Lucius Annaeus Seneca

Trostschrift an seine Mutter Helvia

[53] (Ad Helviam matrem de consolatione)


[53] I. (1.) Oft schon, beste Mutter, nahm ich einen Anlauf dich zu trösten, oft hielt ich wieder inne. Es zu wagen, trieb mich Vieles an; zuerst schien es mir, als würde ich alles Widerwärtige von mir werfen, wenn ich deine Thränen, wo nicht völlig unterdrückt, doch wenigstens einstweilen abgewischt hätte; sodann zweifelte ich nicht, daß ich mehr im Stande sein würde dich aufzurichten, wenn ich mich vorher selbst ermannt hätte; überdies fürchtete ich, das Schicksal möchte, wenn auch von mir besiegt, doch über irgend Einen der Meinen siegen. (2.) Daher versuchte ich, so gut es ging, die Hand auf meine Wunde drückend, mich herzuschleppen, um eure Wunden zu verbinden. Diesen meinen Vorsatz [aber] verzögerten wieder manche Umstände. Ich wußte, daß man deinem Schmerze, so lange er in Frische tobte, nicht entgegentreten dürfe, damit ihn nicht die Tröstungen selbst noch mehr erregten und anfachten; denn auch bei Krankheiten ist Nichts verderblicher, als unzeitige Arzneimittel. (3.) Ich wartete daher, bis er seine Kraft selbst bräche und, durch die Zeit zur Ertragung der Heilmittel besänftigt, sich berühren und behandeln ließe. Außerdem fand ich, obgleich ich alle zur Bezähmung und Mäßigung der Trauer abgefaßten Werke der berühmtesten und talentvollsten Männer nachschlug, kein Beispiel eines Mannes, der die Seinen getröstet hätte, wenn er selbst von ihnen beweint wurde. (4.) So wurde ich in einem mir neuen Falle bedenklich und besorgte, es möchte dies keine Tröstung, sondern ein Aufreißen der Wunde werden. Ja, hätte nicht ein Mensch, der zur Tröstung der Seinen sein Haupt vom Scheiterhaufen selbst erhöbe, ganz neue und nicht der gewöhnliche und alltäglichen[54] Umgangssprache entnommene Worte nöthig? Jeder große und das Maß überschreitende Schmerz aber muß nothwendig eine Auswahl der Worte treffen, während er doch oft sogar die Stimme selbst versagen läßt. Doch will ich mich, so gut ich kann, zusammennehmen, nicht aus Vertrauen auf mein Talent, sondern weil ich selbst statt der wirksamsten Tröstung dein Tröster sein kann. Dem du Nichts abschlagen würdest, dem wirst du, hoffe ich, obgleich jeder Gram halsstarrig ist, sicherlich das nicht versagen, daß du deiner Sehnsucht durch mich eine Grenze setzen lässest.

II. (1.) Siehe, wie viel ich mir von deiner Zärtlichkeit verspreche; ich zweifle nicht, daß ich über dich mehr vermögen werde, als dein Schmerz, dessen Macht über Unglückliche doch Nichts übertrifft. Um daher nicht sogleich mit ihm zu kämpfen, so will ich ihn erst vertheidigen und sagen, was ihn erregen konnte; ich will Alles vorbringen und selbst, was schon vernarbt ist, wieder aufreißen. (2.) Es wird Je mand sagen: »Was ist das für eine Art zu trösten, wenn man schon vergessene Uebel zurückruft und einem Gemüthe, das kaum eine Trübsal erträgt, einen Standpunkt gibt, von welchem aus es alle seine Trübsale überblickt?« Dieser mag jedoch bedenken, daß Alles, was so verderblich ist, daß er trotz der Gegenmittel immer mehr erstarkt, meistentheils durch das Gegentheil geheilt wird. Ich will ihm daher all seinen Jammer, alles Traurige vorführen; das heißt [freilich] nicht auf sanftem Wege heilen, sondern brennen und schneiden. Was werde ich dadurch erreichen? Daß die Seele als Besiegerin so vielen Elends sich schämen muß, über eine einzige Wunde an seinem so narbenvollen Körper mißmuthig zu sein. (3.) Daher mögen die noch länger weinen und jammern, deren verweichlichte Seelen langes Glück entnervt hat, und mögen sie, wenn die leisesten Widerwärtigkeiten sich regen, zusammensinken; die aber, denen alle Jahre unter Unglücksfällen vorübergegangen sind, mögen auch das Schwerste mit starker und unerschütterlicher Standhaftigkeit ertragen. Beständiges Unglück hat das eine Gute, daß es die, welche es fortwährend plagt, zuletzt abhärtet. (4.) Dir hat das Schicksal nie Ruhe gegönnt[55] vor den schwersten Trauerfällen; selbst deinen Geburtstag hat es nicht ausgenommen. Kaum geboren, oder vielmehr während du geboren wurdest, hast du deine Mutter verloren und bist gewissermaßen zum Leben ausgesetzt worden. Aufgewachsen bist du unter einer Stiefmutter, die du zwar durch steten Gehorsam und kindliche Liebe, wie man sie nur an einer Tochter erblicken kann, dir eine Mutter zu werden genöthigt hast; dennoch kommt Jedermann eine Stiefmutter, auch wenn sie eine gute ist, theuer zu stehen. Meinen Oheim, einen höchst nachsichtsvollen, trefflichen und wackeren Mann, hast du verloren, während du seine Ankunft erwartetest. Und damit das Schicksal seine Grausamkeit gegen dich nicht etwa durch Fristungen mildere, hast du in Zeit von dreißig Tagen auch deinen theuern Gatten, von dem du Mutter dreier Kinder warst, begraben müssen. (5.) Während du noch trauertest, wurde dir die Trauerkunde überbracht und zwar in Abwesenheit aller deiner Kinder, als sei gleichsam absichtlich dein Unglück auf eine Zeit lang gehäuft worden, wo du Nichts hättest, woran dein Schmerz sich lehnen könnte. Ich übergehe so viele Gefahren und Aengsten, die du ohne Unterbrechung auf dich einstürmend ertragen hast. Jüngst erst hast du in denselben Schoos, aus dem du drei Enkel entlassen hattest, wieder die Asche von drei Enkeln gesammelt. Zwanzig Tage darauf, nachdem du meinen Sohn, der in deinen Händen und unter deinen Küssen gestorben war, beerdigt hattest, vernahmst du, ich sei fortgeschleppt; das nur hatte dir noch gefehlt, daß du um Lebende trauern mußtest.

III. (1.) Die schwerste von allen Wunden, welche je deinen Körper trafen, ist – ich gestehe es – diese neueste; sie hat nicht [nur] die oberste Haut zerrissen, sie hat die Brust und die innern Theile selbst gespalten. Doch wie neue Krieger, [auch nur] leicht verwundet, dennoch laut schreien und sich vor den[56] Händen der Wundärzte mehr fürchten, als vor dem Schwerte, alte Soldaten aber, obgleich ganz durchbohrt, sich doch [die Wunde] geduldig und ohne einen Seufzer, als ob es an einem fremden Körper wäre, ausdrücken lassen: so mußt [auch] du dich jetzt bei deiner Heilung standhaft zeigen. (2.) Gejammer und Geheul und Anderes, wodurch sich der Schmerz einer Frau gewöhnlich austobt, halte fern von dir; denn du hast ja so viele Unglücksfälle vergeblich erduldet, wenn du noch nicht unglücklich zu sein gelernt hast. Scheine ich dir nun etwa schüchtern mit dir verfahren zu sein? Ich habe dir keinen von deinen Unglücksfällen unerwähnt gelassen, ich habe sie alle auf einen Punkt zusammengedrängt vor dich hingestellt. Mit hohem Muthe habe ich das gethan; denn ich habe mir vorgesetzt, deinen Schmerz zu besiegen, nicht [blos] zu beschränken.

IV. (1.) Und ich werde ihn besiegen, glaube ich, zuerst wenn ich zeige, daß ich Nichts erdulde, weshalb ich selbst unglücklich genannt werden könnte, geschweige wodurch ich auch diejenigen unglücklich machen sollte, mit denen ich in Berührung stehe; sodann wenn ich auf dich übergehe und beweise, daß auch dein Geschick, welches ja ganz von dem meinigen abhängt, kein hartes sei. (2.) Daran will ich zuerst gehen, was deine mütterliche Zärtlichkeit zu vernehmen besonders trachtet, daß ich kein Unglück leide, und wenn ich kann, dir klar machen, daß das, wovon du mich gedrückt wähnst, gar nicht unerträglich sei. Kannst du das nicht glauben, nun so werde ich um so mehr von mir selbst halten, weil ich unter Verhältnissen, die Andre unglücklich zu machen pflegen, glücklich bin. Du brauchst hinsichtlich meiner nicht Andern zu glauben; damit du nicht durch unsichre Vermuthungen beunruhigt werdest, sage ich dir selbst, daß ich nicht unglücklich bin, und damit du desto sorgloser seist, füge ich noch hinzu, daß ich gar nicht unglücklich werden kann.

