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[158] Wenn heute jemand versucht, vor Deutschen über Fragen der Weltpolitik zu sprechen, muß er auf den Einwand gefaßt sein, daß für uns die Zeit, große Politik zu treiben, endgültig vorüber ist, nachdem Bismarck sie kaum heraufgeführt hatte. Wir besitzen kein Heer und keine Flotte mehr; wir stehen diplomatisch unter der Kontrolle feindlicher Mächte, und wir sind wirtschaftlich in einem Grade erschüttert, der nicht nur von der großen Masse des deutschen Volkes, sondern selbst von den Wirtschaftsführern noch nicht entfernt begriffen wird. Ist es da so wichtig, über diese Dinge überhaupt nachzudenken? Wir sind ein Staat, der seit dem Umsturz von 1918 aufgehört hat, in den Kombinationen der Weltpolitik mitzuzählen außer als Objekt für den Willen und die Interessen anderer Mächte. Eigne Entscheidungen werden jedem Mittel- und Kleinstaat zugestanden, uns allein nicht. Und es gibt in Deutschland viele Menschen, ganze Parteien, die das als Erlösung, als Fortschritt rühmen; und die Leute, die sich für Politiker halten, weil sie Ministergehälter und Abgeordnetendiäten verzehren, oder schließlich nur weil sie Wähler sind, halten die Erörterung von innerpolitischem Kleinkram für wichtiger. Aber trotzdem: es gibt für uns nichts Wichtigeres, gerade deshalb.
Wir sehen, wie rings umher in der ganzen Welt, die zum ersten Male als Ganzes politisch aktiv wird, nicht als Hintergrund europäischer Verwicklungen eine passive Rolle spielt, die Dinge in völlig neuer Ordnung und mit wachsender Unruhe auf unbekannte Ziele und in überraschend neuen Formen unbekannten Entladungen zutreiben. Der Weltkrieg ist weit davon entfernt gewesen, eine Lösung der großen Probleme des vorigen Jahrhunderts zu bringen. Er leitet im Gegenteil eine Epoche ungeheurer Entscheidungen ein, von deren Größe und Furchtbarkeit sich heute niemand ein Bild zu machen wagt, selbst wenn er die Zukunft ahnen sollte. Fassen wir diese Lage und die Ereignisse der letzten Jahre ins Auge, so sehen wir, wie überall dunkle, unabsehbare[159] Möglichkeiten auftauchen, die für uns Deutsche eines Tages von entscheidender Bedeutung werden können. Und wenn wir uns auch verbieten und verbieten wollen und müssen, öffentlich bestimmte Hoffnungen auszusprechen, so ist doch die Notwendigkeit vorhanden, weit mehr als früher gerade jetzt den Blick aus dem erbärmlichen Schmutz und Zank, der im Innern Deutschlands unter dem Namen Politik getrieben wird, auf die Oberfläche des Erdballs als Ganzes zu richten, um zu sehen, was sich dort vorbereitet und in welcher Richtung die Dinge sich entwickeln, die eines Tages für uns Hoffnungen werden können und noch mehr.
Da taucht zunächst als die Erscheinung, welche die Politik Westeuropas in diesen Tagen unbedingt beherrscht, die Vormachtstellung Frankreichs auf. Das ist eine Tatsache, die noch im Jahre 1917 außerhalb aller Wahrscheinlichkeit lag. Frankreich war während des Krieges der Staat, der am meisten von dem guten Willen seiner Verbündeten abhängig war, der unbedingt verloren gewesen wäre, wenn ihn nicht die Bajonette und die unerschöpflichen Milliarden der angelsächsischen Welt immer und immer wieder aus der letzten Gefahr gerettet hätten. Das französische Volk war schon vor dem Kriege infolge des Mangels an Geburten längst dasjenige, das seiner Zahl nach unter den Großmächten den vorletzten Platz einnahm und in sehr kurzer Zeit – wie es heute der Fall ist – bei weitem den letzten einnehmen mußte. Greisenhaft, müde, nur von dem Wunsche beseelt, seine Rente in Sicherheit zu verzehren und dabei ein wenig Liebe und Literatur zu treiben, war es dazu bestimmt, wie Spanien mit dem Ende des 18. Jahrhunderts, so mit dem Ende des 19. aus der Reihe der lebendigen großen Mächte auszuscheiden. Kluge Franzosen, schon Renan, Flaubert und Zola, haben das längst geahnt und ausgesprochen. Das französische Volk hat seit Waterloo nicht einen neuen politischen Gedanken hervorgebracht. Während alle andern Großmächte und selbst kleinere Völker mit neuen Ideen und Methoden in das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts eintraten – man denke allein an den neuen Stil, den neuen Sinn der Kolonialpolitik,[160] welche den Weltverkehr und damit den Seekrieg auf eine neue Basis stellten und die Küstengliederung ganzer Erdteile strategisch ausnützten – hat das französische Volk tatsächlich von einem einzigen, rein negativen Gefühl gezehrt: der Revanche. Aber das ist ein Gedanke, der durchaus rückschauend, senil und unfruchtbar ist, der zeigt, daß dieses Volk geistig angefangen hat in seiner eigenen Erinnerung zu leben, nicht für irgendeine Zukunft, sondern für das, was einmal dagewesen war. Schon die Zeit Napoleons III. war nichts als eine schlechte Wiederholung größerer Tage. Nun tritt ganz plötzlich das Ereignis vom Ende des Jahres 1918 ein und gibt diesem Volk einen Anstoß, der überraschend kommt und gerade in der altgewordenen französischen Seele überraschende Wirkungen hervorrufen mußte. Binnen einem Jahre hatte Frankreich vergessen, wer in Wirklichkeit der Sieger gewesen ist.1 Die Meinung hatte sich unbedingt festgesetzt, daß Frankreich allein den Krieg gewonnen habe, und daß dieser Sieg ihm einen Anspruch darauf gebe, auch die Erfolge des Krieges ganz allein und ohne Rücksicht auf seine Verbündeten für sich in Anspruch zu nehmen. Von da an erlebt man es, daß die französische Politik mit größtem Erfolg und mit wachsender Zielsicherheit darauf aus geht, das eben gerettete Land zum unbedingten Mittelpunkt der Weltinteressen zu machen. Auch diese Ziele, die seitdem immer klarer hervortreten, sind ohne Ausnahme alt, zum Teil fremd. Für große politische Ideen kam das französische Denken nie in Betracht, weder unter Ludwig XIV., wo es sich nicht darum kümmerte, noch unter dem Italiener Napoleon, wo nur seine Eitelkeit befriedigt war. Die sogenannten Ideen der Revolution sind ohne Ausnahme englischer Herkunft. Man kann sich in die Lage versetzen, daß England im Herbst 1918 das Gefühl des alleinigen Erfolges für sich in Anspruch genommen hätte. Dann würden ganz ohne Zweifel die englischen Ziele völlig neu, auf eine großartige Organisation der Erdoberfläche gerichtet gewesen sein. Sie würden auch den Gegner seelisch für sich[161] gewonnen haben. Die Franzosen können und wollen das gar nicht.
