesens, die sie nicht missverstehen können, kostet es mir; nur einmal sie gerade hin auf das geführt, was ich im Gemüth am köstlichsten bewahre, und was sie nicht dulden mögen: so bin ich ledig der Qual, dass sie mich für den ihren halten, dass sie mich lieben, die sich von mir wenden sollten. Gern gebe ich ihnen die Freiheit wieder, die in falschem Schein befangen war. Die aber sind mir sicher, die wirklich mich, mein inneres Wesen, lieben wollen; und fest umschlingt sie das Gemüth, und wird sie nimmer lassen. Sie haben mich erkannt, sie schauen den Geist, und die ihn einmal lieben, wie er ist, die müssen ihn immer treuer und immer inniger lieben, je mehr er sich vor ihnen entwickelt und immer fester gestaltet.

Dieser Habe bin ich so gewiss als meines Seins; auch habe ich Keinen noch verloren, der mir je in[79] Liebe theuer ward. Da, der Du in frischer Blüthe der Jugend, mitten im raschen frohen Leben unseren Kreis verlassen musstest – ja, ich darf anreden das geliebte Bild, das mir im Herzen wohnt, das mit dem Leben und der Liebe fortlebt, und mit dem Gram – nimmer hat dich mein Herz verlassen; es hat dich mein Gedanke fortgebildet, wie du dich selbst gebildet haben würdest, hättest du erlebt die neuen Flammen, die die Welt entzünden; es hat dein Denken mit dem meinen sich vereint, und das Gespräch der Liebe zwischen uns, der Gemüther Wechselanschauung hört nimmer auf, und wirkt fort auf mich, als lebtest du neben mir wie sonst. Ihr Geliebten, die Ihr noch hier nur in der Ferne weilt, und oft von Eurem Geist und Leben ein frisches Bild mir sendet, was kümmert uns der Raum? Wir waren lange bei einander, und waren uns weniger gegenwärtig als wir jetzt es sind: denn was ist Gegenwart als Gemeinschaft der Geister? Was ich nicht sehe von Eurem Leben, bilde ich mir selbst; Ihr seid mir nahe bei Allem in mir, um mich her, was Euren Geist lebendig berühren muss, und wenig Worte bestätigen mir alles oder leiten auf rechte Spur mich, wo noch Irrthum möglich war. Ihr, die Ihr mich jetzt umgebt in süsser Liebe, Ihr wisst, wie wenig die Lust mich quält, die Erde zu durchwandeln; ich stehe fest an meinem Ort, und werde nicht verlassen den schönen Besitz, in jedem Augenblick Gedanken und Leben mit Euch tauschen zu können; wo solche Gemeinschaft ist, da ist mein Paradies. Gebietet über Euch ein anderer Gedanke: wohl, es giebt für uns doch keine Entfernung. – Aber Tod? Was ist denn Tod, als grössere Entfernung?

Düsterer Gedanke, der unerbittlich jedem Gedanken an Leben und Zukunft folgt! Wohl kann ich sagen, dass die Freunde mir nicht sterben; ich nehme ihr Leben in mich auf, und ihre Wirkung auf mich geht niemals unter: mich aber tödtet ihr Sterben. Es ist das Leben der Freundschaft eine schöne Folge von Akkorden, der, wenn der Freund die Welt verlässt, der gemeinschaftliche Grundton abstirbt. Zwar innerlich hallt ihn ein langes Echo ununterbrochen nach, und weiter geht die Musik: doch erstorben ist die begleitende[80] Harmonie in ihm, zu welcher ich der Grundton war, und die war mein, wie diese in mir sein ist. Mein Wirken in ihm hat aufgehört, es ist ein Theil des Lebens verloren. Durch Sterben tödtet jedes liebende Geschöpf, und wem der Freunde viele gestorben sind, der stirbt zuletzt den Tod von ihrer Hand, wenn ausgestossen von aller Wirkung auf die, welche seine Welt gewesen, und in sich selbst zurückgedrängt, der Geist sich selbst verzehrt. Zwiefach ist des Menschen nothwendiges Ende. Vergehen muss, wem so unwiederbringlich das Gleichgewicht zerstört ist zwischen dem inneren Leben und äusseren Dasein. Vergehen müsste auch, wem es anders zerstört ist, wer, am Ziele der Vollendung seiner Eigenthümlichkeit angelangt, von der reichsten Welt umgeben, in sich nichts mehr zu handeln hätte; ein ganz vollendetes Wesen ist ein Gott, es kann die Last des Lebens nicht ertragen, und hat nicht in der Welt der Menschheit Raum. Nothwendig also ist der Tod, und dieser Nothwendigkeit mich näher zu bringen, sei der Freiheit Werk, und sterben wollen können, mein höchstes Ziel! Ganz und innig will ich die Freunde umfassen und ihr ganzes Wesen ergreifen, dass jeder mich mit süssen Schmerzen tödten helfe, wenn er mich verlässt; und immer fertiger will ich mich bilden, dass auch so dem Sterbenwollen immer näher die Seele komme. Aus beiden Elementen ist immer der Tod des Menschen zusammengesetzt, und so werden nicht die Freunde alle mich verlassen, noch werde ich jemals ganz der Vollendung Ziel erreichen. In schönem Ebenmaass werde ich nach meines Wesens Natur mich ihm von allen Seiten nähern; dieses Glück wird mir gesichert durch meine innere Ruhe und mein stilles gedankenvolles Leben. Es ist das höchste für ein Wesen wie meines, dass die innere Bildung auch übergehe in äussere Darstellung, denn durch Vollendung nähert jede Natur sich ihrem Gegensatz. Der Gedanke, in einem Werk der Kunst mein inneres Wesen, und mit ihm die ganze Ansicht, die mir die Menschheit gab, zurückzulassen, ist mir wie die Ahnung des Todes. Wie ich mir der vollen Blüthe des Lebens bewusst zu werden anfing, keimte er auf, jetzt wächst er in mir täglich und nähert sich der Bestimmtheit. Unreif, ich[81] weiss es, werde ich ihn aus freiem Entschluss aus meinem Innern lösen, ehe das Feuer des Lebens ausgebrannt ist; liesse ich ihn aber reifen, und vollkommen werden das Werk: so müsste dann, so wie das treue Ebenbild erschiene in der Welt, mein Wesen selbst vergehen; es wäre vollendet.

Quelle:
Friedrich Schleiermacher's Monologen. Berlin 1868, S. 68-82.
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