V. (1.) Wir sind mit günstiger Beschaffenheit geboren, wenn wir ihr nur nicht untreu werden. Die Natur hat dafür gesorgt,[57] daß es, um glücklich zu leben, keines großen Apparats bedarf; ein Jeder kann sich glückselig machen. Die zufällig kommenden Umstände sind von geringer Bedeutung und haben nach keiner von beiden Seiten hin einen großen Einfluß; den Weisen machen weder günstige Umstände stolz, noch schlagen ungünstige ihn nieder; denn stets hat er sich bestrebt, das Meiste auf sich selbst zu setzen, und alle Freude in sich selbst zu suchen. (2.) Wie? ich nenne mich einen Weisen? Keineswegs; denn wenn ich das von mir sagen könnte, so würde ich nicht nur behaupten, nicht unglücklich zu sein, sondern mich rühmen, daß ich der glücklichste und der Gottheit nahe gerückt sei. Vor der Hand habe ich mich, was genügt, um alles Elend zu mildern, mich weisen Männern hingegeben und, weil ich selbst noch nicht stark genug bin mir zu helfen, meine Zuflucht in ein fremdes Lager genommen, derer nämlich, die sich und die Ihrigen zu schützen wissen. (3.) Diese hießen mir beständig wie auf einen Wachposten gestellt zu stehen und alle Versuche und Angriffe des Schicksals viel früher, als sie andringen, in's Auge zu fassen. Nur für die ist es hart, denen es plötzlich kommt; leicht erträgt es, wer es immer erwartet. Denn auch des Feindes Ankunft schlägt [nur] diejenigen zu Boden, die sie unvermuthet überrascht; die sich aber auf den bevorstehenden Krieg vor dem Kriege vorbereitet haben, fangen wohl geordnet und bereit den ersten Streich, welcher am meisten in Verwirrung bringt, leicht auf. (4.) Nie habe ich dem Glücke getraut, auch wenn es Frieden zu halten schien: Alles das, was es mir höchst gnädig zuertheilte, Geld, Ehrenstellen, Gunst, habe ich an einen solchen Ort gestellt, von wo es solches wieder wegnehmen konnte, ohne daß es mich berührte. Ich erhielt zwischen jenen Dingen und mir eine große Kluft, und so hat es denn dieselben wieder weggenommen, aber nicht losgerissen. Noch Keinen hat das Unglück gebeugt, außer wenn das Glück getäuscht hatte. (5.) Diejenigen, die seine Gaben als ihr Eigenthum und als etwas Beständiges geliebt haben[58] und sich ihretwegen geehrt wissen wollten, sind niedergeschlagen und trauern, wenn die falschen und veränderlichen Ergötzungen ihren eiteln, kindischen und aller echten Freude unkundigen Seelen untreu werden. Wen aber das Glück nicht aufgeblasen gemacht, den beugt auch die Veränderung desselben nicht; er setzt jedem von beiden Zuständen ein unbesiegbares Herz von schon erprobter Festigkeit entgegen; denn er hat bereits im Glücke selbst erprobt, was er gegen das Unglück vermöge. (6.) Daher habe ich stets geglaubt, in dem, was Alle wünschen, sei Nichts des wirklich Guten enthalten; dann habe ich nur eitle, mit glänzender und auf Täuschung berechneter Schminke überzogene Dinge darin gefunden, die innerlich Nichts haben, was ihrer Außenseite ähnlich wäre. So finde ich in dem, was man Uebel zu nennen pflegt, nichts so Schreckliches und Hartes, als der Wahn des großen Haufens fürchten ließ; das Wort selbst freilich fällt in Folge einer gewissen Ueberredung und Uebereinstimmung schon ziemlich rauh in's Ohr und thut denen, die es hören, als etwas Trauriges und Verwünschenswerthes weh; denn so hat das Volk [nun einmal] entschieden; Volksbeschlüsse aber werden von den Weisen großentheils verworfen.

VI. (1.) Setzen wir also das Urteil der Menge bei Seite, welche der erste Anblick einer Sache, jenachdem man ihm getraut hat, hinreißt, und betrachten wir, was Verbannung sei: nämlich eine Veränderung des Aufenthaltsorts. Damit es [aber] nicht scheine, als wolle ich die Bedeutung [des Wortes] beschränken und alles sehr Schlimme, was es enthält, verschweigen: dieser Ortsveränderung folgen [allerdings auch] Unannehmlichkeiten, Armuth, Beschimpfungen, Verachtung. Gegen diese Dinge will ich nachher kämpfen; jetzt will ich zuerst das betrachten, was denn die Ortsveränderung selbst Bitteres mit sich führe. (2.) »Das Vaterland zu entbehren, ist etwas Unerträgliches.« So blicke doch einmal auf diese Volksmenge, für welche kaum die Häuser[59] der unermeßlichen Stadt hinreichen; der größte Theil dieses Haufens entbehrt des Vaterlandes. Aus ihren Municipien und Kolonieen, ja aus dem ganzen Erdkreise sind sie zusammengeströmt. Die Einen führte der Ehrgeiz her, Andere die Nothwendigkeit einer Thätigkeit für das öffentliche Leben, Andere eine übertragene Gesandtschaft, Andere Genußsucht, die einen den Lastern günstigen und an ihnen reichen Ort aufsucht, Andere die Liebe zur Beschäftigung mit den edeln Wissenschaften, Andere die Schauspiele; Manche zog auch die Freundschaft her, Manche die Betriebsamkeit, die hier ein weites Feld findet ihr Talent zu zeigen; Manche bringen ihre schöne Gestalt zu Markte, Manche ihre Beredsamkeit. (3.) Jede Klasse von Menschen strömt in die Hauptstadt zusammen, die sowohl den Tugenden als den Lastern große Belohnungen aussetzt. Befiehl einmal diese alle beim Namen aufzurufen und frage, wo ein Jeder zu Hause sei: du wirst sehen, daß der größere Theil von ihnen mit Verlassung der Heimath in diese allerdings sehr große und schöne Stadt gekommen ist, die aber doch nicht die Ihrige ist. Dann aber siehe ab von dieser Stadt, die freilich gewissermaßen die allgemeine [Vaterstadt] genannt werden kann, und gehe in allen [andern] Städten umher: jede hat einen großen Theil fremder Bevölkerung. (4.) Gehe ab von solchen, deren anmuthige Lage und große Vortheile bietende Gegend Viele anlockt; durchwandere öde Landstriche und die rauhesten Inseln, Sciathus, Seriphus, Gyarus und Corsika: du wirst keinen Verbannungsort finden, wo nicht Jemand eines Freundes wegen verweilte. Wo kann man etwas so Nacktes, wo etwas auf allen Seiten so schroff Abgerissenes finden, als dieses Felsen[nest]? wo etwas in Betracht der Produkte Dürftigeres, in Bezug auf die Menschen Wilderes, in Bezug auf die Lage selbst Schauerliches, in Bezug[60] auf das Klima Unfreundlicheres? und doch halten sich hier mehr Fremde als Eingeborne auf. (5.) So sehr lästig also ist die Veränderung des Aufenthaltsorts an und für sich nicht, daß sogar diese Gegend Manche ihrem Vaterlande entführt hat. Ich finde, daß Einige behaupten, es liege im Gemüthe eine gewisse natürliche Verlockung den Wohnsitz zu verändern und den häuslichen Herd wo andershin zu versetzen. Denn es ist dem Menschen ein beweglicher und unruhiger Geist gegeben; niemals hält er sich zusammen, er zerstreut sich, läßt seine Gedanken auf Alles, Bekanntes wie Unbekanntes, umherschweifen, unstät, die Ruhe nicht ertragend, und über die Neuheit der Gegenstände hoch erfreut. (6.) Und darüber wirst du dich nicht verwundern, wenn du seinen ersten Ursprung betrachtest. Nicht aus erdigem und schwerem Körperstoffe ist er gebildet; aus jenem göttlichen Geiste ist er herniedergestiegen; das Wesen des Himmlischen aber ist in steter Bewegung, es ist flüchtig und treibt sich im raschesten Laufe. Betrachte die Gestirne, welche die Welt erleuchten; keins derselben bleibt stehen; unaufhörlich gleiten sie dahin und verändern beständig ihre Stelle, und obgleich sie sich mit dem ganzen Weltall herumdrehen, haben sie doch eine der Welt entgegengesetzte Bewegung, durch alle Theile des Thierkreises laufen sie hindurch, niemals stockt ihre beständige Bewegung und von einem Orte zum andern geht ihre Wanderung. (7.) Alle wälzen sich und sind stets im Vorübergehen, und wie es das Gesetz und die Nothwendigkeit der Natur angeordnet hat, werden sie von einer Stelle zur andern fortgetragen. Haben sie in einem Zeitraum bestimmter Jahre ihre Kreisbahn vollendet, so durchlaufen sie aufs Neue den Raum, durch den sie gekommen. Nun gehe hin und glaube, der menschliche Geist, der aus denselben Urstoffen, woraus die göttlichen Wesen entstehen, zusammengesetzt ist, sei unwillig über einen Uebergang und eine Wanderung, während die Natur der Gottheit sich einer beständigen und überaus raschen Veränderung erfreut, oder durch sie sich erhält. (8.) Nun wohlan, vom Himmlischen wende dich zum Menschlichen: und du wirst[61] finden, daß alle Stämme und Völker ihren Wohnsitz [stets] verändert haben. Was bedeuten mitten in barbarischen Gegenden die griechischen Städte? was die macedonische Sprache mitten unter Indiern und Persern? Scythien und jener ganze Landstrich roher und ungebändigter Völker zeigt achäische Städte, an den Küsten des Pontus erbaut. Nicht die Strenge eines ewigen Winters, nicht der Charakter der Menschen, rauh gleich ihrem Himmel, hat denen im Wege gestanden, die ihren Wohnsitz dahin verlegten. (9.) In Asien ist eine Menge von Athenern. Miletus hat die Bevölkerung von fünfundsiebzig Städten nach allen Richtungen hin ergossen; die ganze Seite Italiens, die vom unteren Meere bespült wird, war Groß-Griechenland; die Etrusker, schreibt Asien sich zu; in Afrika wohnen Tyrier, Punier in Spanien; Griechen haben sich in Gallien niedergelassen, Gallier in Griechenland. Die Pyrenäen haben den Uebergang von Germanen nicht abgehalten; durch unbekannte Gegenden hat sich der Leichtsinn der Menschen hindurchgewunden. Kinder, Weiber und von Alter gedrückte Eltern haben sie mitgeschleppt. (10.) Andere, auf langer Irrfahrt herumgetrieben, haben sich nicht durch Entschluß einen Wohnort erwählt, sondern aus Ermüdung den nächsten besten in Besitz genommen; Andere haben sich durch die Waffen ein Recht im fremdem Lande verschafft. Manche Völker hat, während sie nach unbekannten Ländern steuerten, das Meer verschlungen; manche ließen da sich nieder, wo sie der Mangel an Allem zu bleiben zwang; und nicht Alle hatten dieselbe Ursache ihr Vaterland zu verlassen und [ein andres] aufzusuchen. (11.) Manche hat die Zerstörung ihrer Städte, den feindlichen Waffen entronnen, aber ihres Landes beraubt, in fremde Länder getrieben; Andere hat ein Aufruhr in der Heimath verscheucht; Andere hat Uebervölkerung auswandern heißen, damit sich die Volksmasse entlade; Andere haben Seuchen, häusige[62] Erdbeben oder andre unerträgliche Gebrechen des ungünstigen Bodens fortgetrieben; Manche hat das Gerede von einer fruchtbaren und übermäßig gepriesenen Seeküste verführt; die Einen hat diese, die Andern jene Ursache zum Auszug aus ihrer Heimath bestimmt. So viel in der That ist offenbar, daß Nichts an demselben Orte geblieben ist, wo es geboren wurde; es findet ein beständiges Hin- und Herziehen des menschlichen Geschlechtes Statt; täglich verändert sich Etwas auf dem so weiten Erdkreise. (12.) Neue Städte werden gegründet; es entstehen neue Völkernamen, während die früheren erlöschen oder sich verwandeln, um ein Zuwachs zu einem mächtigeren zu werden. Alle jene Verpflanzungen von Völkern aber, was sind sie andres, als allgemeine Verbannungen?