Seitdem Napoleon die französische Seele neu geschaffen oder vielmehr sie aus den Fesseln der vornehmen Formen und Konventionen des feudalen Frankreich erlöst hatte, dadurch daß er seine Heere über den größten Teil von Europa führte und den ganzen Ehrgeiz der Rasse auf die militärische Seite verlegte, sind diese Ziele vorhanden und sind in ihrer Richtung immer dieselben geblieben. Es gibt für den echten Franzosen von gestern und heute nur eine Art von Ruhm, den militärischen, genauer gesagt die Eitelkeit eines Haudegens, eines Cyrano, hinter dem ein Tartarin steckt, und es gibt nur eine Form, in der dieser Ruhm gesättigt werden kann: das ist der am Besiegten geübte Sadismus. Wenn man das Beispiel Englands dagegen hält, wie es beispielsweise den Krieg in Südafrika, nachdem es ihn grausam geführt und nur nach langem Schwanken gewonnen hatte, ausgenützt hat, indem es den großartig angelegten Versuch unternahm, die Buren zu versöhnen und mit dem Herzen zu Engländern zu machen – ob das gelungen ist, ist eine andre Frage – kann man nur sagen, daß Frankreich diesen Versuch verachtet haben würde. Wenn man den Besiegten nicht als Besiegten behandeln kann, brutal, zynisch, dauernd, ihn höhnisch an seine Niederlage erinnernd, sein Land verwüstend, ohne eignen Vorteil ruinierend, ihn selbst entehrend und straflos beleidigend, ist der Sieg als solcher nichts wert: das ist das französische Grundgefühl, das letzten Endes auch den Zusammenbruch der Weltmacht Napoleons herbeigeführt hat, weil dieser es nicht mehr befriedigen konnte. Denn man muß sich auch darüber klar sein: zunächst hatten die englischen Gedanken der Revolution, mit denen die französischen Heere in die fremden Länder eindrangen, etwas Bezauberndes für die Völker dieser Länder, und erst als 15 Jahre vergangen waren und der Sieger immer noch nichts anderes gelernt hatte als das Siegergefühl auszukosten, von Spanien bis nach Rußland hinüber, da bäumte sich die Wut der Mißhandelten auf und ließ das System zusammenbrechen. Die Jakobiner hatten den gemeinen Grundinstinkt[162] des französischen Volkes entfesselt, welchen die feudalen Mächte des ancien régime, welchen noch Mirabeau und manche seiner Gefährten im Zaum hielten, zu veredeln oder wenigstens unschädlich zu machen suchten, zunächst gegen die eigene gute Gesellschaft, Adlige und Priester, Schlösser und Kirchen, dann gegen die fremden Nationen. Der Korse Napoleon, der Ideen hatte, ist mit dieser Nation nie fähig gewesen, Europa zu organisieren, wie es ihm deutsche Demokraten zuschreiben. Sein Heer, aus den Jakobinerheeren entstanden, repräsentiert den echten französischen Typus. Es wollte kämpfen, brennen, plündern, schänden, quälen, nichts andres. Es war tapfer und todesmutig, aber nur unter dieser Bedingung. Napoleon wußte, daß er es nur in der Hand hatte, solange er seinen Soldaten ganze Länder opfern konnte. Daher war er mit dem Rückzug von Moskau verloren. Das Gefühl hat sich seitdem nicht geändert. Wo die Franzosen in fremden Erdteilen als Koloniegründer aufgetreten sind, haben sie mehr Blut vergossen als irgendeine andre Nation und kolonisatorisch weniger erreicht als irgendeine andere. Wo sie irgendwo auf dem Festland längere Zeit einen Erfolg in der Hand behielten, haben sie Spuren hinterlassen, von denen keine einzige aufbauender Natur gewesen ist.
Nun kommt dazu, daß nicht nur die Art, wie der Sieg ausgekostet wird, sondern auch die Ziele des Siegers vom ersten bis zum letzten Punkt hundert Jahre alt sind. Im 18. Jahrhundert gab es noch eine schwache, aristokratische, weder am Hof noch im Volk beliebte Richtung innerhalb der französischen Politik, welche die Herrschaft zur See England streitig zu machen anstrebte. Solange der Admiral Suffren und der Außenminister Vergennes lebten, solange Frankreich das Mississippigebiet besaß und in Indien England Voraus war – beides ging 1763 verloren; mit dem Frieden von Fontainebleau beginnt der Abstieg Frankreichs –, war die Möglichkeit vorhanden, daß auf den Trümmern der spanischen Weltmacht nicht nur eine englische, sondern daneben eine französische entstand. England war nach dem Verlust der nordamerikanischen Kolonien noch 1789 weit davon entfernt, seine außereuropäische,[163] meerbeherrschende Stellung fest in der Hand zu haben. Es gehört zu den Zügen der französischen Revolution, die bis jetzt viel zu wenig beachtet worden sind, daß sie rein binnenländisch dachte, Girondisten wie Jakobiner, und nicht das leiseste Verständnis für Fragen der Seegeltung besaß. Gleich am Anfang steht die Auslieferung der Flotte von Toulon durch die aufständischen Royalisten an England. Der ganze gewaltige Ehrgeiz, der in den französischen Heeren steckte, hat sich auf keine französische Flotte übertragen. Die französische Revolution war durch und durch kontinental, und ihre militärischen Pläne sind ausschließlich auf die Nachbarländer Frankreichs, nicht auf überseeische Gebiete gerichtet. Der Rausch der Ferne fehlt dem Franzosen. Auch Napoleon konnte keine Begeisterung für die Flotte wecken, wie auch die Franzosen das einzige große Volk Westeuropas sind, das niemals an Seefahrt, Entdeckungen und Seehandel großen Stils, gedacht hat. Seine Kolonien hatten stets entweder militärische Bedeutung oder gar keine. Dieser Zug ist seitdem unverändert geblieben und hat dahin geführt, daß England mit einem gewissen Recht Frankreich für den weniger gefährlichen Nachbarn auf dem Kontinent halten durfte, weil es sah, daß dieses ihm zur See niemals ernsthaft entgegentreten würde. Bei dieser Beschränkung auf festländische Interessen ist die Frage, wie sich die militärische Expansion vollziehen sollte, verhältnismäßig einfach: Zunächst um 1800 genau wie heute und wie schon unter Ludwig XIV. der Gedanke, vor die Ostgrenze Frankreichs das Glacis eines Festungsgürtels zu legen, in dem sich keine irgendwie in Betracht kommende Macht halten konnte, das heißt, Deutschland sachlich, militärisch, politisch und wenn möglich auch wirtschaftlich in ein Trümmerfeld zu verwandeln. Darüber hinaus gibt es gewisse Machtlinien, die über weite festländische Strecken laufen und von denen die französische Politik versucht hat, jede einzelne strategisch sicher auszubauen und fest in der Hand zu behalten.
Die erste dieser Linien richtete sich auf die deutsche Nordseeküste. Als Napoleon nach der Schlacht von Jena das Großherzogtum[164] Berg begründete, hat er seinem Schwager Murat ausdrücklich den Wink gegeben, bei der Verwaltung dieses Landes die Tatsache im Auge zu behalten, daß es sich nur um eine Etappe auf einem größeren Wege handle. Das Großherzogtum lag genau dort, wo heute das rheinisch-westfälische Industriegebiet liegt. Im Jahre darauf hat Napoleon aus weiteren Trümmern deutscher Staaten das Königreich Westfalen; geschaffen, das er seinem Bruder Jérôme übergab mit dem Auftrag, es als integrierenden Bestandteil des französischen Reiches zu behandeln. Die Finanzverwaltung des Königreichs lag tatsächlich in Paris in einer Abteilung des Finanzministeriums und die westfälischen Truppen waren von Anfang an Bestandteile eines französischen Armeekorps. Über das Königreich Westfalen hinaus wurde 1810 die deutsche Nordseeküste, Hamburg, Bremen, sogar Lübeck, Frankreich einverleibt – der Gedanke eines Nordostseekanals wurde in, Erwägung gezogen – und damit war das Ziel erreicht, die Nordsee von der Küste und deren Hinterland aus zu beherrschen.
In der Zeit des passiven Widerstandes im vorigen Sommer ist in den Zeitschriften französischer Marinekreise wiederholt gefordert worden, durch die Besetzung von Bremen und Hamburg die Nordseeküste in die Hand zu nehmen. Man muß sich darüber klar sein, was bei den militärischen Machtmitteln unserer Tage eine solche Okkupation zu bedeuten hat. Zunächst ist Deutschland im gegenwärtigen Zustand seiner völligen Entwaffnung selbstverständlich ganz unfähig, auch nur den geringsten Widerstand gegen die Durchführung eines solchen Planes aufzubringen, wenn er einmal ernsthaft gefaßt werden sollte. Für die Stoßkolonnen einer modernen Armee ist der Weg vom Ruhrgebiet zur Nordsee in ein bis zwei Tagen zurückzulegen. Sind aber diese Küsten, die von der See aus überhaupt nicht angegriffen werden können, in Besitz eines Gegners, der dort seine Unterseeboote und Luftgeschwader aufstellt, ohne daß der Ruin des Hinterlandes für ihn eine Rolle spielt, so ist damit eine Sperrung der südlichen Nordsee mit den modernsten Mitteln erreicht, denen gegenüber[165] es von England her überhaupt keine Gegenwirkung mehr gibt.
Die zweite dieser Machtlinien ist ebenfalls zuerst von Napoleon, wenn auch ohne Erfolg, in Angriff genommen worden, nachdem Ludwig XIV. Anregungen in dieser Hinsicht in ihrer Tragweite überhaupt nicht begriffen hatte. Sie richtet sich auf die nordafrikanische Küste und führt über Ägypten nach Syrien, also im günstigen Falle zur Herrschaft über die Türkei. Zur Zeit Napoleons war die Expedition nach dem Nil aber nur durch das Wagnis möglich, die englische Flotte zu umgehen, und tatsächlich war der Versuch, von Ägypten aus weiter vorzudringen, in dem Augenblick gescheitert, wo die französische Flotte bei Abukir vernichtet wurde. Heute liegen die Verhältnisse anders. Frankreich besitzt einen ungeheuren geschlossenen Block in Nordwestafrika, der auf dem kürzesten Seewege über Korsika zu erreichen ist. Auch hier überwiegen die militärischen Interessen bei weitem die wirtschaftlichen. Frankreich hat in weiten Gebieten dadurch, daß es die Farbigen mit dem französischen Bürgerrecht versah, auch die allgemeine Wehrpflicht eingeführt, und es ist heute im Begriff, eine Bevölkerung von 50 bis 60 Millionen Negern durch diese Wehrpflicht militärisch genau so auszunützen, wie es mit den 39 Millionen weißer Franzosen selbst geschieht. Es ist gelegentlich von einem französischen General ganz offen gesagt worden, daß die französische Nation militärisch 100 Millionen Köpfe zähle, diesseits und jenseits des Mittelmeeres. Seit dem Kriege ist eine ungeheure und immer noch wachsende Masse von Farbigen im Heerdienst ausgebildet worden, und diese hat damit als Ganzes gelernt, in europäischer Taktik zu denken und sich darüber klar zu werden, wo die Grenze der Wirkung weißer Truppen liegt, wenn sie es mit schwarzen in der Überzahl und in gleicher Ausbildung zu tun hat. Es kommt hinzu, daß der Nationalismus unter den Farbigen Afrikas nicht nur durch diese französische Militärpolitik – ohne Rücksicht auf deren Folgen – heraufbeschworen wird, sondern noch von zwei anderen Seiten her mit Bewußtsein unterstützt wird, allerdings mit sehr verschiedenem Ziel. Von[166] den Negern der Vereinigten Staaten her wird vor allem über Liberia eine ganz außerordentliche Propaganda mit dem Schlagwort: »Afrika den Afrikanern« getrieben, eine Propaganda, die man bis zum Nil und in die Bergwerksgebiete Südafrikas hinein spürt. Auf der anderen Seite treibt der Islam eine ebenso wirksame Propaganda dadurch, daß er zugleich mit der Bekehrung großer Massen von Negern weit über den Äquator hinaus auch das Bewußtsein verbreitet, welches der moderne, aktiv politisch gewordene Islam seinen Bekennern gibt, die Zusammengehörigkeit im Kampf gegenüber den weißen Völkern. Dazu kommt die bolschewistische Agitation hauptsächlich von Indien her über Ostafrika und ihre Vorbereitung durch die christliche Mission, vor allem die englische puritanische, die den Negern die Gleichheit aller Menschen vor Gott predigt.
Jedenfalls ist damit etwas erreicht worden, worauf Napoleon noch nicht rechnen konnte und woran er niemals gedacht hat, daß nämlich Afrika als Ganzes aufgehört hat, bloßes Objekt der Politik zu sein, und mehr und mehr sich auch als mögliches Subjekt der Politik zu empfinden beginnt. Wenn das Netz von strategischen Bahnen und Autolinien, das von französischer Seite geplant ist, sich weiter ausbreitet und von Westafrika her über den Tschadsee in die Gebiete des Nil und Kongo eindringt, also auch in einer Richtung, die in Faschoda einmal beinahe zum Krieg zwischen Frankreich und England geführt hatte (1898), dann ist gar nicht abzusehen, welche Richtung die eigene Stoßkraft dieser ungeheuren Masse erwachter Farbiger nehmen wird. Und wenn sie sich bei irgendwelchen künftigen Auseinandersetzungen zwischen weißen Mächten auf die eine oder andre Seite schlagen, eine Möglichkeit, die man ihnen zum erstenmal im Weltkrieg als Tatsache vorgeführt hat, dann kann unter Umständen die Entscheidung allein von der Stellungnahme dieses strategisch unendlich wichtigen Raumes und seiner Bevölkerung abhängen, die im Begriff ist sich als Nation zu fühlen. Es ist eines der großen Beispiele dieser Tage dafür, daß eine europäische Macht eine Waffe schmiedet, die ihr in Zukunft[167] aus der Hand gleiten und von anderen aufgehoben werden kann.