VII. (1.) Weshalb schleppe ich dich auf so langen Umwegen herum? Was nützt es, den Antenor, den Erbauer von Patavium, und den Evander, der ein Reich der Arkadier an dem Ufer der Tiber gründete, oder den Diomedes und andre aufzuzählen, welche der Trojanische Krieg als Besiegte und Sieger zugleich in fremde Länder zerstreut hat? Blickt ja doch das römische Reich auf einen Vertriebenen als seinen Stifter zurück, den, als er, geringe Ueberreste [seines Volks] mit sich führend, aus der eroberten Vaterstadt floh, die Nothwendigkeit und die Furcht vor dem Sieger, die ihn entlegene Länder aufsuchen hieß, nach Italien verschlug. (2.) Wie viele Kolonien hat sodann dies Volk in alle Provinzen entsendet! Wo nur immer der Römer gesiegt, hat er Wohnsitze. Zu solcher Wohnungsvertauschung meldete man sich gern, und der greise Pflanzer folgte, seine Altäre verlassend, über's Meer hinüber [den Auswanderern].

VIII. (1.) Die Sache bedarf keiner weitern Aufzählung; Eins jedoch will ich noch hinzufügen, was sich meinen Blicken aufdringt. Diese Insel selbst hat schon oft ihre Bewohner gewechselt. Um die früheren Zeiten, welche das Alter in Dunkel[63] gehüllt hat, zu übergehen, so haben sich zuerst Griechen, die jetzt Massilia bewohnen, nachdem sie Phocis verlassen, auf dieser Insel niedergelassen. Was sie daraus vertrieben hat, ist ungewiß, ob das rauhe Klima, oder der Anblick des übermächtigen Italiens, oder die Beschaffenheit des hafenlosen Meeres; denn daß nicht die Wildheit der Bewohner die Ursache war, erhellet daraus, daß sie sich unter die damals besonders rohen und ungebildeten Bewohner Galliens begaben. (2.) Dann zogen Ligurier auf sie herüber, auch Spanier, was sich aus der Aehnlichkeit der Lebensweise ergibt; denn [man findet daselbst] dieselben Kopfbedeckungen und dieselbe Art von Schuhwerk, wie bei den Cantabrern, auch manche Worte [derselben]; die ganze Sprache nämlich ist durch den Umgang mit Griechen und Liguriern von der urväterlichen abgewichen. Hierauf wurden zwei Kolonien römischer Bürger hierher geführt, die eine vom Marius, die andre vom Sulla. So oft hat sich die Bevölkerung dieser dürren und dornigen Felsen[insel] verändert. (3.) Endlich wird man kaum irgend ein Land finden, das auch jetzt noch seine Urbevölkerung bewohnte; Alles ist unter einander gemischt und verpflanzt; die Einen sind an die Stelle der Andern getreten. Dieser hat etwas begehrt, was Jenem zum Ekel war; Jener ist von da vertrieben worden, von wo er Andere verdrängt hatte. So gefiel es dem Schicksal, daß die Lage keiner Sache stets dieselbe bleibe. Gegen die Veränderung des Aufenthaltsortes selbst, abgesehen von den übrigen Widerwärtigkeiten, die mit der Verbannung zusammenhängen, hält Varro, einer der gelehrtesten Römer, das für ein hinreichendes Trostmittel, daß man, wohin man auch kommen mag, immer mit derselben Natur der Dinge zu thun hat. (4.) Marcus Brutus meint, das sei schon genug, daß den[64] in die Verbannung Gehenden vergönnt sei, ihre Tugenden mit sich zu nehmen. Wenn nun auch Einer diese Umstände einzeln für minder wirksam hält, um einen Verbannten zu trösten, so wird er doch gestehen müssen, daß beide vereinigt sehr viel vermögen. Denn welche Kleinigkeit ist, was wir verlieren! Zwei Dinge, welche die herrlichsten [von allen] sind, werden uns begleiten, wohin wir uns auch wenden, die gemeinsame Natur und die uns eigene Tugend. Dafür, glaube mir, ist gesorgt von jenem Bildner des Weltalls, wer er auch sein mag, sei er ein allmächtiger Gott, oder eine unkörperliche Vernunft, die Schöpferin gewaltiger Werke, oder ein Alles, das Größte wie das Kleinste, in gleichmäßiger Stärke durchströmender göttlicher Hauch, oder ein Schicksal und eine unwandelbare Reihe unter einander zusammenhängender Ursachen; dafür, sage ich, ist gesorgt, daß Nichts, als die geringfügigsten Dinge, fremder Willkür unterworfen ist. (5.) Alles, was das Beste für den Menschen ist, liegt außerhalb menschlicher Macht und kann weder gegeben, noch entrissen werden, nämlich diese Welt, das Größte und Schönste, was die Natur geschaffen hat, und der Geist, der Betrachter und Bewunderer der Welt, ihr herrlichster Theil, uns eigen und unverlierbar, so lange mit uns fortdauernd, als wir selbst fortdauern werden. Frisch und muthig also wollen wir festen Schrittes eilen, wohin immer das Schicksal uns führen wird.