Nun kommt neben diesen nördlichen und südlichen Linien eine mittlere in Betracht, die ebenfalls von Napoleon zuerst gesehen und ausgebaut worden ist: der Landweg, welcher die Donau hinab nach Konstantinopel und Vorderasien führt. Das ist das Ziel und der Grund, weshalb heute wie vor hundert Jahren ein Lieblingsgedanke der französischen Politik in der Zertrümmerung Süddeutschlands besteht, dessen drei Staaten bekanntlich militärische Schöpfungen Napoleons sind, der hier einen Brückenkopf gegen Österreich brauchte, und in der Errichtung einer Reihe von irgendwie abhängigen Staaten bis zur Donaumündung. Schon 1683 wurde die Belagerung von Wien durch die Türken infolge französischer Aufmunterung unternommen. Napoleon besetzte 1809 die illyrischen Provinzen, das heutige Jugoslawien, und spielte mit dem Gedanken, in Böhmen und Ungarn Aufstände zu entfesseln, welche zur Entstehung von Frankreich abhängiger Staaten führen sollten. Das Großherzogtum Warschau stand ebenso wie das heutige Polen in einem Vasallenverhältnis zu Paris. Der Hauptgrund, weshalb Alexander I. das Bündnis mit Napoleon löste, das 1807–1812 die große Politik beherrscht hatte, war die Bedrohung der unteren Donau. 1812 hat Rußland Bessarabien besetzt.
Frankreich versucht es heute, diesen Weg längs der Donau zu beherrschen, indem es die neugeschaffenen oder vergrößerten Staaten durch Militärkredite von sich abhängig macht, sie veranlaßt, übermäßig starke Heere unter französischer Schulung und Führung zu halten, und gleichzeitig die Wirtschaft mit französischem Kapital durchdringt. So ist auf diese Weise eine gewaltige Operationsbasis geschaffen worden, welche die mittlere und untere Donau, das Schwarze, Adriatische und Ägäische Meer unbedingt beherrscht, und wer heute einen Blick auf die Karte wirft, wird entdecken, daß die Linien nicht nur von Jugoslawien nach Rumänien, sondern auch von Rumänien nach Polen alte napoleonische Gedanken verwirklichen.[168]
Als Napoleon 1811 den Aufmarsch nach Rußland vorbereitete, war durch das Bündnis mit der Türkei die gleiche Basis geschaffen: eine Front, die von der Ostsee bis zum Schwarzen Meere führte und deren Zweck es war, einen französischen Druck auf Osteuropa auszuüben.
Dadurch, daß Frankreich in Nordafrika und gleichzeitig längs der Donau bis zum Schwarzen Meere die Vorherrschaft besitzt, daß es durch die Häfen der Provence und Algiers, Jugoslawiens und Rumäniens und endlich Syriens, wo Napoleon einst vor Akko gescheitert war, auch fremde Flotten zu kontrollieren vermag, ist das Mittelländische Meer von beiden Seiten umklammert. Damit sind alle wichtigen Zugänge nach Vorderasien unter französische Aufsicht gestellt, und es ist heute ganz gleichgültig, welche zweite Macht den Zugang unmittelbar besitzt. Tatsächlich beherrscht ihn Frankreich dadurch, daß es das Hinterland von Tanger besitzt und also jederzeit in der Lage ist, von Süden her die Straße von Gibraltar zu sperren. Das ist ein System, das es nach allen Seiten hin vermeidet, die Frage der Seebeherrschung von der See her zu stellen, und das überall die großen kontinentalen Machtlinien im Auge behält, um etwaige Flottenstützpunkte und Flottenbewegungen vom Lande aus wertlos zu machen.
Es kommt noch hinzu, daß zur Sicherung dieser Linien auch die Beherrschung der Rohstoff gebiete gehört, welche das Material für die kontinentale Streitmacht, Kohle, Eisen und Öl liefern, und tatsächlich steht es heute so, daß Frankreich mittelbar oder unmittelbar zwei Drittel der festländischen Kohlevorkommen kontrolliert, mögen sie in Oberschlesien, an der Ruhr oder Saar liegen. Sie liegen alle so, daß Frankreich militärisch in der Lage ist, die Produktion zu eigenen Zwecken zu verwenden. Das ist das System einer unfruchtbaren, ideenlosen Gewalt, das im Laufe von weniger als vier Jahren nach napoleonischem Vorbild wiederhergestellt wurde und mit großer politischer Geschicklichkeit aufrechterhalten wird.
Von hier aus gewinnt nun ein zweites Problem ein verändertes Aussehen: die Frage der Reparationen. Frankreich hat mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der es die militärischen[169] Erfolge des Krieges sich allein zuschrieb, auch die finanziellen Erfolge des »Friedens« für sich in Anspruch genommen und die Reparationsfrage tatsächlich zu einer französischen gemacht. Und da das eben beschriebene System, dem französischen Charakter entsprechend, militärisch auf einer sehr starken, finanziell auf einer sehr schwachen Basis ruht, so ist die Reparationsfrage letzten Endes der Faktor, mit dem es sich halten läßt oder preisgegeben werden muß. Tatsächlich kann man die deutschen Zahlungen bis zum heutigen Tage so definieren, daß Deutschland mit deutschem Gelde ein französisches Heer auf deutschem Boden unterhält, und daß jede weitere Milliarde die Schaffung neuer französischer Regimenter, Luftgeschwader und Unterseeboote bedeutet, daß also jeder Versuch der Verbündeten Frankreichs, die Zahlungen zu erhöhen, eine Stärkung der französischen Machtmittel darstellt, denn diese Rüstungszuschüsse sind es allein, welche über die Grenzen Frankreichs hinaus dieses gewaltige System von Machtlinien zu erhalten vermögen.
Darin kann möglicherweise eine überraschende Wendung eintreten, wenn ein Kampf wieder beginnt, der uns seit dem Kriege aus dem Blick entschwunden ist, der vor dem Kriege aber schon in voller Unerbittlichkeit entbrannt war: der schweigende, zähe Kampf ohne Gnade zwischen der politischen Führung der Staaten und der internationalen Hochfinanz, die sie unterwerfen will. Es ist der Versuch, der auch in der römischen Welt vom zweiten punischen Kriege an bis in die Tage Cäsars den Kennern der Verhältnisse sehr fühlbar war und ist, die großen politischen Entscheidungen scheinbar zugunsten einzelner Völker stattfinden zu lassen, tatsächlich aber im Interesse einer nicht an Länder und Völker gebundenen Geldmacht, die, je nachdem sie den Staaten Kredit gewährt oder nicht, die Verschuldung der Staaten anerkennt und steigert oder nicht, die Macht der Staaten an der Börse unterwühlt oder hebt, die große Politik allmählich zu einem Gegenstand bankmäßiger Überlegungen und börsenmäßiger Spekulationen macht, die Kreditgewährung in eine Art von finanziellem Protektorat verwandelt und damit die Politik selbst in ein Geschäftsunternehmen.[170] Von Amerika ausgehend wird dieser Kampf in den nächsten Jahren mehr und mehr wieder in den Vordergrund treten.
Ich brauche auf diese Dinge nicht weiter einzugehen, aber es ist sehr wichtig gerade für die allernächste Zeit, wenn die Politiker sich darüber klar werden, daß die Vereinigten Staaten niemals wirkliche Politik getrieben haben, sowenig sie ein eigentlicher Staat sind, sondern daß ihre Politik seit 1865 ohne Ausnahme von finanziellen Mächten im Hintergrunde gesteuert worden ist, vor dem Kriege, während des Krieges und vor allem jetzt, wo es sich darum handelt, das Ergebnis des Krieges in eine finanzielle Form zu bringen. Nicht die Industrie beherrscht die Politik, die Hochfinanz beherrscht sie beide. Es besteht die Tatsache, daß eine Verlagerung des Reparationsproblems aus einem Kampf zwischen politischen Mächten in einen Kampf zwischen politischen und finanziellen Mächten mit unabsehbaren Folgen für die Wirtschaft plötzlich möglich und selbst wahrscheinlich geworden ist. Hier vertritt zunächst wenigstens Paris die Politik, New York die Finanz.