IX. (1.) Laß uns alle Länder durchmessen: innerhalb der ganzen Welt läßt sich kein Platz finden, der nicht dem Menschen gehörte, überallher richtet sich auf gleiche Weise der Blick zum Himmel empor, und in gleichen Zwischenräumen ist alles Göttliche von allem Menschlichen entfernt. Nun denn, so lange meinen Augen jenes Schauspiel, an dem sie sich nicht sättigen können, nicht entzogen wird, so lange es mir vergönnt ist Sonne und Mond anzuschauen, mit meinen Blicken an den übrigen Gestirnen zu haften, ihren Auf- und Untergang, ihre Abstände und die Ursachen ihres theils schnelleren, theils langsameren Laufes zu erforschen, eine solche Menge die Nacht hindurch leuchtender Sterne[65] zu erblicken, die einen unbeweglich, andere nicht in weite Fernen hinausschweifend, sondern in ihrer eigenen Bahn sich herumbewegend, einige plötzlich hervorbrechend, manche mit sprühendem Feuer, als wollten sie herabfallen, das Auge blendend, oder in langem Zuge mit hellem Lichte vorüberfliegend: so lang ich bei diesen bin und mich, so weit es dem Menschen erlaubt ist, mit dem Himmel in Verbindung setze, so lang ich den Geist, der nach dem Anblick verwandter Dinge strebt, immer in den höhern Sphären verweilen lassen kann: was liegt daran, worauf mein Fuß tritt? (2.) Aber dies Land trägt keine fröhlich zu schauenden Fruchtbäume, es wird nicht von großen und schiffbaren Flüssen bewässert, es erzeugt Nichts, was andere Völker begehren, kaum zum Unterhalt seiner Bewohner fruchtbar genug; kein kostbares Gestein wird hier gebrochen, keine Gold- und Silberadern ausgegraben. Nun das ist ein enger Geist, der sich am Irdischen ergötzt; zu Jenem ist er hinzulenken, was sich überall auf gleiche Weise zeigt, überall auf gleiche Weise glänzt; auch muß man bedenken, daß jene Dinge den wahren Gütern durch trügerische Güter, auf die man mit Unrecht vertraut, im Wege stehen. (3.) Je längere Säulengänge sie sich bauen, je höher sie ihre Thürme aufführen, je breiter sie ihre Gassen ausdehnen, je tiefer sie ihre Sommergrotten graben, mit je größern Steinmassen sie die Giebel ihrer Speisesäle erhöhen, um so Mehreres wird ihnen den Himmel verbergen. Das Mißgeschick hat dich in eine Gegend hinausgeworfen, wo eine Hütte der ansehnlichste Aufenthaltsort ist. Traun, dann bist von kleinem, sich auf elende Weise tröstendem Geiste, wenn du dies [nur] deshalb muthig erträgst, weil du eine Hütte des Romulus kennst. (4.) Sage dir lieber: Jene niedrige Hütte hat doch wohl für Tugenden Raum? und sofort wird sie schöner sein, als alle Tempel, wenn[66] man darin Gerechtigkeit erblickt und Enthaltsamkeit, Klugheit, Frömmigkeit, Geschick allen Dienstpflichten gehörig nachzukommen, Kenntniß der göttlichen und menschlichen Dinge. Kein Ort ist eng, der eine Menge so großer Tugenden faßt; keine Verbannung ist drückend, in die man mit diesem Gefolge gehen kann. (5.) Brutus sagt in dem Buche, das er »über die Tugend« schrieb, er habe zu Mytilenä den Marcellus in der Verbannung gesehen, der so glücklich gelebt habe, als es nur die menschliche Natur gestatte, und nie von größerm Eifer für die schönen Wissenschaften beseelt gewesen sei, als zu jener Zeit. Daher fügte er hinzu, »es sei ihm mehr vorgekommen, als ob er in die Verbannung ginge, da er ohne jenen zurückkehren müßte, als daß er jenen in der Verbannung zurücklasse.« Glücklicher also warst du, Marcellus, zu jener Zeit, wo du den Brutus deine Verbannung, als wo du dein Consulat rühmen ließest! Was war das für ein Mann, der bewirkte, daß sich Einer als Verbannter vorkam, weil er von ihm, dem Verbannten, scheiden mußte? was für ein Mann, der einen Brutus ihn zu bewundern zwang, den selbst sein Cato bewundern mußte? (6.) Derselbe Brutus sagt, »Cajus Cäsar sei an Mytilenä vorbeigeschifft, weil er es nicht habe ertragen können jenen Mann entehrt zu erblicken.« Der Senat erwirkte auf allgemeines Bitten seine Rückkehr so besorgt und betrübt, daß Alle an jenem Tage von Brutus' Geiste beseelt zu sein und nicht für Marcellus, sondern für sich zu bitten schienen, damit sie nicht Verbannte wären, wenn sie ohne ihn leben müßten; aber noch weit mehr erreichte er an jenem Tage, wo Brutus ihn, den Verbannten, nicht zu verlassen, Cäsar ihn nicht zu sehen vermochte. Denn dadurch wurde ihn ein Zeugniß Beider zu Theil. Den Brutus schmerzte es und Cäsar schämte sich, ohne Marcellus zurückzukehren. (7.) Zweifelst du wohl, daß Marcellus, jener so große Mann, sich zu gefaßter Ertragung[67] seiner Verbannung also ermuthigt haben wird: »Daß du das Vaterland entbehrst, ist kein Unglück. Du hast dich mit solchen Kenntnissen ausgerüstet, daß du weißt, dem Weisen sei jeder Ort ein Vaterland. Sodann, hat nicht derjenige selbst, der dich vertrieb, zehn ganze Jahre lang das Vaterland entbehrt? ohne Zweifel um sich den Oberbefehl des Heeres zu verlängern, aber er hat es doch entbehrt. Siehe, nun zieht ihn Afrika zu sich hin, das voll ist von drohenden Anzeichen des neu erwachenden Krieges, es zieht ihn Hispanien fort, das seine gebrochenen und gelähmten Glieder neu belebt, es zieht ihn das treulose Aegypten fort, kurz der ganze Erdkreis, der auf den günstigen Augenblick lauert, wo der Staat erschüttern wird. Wem soll er zuerst begegnen? welcher Partei soll er sich zuerst entgegenstellen? (8.) Sein Sieg wird ihn durch alle Länder jagen. Mögen ihn Nationen bewundern und verehren: du lebe zufrieden mit der Bewunderung eines Brutus. Trefflich also hat Marcellus seine Verbannung ertragen und in seinem Gemüthe hat die Veränderung des Aufenthaltsortes Nichts verändert, obgleich Verarmung sie begleitete. Daß aber in dieser kein Uebel liege, sieht ein Jeder ein, der noch nicht in den Wahnsinn der Alles umkehrenden Habsucht und Ueppigkeit verfallen ist. Denn wie wenig ist es doch, was zur Erhaltung des Menschen nöthig ist? und wem kann es daran fehlen, der nur irgend eine moralische Kraft besitzt? (9.) Wenigstens was mich betrifft, so erkenne ich, daß ich nicht an Reichthum, sondern [nur] an Geschäften verloren habe. Des Körpers Bedürfnisse sind gering; Kälte will er abgewehrt wissen, Hunger und Durst durch Nahrungsmittel stillen; was man außerdem begehrt, wirkt den Lastern, nicht dem Bedürfniß in die Hände. Es ist unnöthig, jede Tiefe [der Erde] zu durchsuchen, durch eine Niederlage unter den Thieren den Magen zu überladen und Muscheln des entlegensten Meeres aus unbekannten Küsten herauszuscharren. Mögen Götter[68] und Göttinnen diejenigen verderben, deren Genußsucht über die Grenzen eines so beneidenswerthen Reiches hinaus greift. (10.) Jenseits des Phasis will man gefangen wissen, was die prahlerische Küche versorgen soll, und man schämt sich nicht von den Parthern, an denen wir noch keine Rache genommen, Vögel zu entnehmen. Von überall her bringt man zusammen, was nur immer der ekle Gaumen kennt. Was der durch Leckereien zerrüttete Magen kaum vertragen kann, wird vom entferntesten Ocean herbeigeschafft. Man erbricht sich, um essen zu können, und ißt, um sich zu erbrechen, und würdigt die Mahlzeiten, die man aus der ganzen Welt zusammensucht, nicht einmal der Verdauung. Wenn nun Einer dies verachtet, was schadet ihm dann die Armuth? und wer es begehrt, dem ist die Armuth sogar heilsam. Denn er wird ja geheilt, ohne es zu wollen, und wenn er die Heilmittel nicht einmal gezwungen annimmt, so gleicht er, indem er nicht kann, einem nicht Wollenden. (11.) Der Kaiser Cajus [Caligula], den mir die Natur hervorgebracht zu haben scheint, um zu zeigen, was die höchste Lasterhaftigkeit im höchsten Glück vermöge, hat an einem Tage um zehn Millionen Sesterzien gespeist, und obgleich dabei von dem Erfindungsgeist aller Welt unterstützt, fand er doch kaum eine Möglichkeit, die Abgaben von drei Provinzen zu einer Mahlzeit aufzuwenden. O die Beklagenswerthen, deren Gaumen nur durch kostbare Speisen gereizt wird! Kostbar aber macht sie nicht ausnehmender Wohlgeschmack oder irgend eine Annehmlichkeit für den Mund, sondern [nur] die Seltenheit und Schwierigkeit der Herbeischaffung. (12.) Sonst, wenn es ihnen zur gesunden Vernunft zurückzukehren beliebte, wozu bedarf es so vieler dem Bauche fröhnender[69] Künste? wozu des Handels? wozu der Entvölkerung der Wälder? wozu der Durchsuchung der Tiefen? Ueberall liegen Nahrungsmittel umher, welche die Natur an allen Orten niedergelegt hat; aber an ihnen gehen sie wie blind vorüber und durchschweifen alle Landstriche, setzen über Meere, und während sie den Hunger mit geringen Kosten stillen könnten, reizen sie ihn mit großem Aufwand.

X. (1.) Ich möchte fragen: Warum laßt ihr eure Schiffe auslaufen? warum bewaffnet ihr eure Hände gegen wilde Thiere wie gegen Menschen? warum lauft ihr mit solcher Unruhe bald da, bald dort hin? warum häuft ihr Schätze auf Schätze? wollt ihr nicht bedenken, wie klein eure Körper sind? Ist es nicht Wahnsinn und die äußerste Geistesverirrung, da du doch so wenig fassest, so Vieles zu begehren? Mögt ihr daher auch euer Vermögen vergrößern, die Grenzen [eurer Besitzungen] erweitern: ihr werdet doch nie euern Körper weiter machen. Wenn auch euer Handelsverkehr gut rentirt, wenn euch der Kriegsdienst viel eingetragen hat, wenn eure überallher aufgespürten Nahrungsmittel sich gehäuft haben, ihr werdet doch keinen Raum haben, wo ihr jene eure Vorräthe unterbringen könnt. (2.) Warum [also] scharret ihr so Vieles zusammen? Freilich, unsere Vorfahren, deren Tugend noch jetzt eine Stütze unsrer Laster bildet, waren unglücklich, weil der Erdboden ihre Lagerstätte war, weil ihre Häuser noch nicht von Gold strahlten, ihre Tempel noch nicht von Edelsteinen funkelten. Ja damals schwur man heilig gehaltene Eide bei Göttern aus Thon, und die, welche sie angerufen hatten, kehrten des Todes gewiß zum Feind zurück, um nicht falsch geschworen zu haben. Freilich, unser Dictator, der den Gesandten der Samniten Audienz gab, während[70] er sich am Herde seine so wohlfeile Speise mit derselben Hand bereitete, womit er schon oft den Feind geschlagen und den Lorbeerkranz in den Schooß des Capitolinischen Jupiters niedergelegt hatte, lebte weniger glücklich, als zu unsrer Zeit Apicius, welcher in derselben Stadt, aus der man einst die Philosophen als Verderber der Jugend hatte wegziehen heißen, als Lehrer der Kochkunst auftrat und mit seiner Wissenschaft den Zeitgeist ansteckte. Es lohnt der Mühe sein Ende kennen zu lernen. (3.) Nachdem er hundert Millionen Sesterzien auf die Küche verwendet, nachdem er so viele Geschenke der Großen und eine so ungeheure Summe, wie das Capitol erfordert, für jedes einzelne Gelage verschwendet hatte, übersah er, von Schulden erdrückt, nothgedrungen zum ersten Male seinen Haushalt, und da er herausrechnete, daß ihm [nur] zehn Millionen Sesterzien übrig blieben, so endete er sein Leben selbst mit Gift, als ob er nun ein äußerst hungriges Leben führen müßte, wenn er von zehn Millionen leben sollte. Wie groß war die Ueppigkeit eines Menschen, für den zehn Millionen Sesterzien Bettelarmuth waren! Nun glaube noch, daß er auf die Größe des Vermögens, nicht des Geistes ankomme.

XI. (1.) Es gab also Einen, dem mit zehn Millionen Sesterzien [zu leben] bangte und der dem, was Andere mit Gelübden erflehen, durch Gift aus dem Wege ging. Diesem Menschen von so verkehrtem Sinne war jedoch der letzte Trunk der heilsamste. Da aß und trank er Gift, als er sich der unermeßlichsten Gastmähler nicht blos erfreute, sondern auch rühmte, als er seine Laster zur Schau trug, als er den Staat in seine Schwelgerei hineinzog, als er die Jugend zu seiner Nachahmung reizte, die[71] auch ohne schlechte Beispiele an sich schon gelehrig genug ist. So geht es denen, welche die Reichthümer nicht von der Vernunft abhängig machen, welch ihr bestimmtes Maß hält, sondern von einer lasterhaften Angewöhnung, deren Willkür eine maßlose und unbezwingliche ist. (2.) Der Begierde ist Nichts genug, der Natur auch Weniges. Daher hat die Armuth eines Verbannten nichts Beschwerliches; denn kein Verbannungsort ist so arm, daß er nicht zur Ernährung eines Menschen mehr als genug fruchtbar wäre. Oder wird etwa ein Verbannter Kleidung oder ein Haus vermissen? Auch dies wird er nur, so weit es braucht, begehren, und es wird ihm weder an einem Obdach, noch an einer Hülle fehlen; den der Körper wird mit eben so Wenigem bedeckt, als ernährt. Nichts, was die Natur dem Menschen nothwendig machte, hat sie ihm mühsam gemacht. (3.) Doch vermißt er ein mit vielen Schnecken gefärbtes, mit Gold durchwebtes und mit vielen Farben kunstreich gesticktes Purpurkleid, so ist er nicht durch die Schuld der Natur, sondern durch seine arm. Wenn du ihm auch Alles ersetzest, was er verloren hat, du wirst ihm nicht helfen; denn mehr von dem, was er wünscht, wird ihm als noch zu ersetzend fehlen, als dem Verbannten von dem, was er hatte. (4.) Doch vermißt er ein von Goldgefässen glänzendes Hausgeräthe und durch alte Künstlernamen sich auszeichnendes Silberzeug und ein Metall, das [nur] durch den Wahnsinn einiger Wenigen kostbar ist, und einen Schwarm von Sklaven, der das auch noch so große Haus enge macht, Zugvieh mit [gleichsam] ausgestopften und zum Fettwerden gezwungenen Leibern und Marmorgattungen aller Nationen: so wird, mag auch dies alles zusammengebracht werden,[72] es doch nie sein unersättliches Gemüth zufrieden stellen, eben so wenig, als irgend ein Getränk hinreichen wird, den zu befriedigen, dessen Begehr nicht aus Mangel, sondern aus der Hitze der brennenden Eingeweide entsteht; denn das ist nicht Durst, sondern Krankheit. (5.) Und das ist nicht nur bei dem Gelde oder den Nahrungsmitteln der Fall; dasselbe Verhältniß findet bei jedem Verlangen Statt, das nicht aus Mangel, sondern aus einer Verkehrtheit hervorgeht; Alles, was man ihm zugesteht, wird nicht das Ende, sondern [nur] eine Steigerung der Begierde herbeiführen. Wer sich also innerhalb des natürlichen Maßes hält, wird keine Armuth spüren, wer [aber] das natürliche Maß überschreitet, dem wird auch bei den größten Schätzen die Armuth folgen. Für das Nothwendige reichen auch Verbannungsorte aus, für das Ueberflüssige nicht einmal Königreiche. (6.) Der Geist ist's, welcher reich macht; dieser [aber] begleitet auch in die Verbannung und hat auch in den rauhesten Einöden, wenn er nur so viel vorfindet, als zur Erhaltung des Körpers nöthig ist, an seinen eignen Gütern Ueberfluß und Genuß. Geld geht den Geist Nichts an, nicht weniger, als die unsterblichen Götter alles das, was unerfahrne und zu sehr an ihrem Körper hangende Gemüther hochschätzen. (7.) Marmor, Gold, Silber und große, polirte runde Tische sind irdische Massen, die ein reiner seiner Natur sich bewußter Geist nicht lieben kann, der selbst leicht, ledig und, wenn er einmal freigelassen sein wird, sich in die höchsten Regionen aufzuschwingen bestimmt ist. Inzwischen durchspäht er, soweit es ihm bei der Hemmung der Glieder [des Leibes] und der ihn umgebenden schweren Bürde möglich ist, mit raschem Gedankenfluge das Göttliche. Deshalb kann er auch nie ein Verbannter sein, da er frei, den Göttern verwandt und jeder Welt, jeder Zeit gewachsen ist. (8.) Denn seine Gedanken schweben um jeden Himmel und bringen in jede Vergangenheit und Zukunft. Dieser armselige Körper, der Kerker und die Fessel des Geistes, wird hierin und dorthin geworfen; an ihm üben sich Qualen, Räubereien und Krankheiten; der Geist selbst ist unverletzlich und ewig, an ihn kann Niemand Hand anlegen.[73]

XII. (1.) Glaube nicht, daß ich, um die Unannehmlichkeiten der Armuth zu verkleinern, die Niemand lästig findet, als wer sie dafür hält, nur die Lehren der Philosophen benutze. Zuerst betrachte, wie viel größer die Zahl der Armen ist, an denen du bemerken wirst, daß sie um Nichts trauriger oder sorgenvoller sind, als die Reichen: ja ich weiß nicht, ob sie nicht um so vergnügter sind, mit je Wenigerem ihr Geist belästigt ist. Wir wollen nun die Armen verlassen und zu den Reichen kommen: wie viele Zeitverhältnisse gibt es, wo sie den Armen ähnlich sind. (2.) Sehr beschränkt ist das Gepäck der Reisenden und so oft die Nothwendigkeit der Reise Eile verlangt, so wird der Schwarm der Begleiter entlassen. Einen wie kleinen Theil ihrer Habe führen im Kriegsdienst Stehende mit sich, da die Lageordnung alles unnöthige Gepäck beseitigt. Und nicht blos Zeitverhältnisse oder Mangel an Raum macht sie den Armen gleich; sie bestimmen, wenn sie einmal der Ueberdruß am Reichthum befallen hat, selbst gewisse Tage, an denen sie auf dem Boden speisen und mit Beseitigung des Gold- und Silbergeschirrs sich irdener Gefässe bedienen. (3.) Die Wahnsinnigen! was sie bisweilen begehren, fürchten sie für immer. O welch' eine Verblendung des Geistes, welch' eine Unkenntniß, der Wirklichkeit treibt sie, die sie zum Vergnügen nachahmen! Fürwahr, so oft ich auf die Beispiele des Alterthums zurückblicke, schäme ich mich, Tröstungen für die Armuth anzuwenden, weil es ja mit der Ueppigkeit unsrer Zeit so weit gekommen ist, daß das Reisegeld der Verbannten mehr beträgt, als einst das Erbgut der Großen war. Es ist bekannt genug, daß Homer [nur] einen, Plato drei und Zeno, mit welchem die strenge und mannhafte Philosophie der Stoiker beginnt, gar keinen Sklaven hatte. Wird nun wohl[74] Jemand deshalb behaupten, daß jene Männer unglücklich gelebt haben, ohne selbst von Allen gerade deswegen für höchst beklagenswerth gehalten zu werden? (4.) Menenius Agrippa, welcher die Mittelsperson der öffentlichen Versöhnung zwischen den Senatoren und dem Bürgerstande war, wurde von zusammengeschossenem Gelde beerdigt. Attilius Regulus schrieb, während er die Karthager in Afrika schlug, an den Senat, sein Tagelöhner sei davongelaufen und sein Feld von ihm verlassen, weshalb der Senat beschloß, es, so lange Regulus abwesend sei, auf öffentliche Kosten bestellen zu lassen. Wahrlich, es verlohnte sich, keinen Sklaven zu haben, da das [ganze] römische Volk sein Ackersmann wurde. Die Töchter des Scipio empfingen ihre Mitgift aus dem Staatsschatze, weil ihnen ihr Vater Nichts hinterlassen hatte. (5.) Es war wahrhaftig recht und billig, daß das römische Volk für Scipio einmal den Tribut verwendete, den es von Karthago für immer bezog. O glückliche Männer dieser Mädchen, bei denen das römische Volk die Stelle des Schwiegervaters vertrat! Hältst du die für glücklicher, deren Söhne Ballettänzerinnen mit einer [Aussteuer von einer] Million Sesterzien heirathen, als den Scipio, dessen Töchter vom Senate, als ihrem Pflegevater, schweres Kupfer zur Mitgift empfingen? Kann nun wohl Jemand die Armuth unwürdig finden, da sie so herrliche Bilder aufstellt? kann ein Verbannter unwillig darüber sein, daß ihm dies und jenes fehlt, da einem Scipio die[75] Mitgift [für die Töchter], einem Regulus ein Tagelöhner, einem Menenius die Begräbnißkosten fehlten, wenn allen diesen das, was ihnen fehlte, eben deshalb, weil es ihnen fehlte, zu desto größerer Ehre ergänzt wurde? Durch solche Anwalte also ist die Armuth nicht blos geschützt, sondern auch zu Ansehn gebracht.