Dieser Welt veränderter Formen gegenüber tritt nun überraschend hervor, daß die englische Staatsleitung seit dem Krieg eine ganz ungewöhnlich unsichere Haltung einnimmt. Einer der Gründe liegt klar zutage. England ist in der Zeit, die über sein Schicksal entscheidet, vielleicht schon entschieden hat, von Gewerkschaftsführern regiert worden, zuerst von dem ursprünglich ganz linksradikalen Lloyd George und heute von Ramsay Macdonald. Es zeigt sich auch hier, daß die politische Schule, welche der Innenpolitiker in Volksversammlungen durchmacht, nicht die ist, welche der Auslandsdiplomat braucht. Ein begabter Massenagitator ist so gut wie nie im Stande staatsmännisch zu denken. Die augenblickliche Überlegenheit der französischen Diplomatie, die heute jeder Tag beweist, beruht darauf, daß alle nennenswerten politischen Führer Frankreichs in der Zeit der Entente cordiale die Schule von Petersburg aus der Nähe kennengelernt und mit großem Erfolg durchgemacht haben. Wenn es heute noch irgendwo[171] auf der Welt Reste einer Diplomatie großen, alten, das heißt russischen Stils gibt, dann ist es in Paris, und diese Diplomaten sind es, die den englischen Gewerkschaftsführern – um von Deutschland zu schweigen –, welche infolge des Sieges einer Partei plötzlich in die Außenpolitik gedrängt wurden, weitaus überlegen sind, und das gerade in dem Augenblick, wo infolge der Verwandlung aller politischen Formen in der Welt England eine Neubildung seiner Methoden dringend nötig hätte. Es fragt sich, ob England den Zeitverlust dieser Jahre jemals einholen kann, denn die geschichtliche Verwandlung schreitet im Tempo einer Katastrophe fort.
Blickt man zurück auf die Zeit vor dem Kriege, so bestand von Waterloo bis 1914 ein im wesentlichen gleichförmiges und im Gleichgewicht ruhendes System der Machtverteilung, innerhalb dessen die politischen Entscheidungen fielen. Die Staatengruppe des 18. Jahrhunderts, die von einer Anzahl von Kabinetten im Dienst fürstlicher Häuser geleitet wurde, ist durch Napoleon erschüttert und in ihrer Form überwunden worden. Was auf dem Wiener Kongreß entstand, ist das »Konzert der Großmächte«, von Metternich begründet und erhalten. Unter einer Großmacht verstand man im 19. Jahrhundert einen Staat, der von einer gewissen Anzahl anderer als gleichgeordnet anerkannt wurde. Diese Mächte verhandelten nur untereinander auf gleichem Fuße. Sie traten miteinander in freundschaftliche oder feindliche Beziehungen. Es entstehen Spannungen, es entstehen Kriege zwischen ihnen, es wird aber unter allen Umständen darauf gehalten, daß das System als solches nicht erschüttert wird, das heißt, daß selbst im Falle eines großen Sieges der Sieger nicht über seinesgleichen hinauswächst. Ich nehme das Beispiel des deutsch-französischen Krieges. Die übrigen Großmächte, England und Rußland voran, würden sofort energisch eingeschritten sein, wenn der ernsthafte Versuch gemacht worden wäre, eine von ihnen als Großmacht zu beseitigen und damit eine andere über die gleichmäßige Höhenlage hinauszuheben. Das war es, was den Krimkrieg, den deutsch-österreichischen und den russisch-türkischen Krieg von vornherein in gewissen Schranken hinsichtlich[172] der Folgen des Sieges hielt. Dieses System des Gleichgewichts ist so stark gewesen, daß neuauftauchende Staaten wie Deutschland und Italien eingetreten sind, ohne die bestehende Form zu verändern. Nach dem spanischen Kriege hat Amerika, nach dem chinesischen hat Japan seinen Eintritt vollzogen. Die beiden Mächte sind anerkannt worden und sie haben von da an die Bedingung des Gleichgewichts weiterhin unterstützt.
Dieses Gleichgewicht wurde gehalten durch die immer wachsende Masse der stehenden Heere, richtiger gesagt, es war eine der Ursachen dieser Heeresvermehrung. Die Eifersucht, die sich entladen konnte, verschob die Entladung immer wieder auf eine künftige Gelegenheit. Das Zeitalter der stehenden Heere – damit komme ich auf das Allerwichtigste – brachte mit innerer Notwendigkeit den Versuch mit sich, auch zur See eine Art von Gleichgewicht zu schaffen, den England unter allen Umständen verhindern mußte. Einer der Staaten nach dem anderen, auch Deutschland, wurde vor die sehr ernste Frage gestellt, welche Haltung er in Fragen der Seerüstung einnehmen sollte. Das Gleichgewicht erschien unhaltbar, wenn es ausschließlich durch eine Armee dargestellt wurde, der zur See keine Flotte entsprach. Nicht nur gewisse Operationen auf dem festen Lande wurden dadurch unter Umständen unmöglich, sondern auch die wirtschaftlich-finanziellen Voraussetzungen dafür, mit solchen Heeren überhaupt Krieg zu führen, konnten möglicherweise aufgehoben werden. Wenn Österreich um die Jahrhundertwende nicht ganz für voll genommen wurde, so beruht das zum Teil auch darauf, daß die österreichische Flotte nicht einmal für den Küstenschutz stark genug war.