XIII. (1.) Man kann mir erwidern: »Warum hältst du jene Dinge so kunstreich aus einander, die freilich einzeln ertragen werden können, vereinigt oder nicht? Die Ortsveränderung ist erträglich, wenn man blos den Ort verändert; die Armuth ist erträglich, wenn die Schande dabei fehlt, die allein schon die Gemüther zu beugen pflegt.« Gegen jeden Solchen, der mich mit der Menge der Uebel schrecken will, muß ich mich also aussprechen: (2.) Wenn du gegen irgend einen Theil des Schicksals hinreichende Stärke besitzest, so wirst du sie ebenso gegen alle haben; wenn die Tugend einmal die Seele abgehärtet hat, so macht sie dieselbe von allen Seiten her unverwundbar. Wenn die Habsucht dich verlassen hat, diese wüthendste Pest des menschlichen Geschlechts, so wird dir auch der Ehrgeiz Nichts zu schaffen machen. Wenn du den letzten der Tage nicht als Strafe, sondern als ein Naturgesetz ansiehst, so wird in die Brust, aus der du die Furcht verbannt hast, Angst vor Nichts mehr einzudringen wagen. (3.) Wenn du bedenkst, daß die Geschlechtslust dem Menschen nicht zum Vergnügen, sondern zur Fortpflanzung seines Geschlechts gegeben sei, so wird, wenn dich dieses geheime und im Innersten wurzelnde Verderben nicht verletzend ergriffen hat, auch jede andere Begierde, ohne dich zu berühren, an dir vorübergehen. Die Vernunft schlägt nicht nur die einzelnen, sondern sämmtliche Laster zugleich zu Boden; der Sieg findet nur einmal und im Allgemeinen Statt. Meinst du, irgend ein Weiser könne durch Beschimpfung getränkt werden, er, der Alles in sich selbst niedergelegt und sich von den Meinungen des großen Haufens losgemacht hat? Mehr noch als Beschimpfung ist ein schimpflicher Tod. Dennoch betrat Sokrates mit derselben Miene, mit welcher er einst die dreißig Tyrannen allein zur Ordnung[76] zurückgerufen hatte, den Kerker, als wolle er dem Orte selbst das Beschimpfende abnehmen, denn er konnte nicht mehr als Gefängniß erscheinen, wenn ein Sokrates darin war. (4.) Wer ist in dem Grade gegen das Erkennen der Wahrheit verblendet, daß er meinen sollte, das zweimalige Durchfallen des M. Cato bei der Bewerbung um die Prätur und um das Consulat sei ein Schimpf für ihn gewesen? Ein Schimpf für die Prätur und das Consulat war es, welchen [Aemtern] durch Cato Ehre gebracht worden wäre. Niemand wird von einem Andern verachtet, wenn er nicht schon vorher von sich selbst verachtet worden ist. Eine niedrige und verworfene Seele mag für jene Schmach geeignet sein; wer sich aber gegen sie schrecklichsten Unfälle erhebt und die Uebel, von welchen Andere zu Boden gedrückt werden, überwältigt, der besitzt in seinem Elend selbst einen heiligen Schmuck, wenn wir nämlich so gestimmt sind, daß Nichts eine gleich große Bewunderung bei uns erregt, als ein Mensch, der im Elend stark bleibt. (5.) Aristides wurde in Athen zum Tode geführt. Wer ihm begegnete schlug die Augen nieder und seufzte, als ob hier nicht nur über einen gerechten Mann, sondern über die Gerechtigkeit selbst Strafe verhängt würde. Dennoch fand sich Einer, der ihm in's Gesicht spuckte: darüber konnte er unwillig werden, weil er wußte, daß sich dies kein Mensch mit reinem Munde unterstehen würde; aber er wischte sich [ruhig] das Gesicht ab und sagte lächelnd zu dem ihn begleitenden Beamten: »Ermahne ihn doch, daß er künftig nicht so grob küsse.« (6.) Das hieß der Beschimpfung selbst Schimpf bereiten. Ich weiß, daß Einige behaupten, Nichts sei schwerer [zu ertragen], als Verachtung; der Tod selbst sei ihnen lieber. Diesen antworte ich, daß die Verbannung oft aller Verachtung baar und ledig sei. Ist ein großer Mann gefallen, so liegt eben ein großer, und du mußt glauben, er werde eben so wenig verachtet, als wenn man auf den Trümmern heiliger[77] Tempel herumtritt, welche gottesfürchtige Leute eben so verehren, als ob sie noch stünden.

XIV. (1.) Da du nun in Ansehung meiner Nichts hast, was dich zu endlosem Weinen triebe, so folgt, daß deine eigenen Verhältnisse dich dazu aufregen. Es sind aber zwei Umstände [möglich]: denn entweder bekümmert dich das, daß du eine etwaige Stütze verloren zu haben glaubst, oder daß du die Sehnsucht an und für sich selbst nicht zu ertragen vermagst. (2.) Den ersteren Umstand brauche ich nur leicht zu berühren; denn ich kenne dein Herz, das an den Seinen nichts Anderes, als sie selbst liebt. Da laß nun jene Mütter sorgen, die sich mit weibischer Schwäche um die Macht ihrer Söhne mühen, die, weil Frauen keine Ehrenstellen verwalten können, im Namen Jener ehrgeizig sind, die das väterliche Erbgut der Söhne theils erschöpfen, theils an sich ziehen, die Andern zu gefallen ihre Beredsamkeit anstrengen. (3.) Du hast dich der Güter deiner Kinder gar sehr erfreut, [aber] sehr wenig bedient; du hast unserer Freigebigkeit stets Schranken gesetzt, während du der Deinigen keine setztest; du hast, als Tochter des Hauses, deinen begüterten Söhnen obendrein noch mitgetheilt; du hast unser väterliches Erbtheil so verwaltet, daß du dafür besorgt warst, wie für dein eigenes, und dich desselben enthieltest, als wäre es Fremdes; du hast von der Gunst, in der wir standen, so wenig Gebrauch gemacht, als ob du sie [nur] für andere Zwecke benutzen müßtest, und von unsern Ehrenstellen hast du Nichts, als die Freude und die Kosten gehabt; niemals sah deine Zärtlichkeit [gegen uns] auf den Nutzen. Du kannst also, nachdem dir der Sohn entrissen ist, das nicht vermissen, wovon du,[78] als er noch unangefochten war, glaubtest, daß es dich Nichts angehe.

XV. (1.) Mein ganzer Trost muß sich [also] darauf richten, woraus die eigentliche Gewalt deines mütterlichen Schmerzes entspringt. »Ich entbehre die Umarmung des heiß geliebten Sohnes, ich kann seines Anblicks, seiner Unterhaltung nicht genießen. Wo ist er, durch dessen Anblick ich meine traurigen Mienen erheiterte, in dessen [Brust] ich alle meine Bekümmernisse niederlegte? wo sind die Gespräche, in denen ich unersättlich war? wo die Studien, an denen ich mit größerer Neigung, als [sonst] eine Frau, mit größerer Vertraulichkeit, als [sonst] eine Mutter, Theil nahm? wo ist jenes Begegnen, wo die kindliche Heiterkeit bei [jedesmaligem] Erblicken der Mutter?« (2.) Du fügst dazu die Orte der Begrüßung und Bewirthung selbst und, wie natürlich, alle Erinnerungen an den letzten Umgang, die am wirksamsten sind das Gemüth zu quälen. Denn auch das verhängte die Grausamkeit des Schicksals über dich, daß du drei Tage früher, als mich der vernichtende Schlag traf, sorglos und ohne so etwas zu befürchten, zurückreisen solltest. Zum Glück hatte uns die Entfernung der Orte getrennt, zum Glück hatte dich eine mehrjährige Abwesenheit auf dieses Unglück vorbereitet: da kehrtest du zurück, nicht um dich deines Sohnes zu erfreuen, sondern [nur] um die gewohnte Sehnsucht zu verlieren. (3.) Wärest du lange vorher schon nicht[79] da gewesen, so würdest du es standhafter ertragen haben, weil die Entfernung selbst die Sehnsucht gemildert haben würde; wärst du nicht zurückgereist, so hättest du wenigstens den letzten Genuß gehabt, deinen Sohn noch zwei Tage länger zu sehen. Nun aber hat es das grausame Schicksal so gefügt, daß du weder bei meinem Unglück zugegen, noch an meine Abwesenheit gewöhnt warst. Doch je härter dies ist, desto größere Seelenstärke mußt du zu Hülfe rufen und wie mit einem bekannten und schon öfters besiegten Feinde desto hitziger kämpfen. Nicht aus einem [früher] noch unverletzten Körper strömt jetzt dein Blut; durch die Narben selbst hinein bist du verwundet worden.