Die Frage der Seebeherrschung ist die geheime und drückende Frage des ganzen 19. Jahrhunderts gewesen. Das ist um so merkwürdiger, als durch die ungeheuren Zahlen der stehenden Heere die Entscheidung offenbar auf dem Lande gesucht wurde. Aber gerade weil die Entscheidung dem leitenden Staatsmann hier eine so außerordentliche Verantwortung auflud, weil ihre Entwicklung völlig dunkel war und niemand[173] mehr die Folgen einer Kriegserklärung übersehen konnte, begann seit 1870 die Neigung, dieser Tatsache dadurch auszuweichen, daß man die Entscheidung zur See in irgendeiner Form gewissermaßen vorwegnahm. Zunächst geschah es in der Weise, daß die schlagfertigen Flotten – ebenfalls eine Erscheinung, die diesem Jahrhundert eigentümlich ist – einander durch die Zahl der Einheiten zu überflügeln versuchten. Wir waren bei Ausbruch des Weltkrieges dahin gelangt, daß alle großen Staaten der Welt nicht nur durch fortgesetzte Vermehrung der Landformationen, sondern auch durch fortgesetzte Verstärkung der Schlachtgeschwader sich gegenseitig im Tempo der Rüstung zu überwinden suchten, die Entscheidung also nicht in den Kampf, sondern in die Vorbereitung desselben, in technische Erfindung und finanzielle Leistungsfähigkeit verlegten. Ich bin überzeugt, daß es im Grunde keiner Macht mit dem Gedanken an eine Seeschlacht so ernst gewesen ist, wie es beim Landheer mit den Operationsplänen der Generalstäbe selbstverständlich war. Denn kaum hatten die modernen Flotten die Ausrüstung erhalten, welche sie heute in den Grundzügen noch besitzen, als eine ganz andere Art von Wettbewerb auf dem Meere einsetzte. Die Wendung liegt in der Zeit des nordamerikanischen Bürgerkrieges. Damals sind im Kampf zwischen Nord- und Südstaaten binnen drei Jahren die Segelschiffe durch Dampfschiffe, die hölzernen Schiffe durch Panzer ersetzt worden, die leichte durch schwere und schwerste Artillerie, und zuletzt trat das Torpedoboot als neue Waffe hinzu. Gegen Ende des Krieges (1865) war die Schlachtflotte im wesentlichen so, wie sie 1914 noch war: mit schwersten Geschützen besetzte Panzerschiffe einheitlichen Typs. Aber inzwischen hatte der Wettlauf begonnen, von dem eben die Rede war, um die außerordentlich gefährliche und fragwürdige, nie recht erprobte Waffe nicht aufs Spiel zu setzen,2 sondern sie in einer Weise auszunützen, daß auch ohne Schlacht die Entscheidung sicher war. Es beginnt ein Wettrennen in allen Erdteilen um die Besetzung und Befestigung von Küstenstrecken,[174] die sichere Stützpunkte für eine derartige Flotte bilden konnten, um Punkte also wie Malta, Aden, Singapur, Hongkong, Port Arthur, Hawaii, Panama, die Bermudas, aus der einfachen Überlegung, daß, wenn eine Macht in einem Meere diese Punkte sicher in der Hand hat, ein Seekrieg im voraus entschieden ist. Eine feindliche Flotte kann sich in diesen Gewässern überhaupt nicht halten. Das heißt, der Seekrieg wird vor Kriegsbeginn dadurch entschieden, daß man die Stützpunkte gegeneinander ausspielt. Das ist seit 1870 ein sehr wesentlicher Zug europäischer Kolonialpolitik gewesen.
Bis dahin etwa konnte man sagen, daß bei der Besetzung von Küstenstrecken, namentlich Afrikas, wirtschaftliche Gesichtspunkte allein in Betracht kamen. Es handelte sich um die Gewinnung von Rohstoff- und Absatzgebieten. Daneben aber ging immer entschiedener und zielbewußter der Wille dahin, zunächst die Küstenpunkte in die Hand zu bekommen, welche im Fall eines Krieges strategisch in Betracht kamen, und als man in den neunziger Jahren sich mit dem Gedanken vertraut machte, China in Interessensphären europäischer Staaten aufzuteilen, spielten wirtschaftliche Erwägungen bei der Wahl der zu besetzenden Gebiete zunächst überhaupt keine Rolle mehr, der Gewinn von strategischen Punkten die einzige. In diesen Jahren sind Namen wie Port Arthur, Weihaiwei und Kiautschou wichtiger gewesen als die Kohlengebiete und die großen Handelsstädte. Das Ganze beruht auf einer strategischen Tatsache, die jetzt nicht mehr vorhanden ist, daß nämlich für den, der die Küste hat, das Hinterland ebenfalls ein gesicherter Besitz ist, denn es gab in Afrika und Asien keine einzige Macht, welche die Küsten vom Hinterland aus in ihrer Gewalt haben oder halten konnte. Afrika war wie gesagt ein bloßes Objekt der Politik, auch die Burenstaaten und Ägypten. Die Besetzung von Küsten bedeutete also den Besitz eines entsprechenden Einflußgebietes im Innern und damit war die Frage der wirtschaftlichen Bedeutung von selbst erledigt.
Inzwischen hat sich hier eine Wandlung vollzogen. In demselben Maße, wie das Innere Afrikas eigene politische Ziele[175] und Neigungen zu zeigen beginnt, wie in Südafrika, wo es erst jetzt wieder der Sturz des General Smuts durch Hertzog gezeigt hat, wie Indien immer deutlicher die Absicht erkennen läßt, sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, und wie von Rußland her durch bolschewistische Agitation das ganze Innere Chinas aufgewühlt wird, in demselben Maße ist die Beherrschung der Küsten von beiden Seiten aus möglich geworden, der See oder dem Hinterland. Dann aber ist das Festland unter allen Umständen im Vorteil. Die Zeit der Seegeltung Englands neigt sich dem Ende zu. Und nun steht plötzlich, seit einer ganz kurzen Zahl von Jahren, die Möglichkeit vor uns, daß die größte Landmasse der Erde, der Block Europa-Asien-Afrika, das Schicksal der Welt militärisch in die Hand bekommt, und zwar durch binnenländische Machtlinien, so daß die angrenzenden Meere als die alten Herrschaftsgebiete Englands nicht mehr Träger der Entscheidung sind, sondern unter Umständen deren bloße Objekte.
Die englische Seeherrschaft während des 19. Jahrhunderts beruhte darauf, daß der, welcher die See hatte, auch das Land besaß. Die Grenzen Englands waren tatsächlich die Küsten aller großen Meere. Es ist möglich, daß schon in der Mitte dieses Jahrhunderts das Verhältnis sich umgekehrt hat, daß also das Zeitalter der stehenden Flotten und des Wettbewerbs um die Küstenpunkte abgelöst wird durch ein andres, in welchem es sich darum handelt, die Küsten vom Binnenland aus mit Hilfe von Flugzeuggeschwadern und Unterseebootstationen unter Kontrolle zu halten und damit den Sinn einer Schlachtflotte aufzuheben. Der Begriff der Seeherrschaft würde damit von der Flotte auf das Festland verlegt werden.
Vom Schicksal des inneren Asien läßt sich das Schicksal Rußlands nicht trennen, das heute wieder seelisch wie politisch zu Asien gehört, und auch hier zeigt sich, daß alle weltpolitischen Formen sich grundlegend geändert haben. Die russische Politik, wie wir sie vor dem Kriege als selbstverständlich empfanden, beruhte auf einem Gedanken, der ausschließlich im Kopfe Peters des Großen entstanden ist und der allem widerspricht, was bis dahin und darüber hinaus seelische Tradition[176] des russischen Volkes gewesen war.3 Peter der Große wendete die Richtung der russischen Politik von Sibirien, dem Kaspischen und dem Schwarzen Meer ausschließlich nach Westeuropa und der Ostsee hinüber. Von da an ist für zwei Jahrhunderte das ganze System der russischen Außenpolitik in den großen Gesandtschaftsposten der Weststaaten verankert. Was die Botschafter in Berlin, Wien, Paris und London ausführten, war die russische Politik. Es ist die Verwendung der Mittel »Asiens« für Ziele, die in Westeuropa lagen, und das System führt zu seinem größten Triumph gerade mit dem Ende der napoleonischen Herrschaft, als Alexander I. als Protektor Europas in Paris einzieht und die heilige Allianz begründet, das heißt, die europäische Staatenwelt hinsichtlich ihrer Tradition unter russischen Schutz stellt.
Der Bolschewismus in seiner ältesten Form, die man heute mit dem Namen Lenin bezeichnen darf und die nach meiner Überzeugung mit dem Tode Lenins abgeschlossen ist, hat daran nichts geändert. Der ursprüngliche Bolschewismus ist seiner ganzen Gedankenwelt nach und auch nach der Herkunft eines großen Teils seiner Träger europäisch, das heißt westeuropäisch. Er hat nichts daran geändert, daß Asien weiterhin als Mittel zu europäischen Zwecken eingesetzt wird. An Stelle der großen Botschafterposten, mit denen Petersburg arbeitete, ist die Gruppe der kommunistischen Parteien getreten, mit denen die Regierung in Moskau arbeitet, und der Gedanke der heiligen Allianz setzt sich fort im Gedanken einer Allianz des Proletariats der Westländer unter dem Sowjetstern. Es handelt sich nach wie vor darum, Westeuropa in irgendeiner Form russischen Interessen zu unterstellen und russische Ideen für dessen Völker nutzbar zu machen. Ich glaube, daß diese Richtung mit dem Tode Lenins abgeschlossen ist. Ich bin überzeugt, daß das russisch-asiatische Reich, so wie es sich 1917 geformt und wie es sich sechs Jahre lang gehalten hat, nicht weiter zu halten ist, und daß wir nicht, wie man vorübergehend annehmen mußte, mit einer langsamen Entwicklung[177] von innen heraus zu rechnen haben, die aus dem heutigen Zustand eine tragfähige Ordnung macht, sondern daß neue Erschütterungen, religiöse, militärische, politische, wirtschaftliche, die man in Rußland nie voneinander trennen darf, über die russisch-asiatische Erde fortschreiten werden, Erschütterungen, die ebenso tief und vielleicht blutiger sind als die ersten, denn es taucht nun ganz leise eine Macht auf, die bis jetzt geschwiegen hat und deshalb nicht gesehen worden ist: das russische Bauerntum, das vor Peter dem Großen da war, das während der petrinischen Zeit schlief und wartete, während der Zeit Lenins schlief und wartete und heute in einer sehr tiefen religiösen Gärung erscheint, eine unabsehbare Menschenmasse, die im Begriff ist aufzuwachen. Es ist darunter nicht nur die Bauernschaft zu verstehen, die auf der schwarzen Erde sitzt, sondern das gesamte Volkstum, das seit vielen Jahrhunderten von der Weichsel bis nach Indien und China hin lebt, mag man es russisch, tartarisch oder mongolisch nennen, und über das alle geschichtlichen Ereignisse und Kulturen seit Dschingiskhan wie Schatten hinweggeglitten sind. Bis jetzt haben die russischen Heere mit ihr machen können, was sie wollten, aber man sah doch schon von Zeit zu Zeit eine religiöse Erregung aufleuchten, die im Auftreten heiliger Bauern und Propheten ihren Ausdruck fand und von der Regierung nach Möglichkeit unterdrückt worden ist.
Man wird das Gefühl nicht los, daß diese im tiefsten antibolschewistische Regung dadurch, daß die Sowjetideen politisch und wirtschaftlich den Zauber eingebüßt haben, der ursprünglich an ihnen haftete, und noch mehr dadurch, daß man das furchtbare Leiden dieser sechs Jahre nicht mehr als Opfer für eine Sache, sondern als nutzloses Opfer zu empfinden beginnt, gestärkt wird und immer mehr Gestalt gewinnt, daß eine Explosion metaphysischer Inbrunst durch einen Führer, der irgendwie und irgendwo auftaucht, ganz plötzlich zu einer politischen Welle werden kann, die in wenigen Jahren das Antlitz Asiens unwiderstehlich und für immer verändert. Man muß sich darüber klar sein, daß die Zeit aufgehört hat, wo infolge des Gleichgewichts der Großmächte auch in Asien[178] nur Heere europäischen Stils im Stande waren, wirkliche Veränderungen herbeizuführen. Heute ist auf der ganzen Erde jede Art von politischer Macht und Tradition derartig zersetzt, daß verhältnismäßig sehr kleine Kräfte in der Lage sind, ganz außerordentliche Umwälzungen hervorzurufen.
Eine derartige Möglichkeit hat einmal sehr nahe gelegen durch das Auftreten des Barons von Ungern-Sternberg in Turkestan, der 1920 eine gegen den Bolschewismus gerichtete Armee zusammenbrachte, mit der er nach kurzer Zeit Mittelasien fest in der Hand gehabt hätte. Dieser Mann hat die Bevölkerung weiter Gebiete bedingungslos an sich gefesselt, und wenn er gewollt hätte und den Bolschewisten seine Beseitigung nicht geglückt wäre, so läßt sich nicht absehen, wie das Bild Asiens sich heute bereits ausnehmen würde. Wenn in diesen Jahren ein solches Heer begeisterter Anhänger eines geborenen Führers, Abenteurers und Eroberers, wie auch Enver Pascha einer war, mit der Parole »Asien den Asiaten« aufbräche, so ist es gewiß, daß es weder in China noch in Indien ernsthafte Hindernisse fände. Uns klingt das märchenhaft, weil wir selbst Ähnliches nie erlebt haben, aber dergleichen hat es in der Geschichte mehr als einmal gegeben und der Zusammenbruch des Zarismus in dieser grauenhaften Form würde als Prophezeiung drei Jahre vorher der ganzen Welt wie der Traum eines Irrsinnigen erschienen sein.
Wir haben zu bedenken, daß das einzige Hindernis für derartige Umwälzungen, das System der stehenden Heere, erschüttert und im Verschwinden begriffen ist. Die revolutionäre Stimmung aller Länder hat den Geist dieser Heere verwandelt. Es ist die Frage, ob irgendwo eine allgemeine Mobilmachung ohne schwere Unruhen überhaupt noch möglich ist. Es taucht also am Horizont die dunkle Möglichkeit auf, daß plötzlich der diplomatische Stil, wie er jetzt beispielsweise die kleine Entente ins Leben gerufen hat und die große zusammenhält, dadurch völlig unmöglich wird, daß irgendwo in Asien oder Afrika Veränderungen der politischen Form eintreten, die man bis jetzt nicht einmal in den Kreis theoretischer Betrachtungen zu ziehen wagt.[179]
Denn dies ist ein neues Element der großen Politik: die vollkommen veränderte Einwirkung, die in allen Staaten weißer Völker die Innenpolitik auf das Heer und damit die Außenpolitik gewonnen hat. Wir hatten, seit die großen Städte die eigentlichen Träger moderner Politik geworden sind, die Tatsache hervortreten sehen, daß die großen Arbeiterparteien ihrem Wesen nach revolutionär sind und auch ihren Methoden nach revolutionär sein wollten und mußten. Das war in den letzten Jahrzehnten vor dem Kriege fast verloren gegangen. Die Parteien mochten sich in den einzelnen Ländern noch so sehr als revolutionär bezeichnen und gebärden, in ihrem taktischen Denken hat die Gewalt kaum noch eine Rolle gespielt. Das hat schon Max Bernstein gegen Bebel zum Ausdruck gebracht. Man war sich darüber klar oder glaubte es zu sein, daß die stehenden Heere eine so unwiderstehliche Macht darstellten, daß der bloße Gedanke an eine gewaltsame Gegenwirkung sinnlos sei. Eine Kompanie mit Maschinengewehren genügte, um Tausende von Streikenden in Schach zu halten, weil man den wirklichen Gefechtswert dieser Kompanie nicht beurteilen konnte. Im Weltkrieg haben nun die revolutionären Elemente der großen Städte reiche Erfahrungen darüber sammeln können, wie das Ergebnis einer bewaffneten Auseinandersetzung ausfallen würde. Der Krieg mit den zahlreichen Beschießungen und Eroberungen größerer Städte ist die Probe dafür gewesen, wo die Grenzen der Wirkung regulärer Truppen im Straßenkampf liegen. Er hat jedermann gezeigt, daß unsre steinernen Großstädte bei geschickter Verteidigung auch durch schwächere Kräfte Objekte sind, die einem mit allen modernen Machtmitteln kämpfenden Heer zu erobern schwer und fast unmöglich ist, und damit ist plötzlich und zwar ohne Ausnahme in allen Ländern in den Köpfen der Menschen, die sich als revolutionär bezeichnen, wieder die Überzeugung aufgetaucht, daß man eine Revolution auf revolutionärem Wege durchführen kann. Die Tatsache besteht jedenfalls, daß die Meinung, es gäbe auch hier nur parlamentarische Wege, Wahlen, Abstimmungen, Verweigerung des Etats, im äußersten Falle den Generalstreik, überholt ist und[180] damit alle überlieferten Formen innerer Politik unsicher geworden sind. Denn diese Formen beruhten auf der kaum bewußten Übereinkunft, daß die Gegner sich der Form unterwerfen, selbst wenn sie im einzelnen Falle zur Niederlage führt. Sobald der, welcher in der Form keinen Vorteil mehr für sich erblickt, sie als solche auch nicht mehr respektiert, ist eine verfassungsmäßige Innenpolitik überhaupt nicht mehr durchzuführen und an die Stelle der Verhandlung tritt die Gewalt.