XVI. (1.) Du hast nicht nöthig von der Entschuldigung Gebrauch zu machen die [schon] in dem Namen »Frau« liegt, der ein beinahe ungemäßigtes doch nicht unendliches Recht der Thränen zugestanden ist, und deshalb haben unsre Vorfahren eine Zeit von zehn Monaten zur Trauer über den Verlust von Ehemännern festgesetzt, damit sie sich durch eine öffentliche Satzung mit der Hartnäckigkeit weiblichen Kummers abfänden; sie haben die Trauer nicht verhindert, sondern ihr [nur] ein Ziel gesteckt. Denn es ist ebensowohl eine thörichte Hartnäckigkeit, sich unbegrenztem Schmerze hinzugeben, wenn man Einen von seinen Theuersten verloren hat, als unmenschliche Fühllosigkeit, dabei gar keinen [Schmerz] zu empfinden. (2.) Das beste Maß zwischen naturgemäßer Liebe und Vernunft ist, daß man die Sehnsucht zwar fühlt, aber unterdrückt. Du brauchst nicht gewisse Frauen in's Auge zu fassen, deren einmal [in's Gemüth] aufgenommene Trauer [allerdings nur] der Tod geendigt hat; du kennst welche, die das nach dem Verlust ihrer Söhne angelegte Trauergewand nie wieder ablegen; von dir [aber] verlangt ein vom Anfang an kräftigeres Leben etwas mehr; die Entschuldigung des weiblichen Geschlechts kann der nicht zu Statten kommen, von der alle weiblichen Schwächen entfernt waren. (3.) Dich hat nicht das größte Uebel unseres Zeitalters, Unzüchtigkeit, der Mehrzahl [der Frauen] beigesellt; dich haben nicht Edelsteine,[80] nicht Perlen bestochen, dich haben nicht Reichthümer als das höchste Gut des menschlichen Geschlechts angestrahlt, dich, die in einem alten und strengen Hause gut Erzogene, hat nicht die auch den Rechtschaffenen gefährliche Nachahmung der Schlechteren auf Abwege geführt. Nie hast du dich deiner Fruchtbarkeit, als ob sie dir dein Alter vorrückte, geschämt; nie hast du nach der Sitte Anderer, die sich nur durch ihre Gestalt zu empfehlen suchen, deinen schwangeren Leib wie eine unanständige Bürde zu verbergen gesucht, und nie hast du die in deinen Schoos aufgenommene Hoffnung auf Kinder vernichtet. (4.) Nie hast du dein Antlitz durch Schminke und erkünstelte Reize befleckt; nie hat dir eine Kleidung gefallen, die, wenn sie abgelegt wurde, Nichts weiter entblößte; als der einzige Schmuck, die größte und keiner Zeit antastbare Schönheit, die höchste Zierde erschien dir die Keuschheit. Du kannst also, um deinen Schmerz zu rechtfertigen, nicht den Namen des Weibes vorschützen, dem dich deine Tugenden entführt haben; du mußt von den Thränen der Weiber eben so weit entfernt sein, als von ihren Fehlern. Selbst Frauen werden es nicht zugeben, daß du an deiner Wunde dich verzehrest, sondern werden dir, wenn du dich der nothwendigen, aber leichteren Trauer schnell entledigt hast, dich aufzuraffen heißen, wenn du nur auf jene Frauen hinblicken willst, denen ihre anerkannte Seelenstärke einen Platz unter den großen Männern anwies. (5.) Die Cornelia hatte das Schicksal von zwölf Kindern bis auf zwei heruntergebracht. Will man die Leichen[81] der Cornelia zählen, so hatte sie zehn [Kinder] verloren, will man ihren Werth berücksichtigen, so waren es Gracchen, die sie verloren. Und dennoch hat sie denen, die um sie her weinten und ihr Geschick verwünschten, es untersagt: »sie sollten das Schicksal nicht anklagen, das ihr Gracchen zu Söhnen gegeben habe.« Von einer solchen Frau mußte der geboren werden, der in der Volksversammlung sprach: »Du willst meine Mutter schmähen, die mich gebar?« Viel hochherziger jedoch scheint mir die Aeußerung der Mutter. (6.) Der Sohn legte einen großen Werth auf die Geburt als Einer der Gracchen, die Mutter auch auf die Leichen derselben. Rutilia folgte ihrem Sohne Cotta in die Verbannung und war durch Zärtlichkeit so sehr an ihn gekettet, daß sie lieber das Exil ertragen wollte, als die Sehnsucht [nach ihrem Sohne], und kehrte nicht eher in's Vaterland zurück, als mit dem Sohne zugleich. Eben denselben aber verlor sie, als er schon zurückgekehrt war und im Staate in hohen Ehren stand, eben so standhaft, als sie ihn begleitet hatte, und Niemand bemerkte an ihr Thränen nach dem Begräbniß ihres Sohnes. Bei seiner Verbannung hat sie Seelenstärke, bei seinem Verluste Klugheit gezeigt; denn es hat sie eben sowohl [dort] Nichts von der Mutterliebe abgeschreckt, als [hier] Nichts in einer überflüssigen und thörichten Traurigkeit festgehalten. (7.) Diesen Frauen will ich dich beigezählt wissen; deren Leben du stets nachgeahmt hast, deren Beispiel wirst du auch in Beschränkung und Unterdrückung des Kummers am besten folgen. Ich weiß wohl, daß diese Sache nicht in unsrer Gewalt steht und daß keine Gemüthsbewegung gehorchen will, am wenigsten aber die, welche aus dem Schmerze entspringt; denn sie ist unbändig und widerspenstig gegen jedes Mittel; wir wollen sie bisweilen zurückdrängen und unsre Seufzer verschlucken, allein an dem zu erkünstelter Fassung gezwungenen Gesichte selbst rollen die hervorbrechenden Thränen herab. (8.) Wir beschäftigen unser Gemüth zuweilen durch Schauspiele und Fechterkämpfe;[82] aber mitten im Schauen, wodurch es abgezogen werden soll, überfällt es irgend eine leise Mahnung an seine Sehnsucht. Daher ist es besser, es zu besiegen, als zu täuschen. Denn wenn es hintergangen und entweder durch Vergnügen oder Beschäftigungen abgezogen werden ist, so erhebt es sich wieder und sammelt gerade durch die Ruhe selbst Kraft zu einem tobenden Ausbruch; wenn es sich aber der Vernunft gefügt hat, ist es für immer beruhigt. (9.) Daher werde ich dir nicht die Mittel zeigen, die, wie ich weiß, Viele angewendet haben, daß du dich entweder durch eine weite Reise zerstreuen, oder durch eine angenehme vergnügen, daß du durch sorgfältige Rechnungsführung und Verwaltung des Vermögens viele Zeit ausfüllen, daß du dich immer wieder in irgend ein neues Geschäft verwickeln sollst – alles das hilft nur für einen kurzen Augenblick und ist nicht eine Abhülfe, sondern [nur] eine Hemmung des Schmerzes; ich aber möchte lieber, daß derselbe aufhörte, als daß er getäuscht würde. Deshalb führe ich dich dahin, wohin Alle, die vor dem Schicksal fliehen, ihre Zuflucht nehmen müssen, zur Beschäftigung mit den edeln Wissenschaften; diese werden deine Wunde heilen und alle Traurigkeit [aus deinem Herzen] herausreißen. Hättest du dich auch noch nie mit ihnen befreundet, jetzt müßtest du sie betreiben; aber so viel dir die alterthümliche Strenge meines Vaters zuließ, hast du alle schönen Künste zwar nicht ganz umfaßt, aber doch gekostet. (10.) O hätte doch mein Vater, der Trefflichste der Männer, weniger der Sitte der Vorfahren huldigend, gewollt, daß du lieber in den Lehren der Weisheit gründlich unterrichtet, als [blos] oberflächlich damit bekannt gemacht würdest! Dann brauchtest du dir jetzt eine Hülfe gegen das Schicksal nicht erst zu erwerben, sondern sie [blos] hervorzunehmen. Jener Frauen wegen, welche die Wissenschaften nicht zur Weisheit benutzen, sondern dadurch [nur] eine Anleitung zur Ueppigkeit bekommen, duldete er es weniger, daß du dich den Studien hingabst; durch die Gunst deines schnell auffassenden[83] Geistes aber hast du doch mehr daraus geschöpft, als der Zeit nach zu erwarten stand; du hast einen Grund zu allen Wissenschaften gelegt. (11.) Kehre jetzt zu ihnen zurück; sie werden dich sicher stellen, sie werden dich trösten, sie werden dich ergötzen; wenn du sie mit aufrichtigem Sinne in deinen Geist aufgenommen hast, wird forthin nie mehr ein Schmerz, nie mehr ein Kummer, nie mehr die überflüssige Qual fruchtloser Betrübniß in demselben einziehen; für Nichts hiervon wird dein Herz offen sein; denn für die übrigen Gebrechen ist es ja längst verschlossen. Dies ist das sicherste Schutzmittel, welches allein dich [der Gewalt] des Schicksals entreißen kann. Weil du aber, ehe du in jenem Hafen angelangt bist, den dir die Studien versprechen, der Hülfsmittel bedarfst, auf die du dich stützen kannst, will ich dir einstweilen deine Trostgründe zeigen. (12.) Blicke auf meine Brüder; so lange diese dir erhalten bleiben, darfst du das Schicksal nicht anklagen. An Beiden hast du, was dich hinsichtlich ihrer verschiedenartigen Vorzüge erfreuen kann. Der Eine hat durch seine Betriebsamkeit Ehrenstellen erlangt, der Andre sie weise verschmäht. Finde dich zufriedengestellt durch die Würde des einen Sohnes, durch die Ruhe des andern, und durch die kindliche Liebe Beider. Ich kenne die innersten Gesinnungen meiner Brüder; der Eine vergrößert seine Würde, um dir zur Ehre zu gereichen, der Andere hat sich in ein stilles und ruhiges Leben zurückgezogen, um dir seine Zeit zu widmen. (13.) Vortrefflich hat das Schicksal deine Kinder vertheilt, dir sowohl zum Beistande, als zur Freude; du kannst durch die Würde des Einen geschützt werden und dich der Muße des Andern erfreuen. Sie werden in Dienstbeflissenheit gegen dich wetteifern und die Sehnsucht nach Einem wird Ersatz finden in der kindlichen Liebe von Zweien. Ich kann dreist versprechen, es wird dir Nichts abgehen, außer der Zahl. Von ihnen hinweg schaue auch auf deine Enkel, auf Marcus, den reizenden Knaben, bei dessen[84] Anblick keine Traurigkeit dauern kann. Niemand kann etwas so Wichtiges, Niemand etwas so Neues auf dem Herzen haben, das er, wenn er sich ihm anschmiegt, nicht milderte. (14.) Wessen Thränen sollte nicht sein heiteres Wesen stillen? wessen durch Sorgen gepreßte Brust sollten seine launigen Einfälle nicht erleichtern? wen sollte sein Muthwille nicht zu Scherzen ermuntern? wen sollte nicht seine Geschwätzigkeit, deren Niemand überdrüssig werden kann, anziehen und den Gedanken, in die er sich vertieft, entreißen? Ich bitte die Götter, daß uns das Glück werde, diesen am Leben zu erhalten. Bei mir möge die Grausamkeit des Schicksals ermüdet stehen bleiben; was seine Mutter, was sein Großmutter zu leiden gehabt hätte, möge alles auf mich übergegangen sein! (15.) Möge nur meine übrige Familie in einem glücklichen Zustande verbleiben: ich will über meine Kinderlosigkeit, über meine Lage keine Klage führen; möge ich nur das Sühnopfer für mein Haus sein, das nun Nichts weiter zu leiden habe. Halte in deinem Schooße die Novatilla, die dir bald Urenkel schenken wird, und die ich so an mich gezogen, mir so zu eigen gemacht hatte, daß es scheinen konnte, sie sei durch meinen Verlust zur Waise geworden, obgleich ihr Vater noch lebte; diese liebe nun auch mit an meiner Statt. Das Schicksal hat ihr jüngst die Mutter entrissen: deine Liebe kann bewirken, daß sie den Verlust der Mutter nur bedauert, nicht aber fühlt. (16.) Jetzt bilde ihren Charakter, jetzt ihr Aeußeres; tiefer bringen die Lehren ein, die in jugendlichem Alter eingeprägt werden. Sie gewöhne sich an deine Unterhaltung, sie bilde sich nach deinem Willen; du wirst ihr Viel geben, wenn du ihr auch Nichts weitergibst, als dein Beispiel. Diese dir so heilige Pflicht wird[85] dir als Trostmittel dienen, denn Nichts kann ein aus Liebe trauerndes Gemüth von seinem Kummer ablenken, als die Vernunft und edle Beschäftigung. (17.) Auch deinen Vater würde ich unter die wirksamen Trostmittel rechnen, wenn er nicht abwesend wäre; so aber nimm [wenigstens] aus deiner Gemüthsstimmung ab, woran ihm gelegen sein muß; und du wirst einsehen, wie viel pflichtmäßiger es sei, daß du dich ihm erhältst, als daß du dich mir opferst. So oft dich eine unmäßige Gewalt des Schmerzes befällt und mit sich fortreißen will, so denke an deinen Vater; du hast zwar dadurch, daß du ihm so viele Enkel und Urenkel gabst, bewirkt, daß du nicht seine Einzige bist; die Vollendung seines glücklich hingebrachten Lebens aber beruht doch nur auf dir. So lange er lebt, ist es Unrecht, wenn du dich darüber beklagst, daß du noch lebst.

XVII. (1.) Das größte Trostmittel habe ich bis jetzt noch verschwiegen, deine Schwester, jenes dir so treue Herz, in welches du alle deine Sorgen wie in deine zweite Hälfte ausschütten kannst, jenes Herz, das für uns alle mütterlich fühlt. Mit ihren Thränen hast du die deinigen vermischt, an ihrer Brust dich zuerst wieder erholt. Sie folgt zwar stets deinen Gemüthsstimmungen, doch [auch] mit Rücksicht auf meine Person, nicht blos deinetwegen betrübt sie sich. Von ihren Händen bin ich in die Stadt geleitet worden, unter ihrer liebevollen und mütterlichen Pflege bin ich von langwieriger Krankheit genesen, sie hat ihre Beliebtheit benutzt, mir das Quästoramt zu verschaffen, und obgleich sie [sonst] nicht einmal eine gewagte Ansprache oder ehrenvolle Begrüßung ertrug, überwand doch zu meinen Gunsten ihre Liebe diese Schüchternheit. (2.) Nicht die zurückgezogene Lebensweise,[86] nicht ihre bei so großer Frechheit der Frauen bäurisch erscheinende Bescheidenheit, nicht die Ruhe, nicht ihre stillen und der Muße entsprechenden Sitten haben ihr im Wege gestanden, mir zu Liebe sogar ehrgeizig zu werden. Sie, theuerste Mutter, ist der Trost, durch den du dich aufrichten magst; mit ihr verbinde dich so eng als möglich, sie schließe durch die innigste Umarmung an dich. Trauernde pflegen das, was sie am meisten lieben, zu flichen und freien Lauf für ihren Schmerz zu suchen: du wende dich und alle deine Gedanken an sie. Magst du nun die jetzige Kleidung beibehalten oder ablegen wollen, bei ihr wirst du für deinen Schmerz entweder ein Ziel oder eine Theilnehmerin finden. (3.) Doch wenn ich die Klugheit der vortrefflichsten Frau kenne, so wird sie nicht dulden, daß du dich in nutzloser Trauer verzehrst, und wird dir ein Beispiel erzählen, wovon auch ich Augenzeuge war. Sie hatte auf der Seereise selbst ihren theuern Gatten verloren, unsern Oheim, den sie als Jungfrau geheirathet hatte; doch sie ertrug zu gleicher Zeit die Trauer und die Furcht und brachte nach überstandenen Stürmen als Schiffbrüchige seinen Leichnam heim. O wie vieler Frauen herrliche Thaten liegen im Dunkeln! Wäre es ihr beschieden gewesen, im Alterthume zu leben, das so viel einfachen Sinn für Bewunderung der Tugenden hatte, mit welchem Wetteifer würden ausgezeichnete Geister eine Frau gepriesen haben, die ihrer Schwachheit vergessend, vergessend sogar des auch für die stärksten Männer furchtbaren Meeres, ihr Leben Gefahren Preis gegeben hat eines Begräbnisses wegen, und während sie an die Leiche ihres Gatten dachte, Nichts für ihr eigenes Leben fürchtete? (4.) In den Liedern aller [Dichter] wird jene Frau[87] verherrlicht, die sich statt ihres Mannes dem Tode weihete; dieß aber ist mehr, dem Gatten mit Lebensgefahr ein Grab zu suchen; das ist größere Liebe, die durch gleiche Gefahr von der kleineren befreit. Hiernach wird sich Niemand mehr wundern, daß sie sich in den sechzehn Jahren, wo ihr Gatte Aegypten verwaltete, nie öffentlich zeigte, Niemanden aus der Provinz Zutritt in ihr Haus gestattete, Nichts von ihrem Manne begehrte und Nichts von sich begehren ließ. (5.) Daher blickte die geschwätzige und in Schmähungen der Statthalter erfinderische Provinz, in welcher selbst die, welche sich frei von Schuld erhielten, der übeln Nachrede nicht entgingen, zu ihr wie zu einem in seiner Art einzigen Muster strenger Tugend empor, enthielt sich, – was dem sehr schwer fällt, der selbst an gefährlichen Witzen Gefallen findet, – aller Frechheit der Aeußerungen, und wünscht sich noch heute stets eine Solche [wie sie war]; obgleich sie nie eine Solche [wieder zu besitzen] hofft. (6.) Es wäre schon viel gewesen, wenn die Provinz sechszehn Jahre lang mit ihr zufrieden gewesen wäre, mehr aber ist, daß sie Nichts von ihr [zu erzählen] wußte. Dies erwähne ich nicht deswegen, um ihr Lob auszuführen, denn so kurz darüber hinzugehen, hieße es schmälern; sondern damit du erkennst, das sei eine hochherzige Frau, die nicht Ehrgeizig, nicht Habsucht, die Begleiterinnen und Unholde aller Macht, überwältigten, die, als sie nach Entmastung ihres Fahrzeugs den Schiffbruch vor Augen sah, die Furcht nicht abschreckte, an ihrem entseelten Gatten hangend darauf bedacht zu sein, nicht etwa wie sie selbst entkäme, sondern wie sie jenen zu Grabe brächte. (7.) Eine dieser gleiche Seelenstärke mußt auch du beweisen, dein Gemüth von der Trauer ablenken, und darauf hinarbeiten, daß Niemand glauben[88] könne, du bereuest, mich geboren zu haben. Uebrigens, weil doch, wenn du auch Alles thust, deine Gedanken nothwendig zuweilen auf mich zurückkommen müssen, und keins von deinen Kindern dir jetzt häufiger vor der Seele schweben wird, nicht als ob die andern dir weniger lieb wären, sondern weil es natürlich ist, daß man seine Hand öfters auf die Stelle legt, welche schmerzt: so vernimm, wie du dir mich denken sollst, froh und heiter, wie in der glücklichsten Lage; denn sie ist die glücklichste, weil der Geist, von jeder [andern] Beschäftigung frei, Zeit hat für seine Thätigkeit und sich bald an leichteren Studien ergötzt, bald nach Wahrheit dürstend sich zur Betrachtung seiner eigenen Natur und des Weltalls erhebt. (8.) Zuerst erforscht er die Länder und ihre Lage; dann die Beschaffenheit des sie umströmenden Meers und seine wechselnde Ebbe und Flut; darauf betrachtet er alles Furchtbare, was zwischen Himmel und Erde liegt, und diesen durch Donner, Blitze, Windeswehen und Herabstürzen von Regen, Schnee und Hagel in Aufruhr versetzten Raum; dann schwingt er sich nach Durchwanderung der niedern Regionen zu den höchsten auf und genießt den über Alles schönen Anblick der Himmelskörper und, seiner Unsterblichkeit eingedenk, gehet er in Alles ein, was alle Jahrhunderte hindurch war und sein wird.[89]

Quelle:
Seneca: Ausgewählte Schriften. Stuttgart 1867, S. 53-90.
Entstanden 41 n. Chr. Erstdruck in: Opera, herausgegeben von M. Moravus, 1. Band, Neapel 1475. Erste deutsche Übersetzung durch M. Herr unter dem Titel »Ein Trostbuch zu seiner Mutter Albina« in: Sittliche Zuchtbücher, Straßburg 1536. Der Text folgt der Übersetzung durch Albert Forbiger von 1867.
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