Dies formale Gleichgewicht zwischen den Parteien war vor dem Kriege in allen gut regierten Staaten Europas unbedingt vorhanden, selbst in Rußland, und es ist heute in keinem einzigen Lande der Welt mehr gesichert. Das ist eine Tatsache, mit welcher die große Politik rechnen muß. Man mag sie gefühlsmäßig einschätzen wie man will, aber auch im Lande des klassischen Parlamentarismus, in England, ist heute das Verhältnis so, daß die radikalen Arbeitermassen vor den parlamentarischen Formen weder Achtung haben noch ernsthaft davor zurückschrecken würden, außerparlamentarische Mittel anzuwenden, wenn die übrigen nicht mehr zum Ziele führen. Das ist der günstigste Fall; in andern Ländern liegen die Verhältnisse weit ungünstiger. Das hat, da alles seine Gegenwirkung hat, zur Folge, daß auch innerhalb der gesellschaftlichen Schichten, die bisher aus Tradition, Rechtsgefühl oder Pietät die bestehenden inneren Formen gewahrt haben, die Achtung vor diesen Formen mehr und mehr schwindet, denn hier dringt das Bewußtsein durch, daß eine Form, die von der Gegenpartei nicht geachtet wird, überhaupt aufgehört hat etwas zu sein, womit man regieren kann; und wir erleben heute, daß die Geschäftsführung der großen Länder entweder den Sitz der Entscheidung aus dem Parlament hinausverlegt in die Umgebung privater aber einflußreicher Persönlichkeiten, in Finanz- oder Militärkreise, unter scheinbarer Wahrung parlamentarischer Formen, oder daß sie die parlamentarische Form nicht wahrt und nun versucht, durch irgendwelche Ausnahmezustände zu erreichen, was die Verfassung selbst nicht mehr verbürgt.[181]
Auf diesem Wege sind wir jetzt begriffen, und die große Politik nimmt mehr und mehr den Charakter einer Herrschaft an, die von einzelnen Persönlichkeiten ohne Rechenschaft und subjektiv geführt wird, welche nach innen die Durchführung ihrer Pläne mit allen Mitteln, die ihnen erreichbar sind, zu sichern versuchen, wie wir das in Italien und Spanien in der einen, in Rußland in der andren Weise erleben.
Wir treten jetzt in ein Zeitalter, wo auch die Außenpolitik in der Gestalt, die überpersönlich und seit Jahrhunderten herangewachsen ist und die wir irgendwie mit den Worten Legitimität, Verfassung, politische Tradition, diplomatischer Stil bezeichnen können, in Formen übergeht, die dem Charakter einzelner Persönlichkeiten entspringen. Von Rußland darf man sagen, daß die Sowjetrepublik die persönliche Form Lenins gewesen ist. In Südafrika war schon lange vor dem Krieg der Aufbau der Staatengruppe ein ganz persönlicher Ausdruck der Arbeitsweise von Cecil Rhodes gewesen. Und das heutige Italien entspricht dem persönlichen Geschmack Mussolinis. Es ist der Cäsarismus der Zukunft, der sich in diesen Erscheinungen meldet. Es beweist den tiefen Blick Metternichs in die Zukunft, wenn er im Jahre 1820 schrieb: »Ich bin entweder zu früh oder zu spät auf die Welt gekommen; jetzt fühle ich mich zu nichts gut. Früher hätte ich die Zeit genossen, später hätte ich dazu gedient, wieder aufzubauen; heute bringe ich mein Leben zu, die morschen Gebäude zu stützen. Ich hätte im Jahre 1900 geboren werden und das zwanzigste Jahrhundert vor mir haben sollen.« Und: »Mein geheimster Gedanke ist, daß das alte Europa am Anfang seines Endes ist. Ich werde, entschlossen, mit ihm unterzugehen, meine Pflicht zu tun wissen. – Das neue Europa ist andrerseits noch im Werden; zwischen Ende und Anfang wird es ein Chaos geben.«
Aber dies Schwinden der Tradition war in der Zeit Bismarcks und Gladstones noch nicht zur Katastrophe gereift. Damals hatte selbst die stärkste Persönlichkeit den ganz überwiegenden Teil ihrer Arbeitskraft und Energie darauf verwenden[182] müssen, in den Fesseln und gegen die Widerstände einer Form zu arbeiten, die als solche unerschütterlich war, um trotz aller Hindernisse das angestrebte Ziel zu erreichen. Diese Widerstände sind heute nicht mehr vorhanden. Würde Bismarck heute regieren, so würde er seine Arbeitskraft wahrscheinlich ganz für sein Ziel und nicht vorwiegend für die Überwindung widerstrebender Traditionen einzusetzen haben. Die künftige Politik wird, ob man nun an England oder Rußland oder Japan oder andere Länder denkt, geführt werden, indem einzelne Menschen von Rang entweder vorhanden sind, und dann so arbeiten, wie es ihrem privaten Willen entspricht, oder nicht vorhanden sind; in diesem Falle wird trotz aller Machtmittel und aller verfassungsmäßigen Formen des Regierens das Schicksal eines Landes sich außerordentlich ernst gestalten.
Damit besteht für Deutschland in Zukunft eine wachsende Möglichkeit, durch das Auftauchen entscheidender Persönlichkeiten über alles, was jetzt hoffnungslos erscheint, hinweggeführt zu werden. In einem Zeitalter, wo es einzelne sind und nicht unpersönliche Formen, welche das Schicksal darstellen, kann auch ein besiegtes und halbvernichtetes Land über Nacht zu gewaltiger Bedeutung aufsteigen. Aber darüber läßt sich nur mit einem Worte Hamlets sprechen:
In Bereitschaft sein ist alles.
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Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.
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