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[14] Das also war die große, seit Generationen verkündete, besungene, angedichtete deutsche Revolution – ein Schauspiel von einer so fürchterlichen Ironie, daß es des Abstandes von Jahrzehnten bedarf, bevor sie dem Deutschen fühlbar wird, eine Revolution, die das umwarf, was sie wollte und nun will, ohne zu wissen was.

Betrachtet man von dieser künftigen Höhe aus die drei Revolutionen, die ehrwürdige, die großartige, die lächerliche, so läßt sich sagen: Die drei spätesten Völker des Abendlandes haben hier drei ideale Formen des Daseins angestrebt. Berühmte Schlagworte kennzeichnen sie: Freiheit, Gleichheit, Gemeinsamkeit. Sie erscheinen in den politischen Fassungen des liberalen Parlamentarismus, der gesellschaftlichen Demokratie, des autoritativen Sozialismus: scheinbar ein neuer Besitz, in Wahrheit nur die äußerste reine Gestaltung des unveränderlichen Lebensstils dieser Völker, jedem ganz und allein eigen und keinem andern mitteilbar.

Antike Revolutionen stellen lediglich den Versuch dar, eine Lebenslage zu erreichen, in der ein in sich ruhendes Dasein überhaupt möglich und erträglich ist. Trotz der Leidenschaftlichkeit des äußeren Bildes sind sie sämtlich defensiver Natur. Von Kleon bis herab zu Spartacus hat niemand daran gedacht, über die eigne Not des Augenblicks hinaus sich für eine allgemeine Neuordnung der antiken Daseinsbedingungen einzusetzen. Die drei großen Revolutionen des Abendlandes aber entrollen eine Machtfrage: Ist der Wille des einzelnen[14] dem Gesamtwillen zu unterwerfen oder umgekehrt? Und man ist entschlossen, die eigne Entscheidung der ganzen Welt aufzuzwingen.

Der englische Instinkt entschied: die Macht gehört dem einzelnen. Freier Kampf des einen gegen den andern; Triumph des Stärkeren: Liberalismus, Ungleichheit. Kein Staat mehr. Wenn jeder für sich kämpft, kommt es in letzter Linie allen zugute.

Der französische Instinkt: die Macht gehört niemand. Keine Unterordnung, also keine Ordnung. Kein Staat, sondern nichts: Gleichheit aller, idealer Anarchismus, in der Praxis immer wieder (1799, 1851, 1871, 1918) durch den Despotismus von Generalen oder Präsidenten lebensfähig erhalten.

Beides heißt Demokratie, aber in sehr verschiedener Bedeutung. Von einem Klassenkampf im marxistischen Sinne ist nicht die Rede. Die englische Revolution, die den Typus des unabhängigen, nur sich selbst verantwortlichen Privatmannes hervorbrachte, bezog sich überhaupt nicht auf Stände, sondern auf den Staat. Der Staat wurde, weltlich wie geistlich, abgeschafft und durch den Vorzug der Insellage ersetzt. Die Stände bestehen noch heute, allgemein geachtet, instinktiv auch Von der Arbeiterschaft anerkannt. Die französische Revolution allein ist ein »Klassenkampf«, aber von Rang-, nicht von Wirtschaftsklassen. Die wenig zahlreichen Privilegierten werden der gleichförmigen Volksmasse, der Bourgeoisie, einverleibt.

Die deutsche Revolution aber ist aus einer Theorie hervorgegangen. Der deutsche, genauer preußische Instinkt war: die Macht gehört dem Ganzen. Der einzelne dient ihm. Das Ganze ist souverän. Der König ist nur der erste Diener seines Staates (Friedrich der Große). Jeder erhält seinen Platz. Es wird befohlen und gehorcht. Dies ist, seit dem 18. Jahrhundert, autoritativer Sozialismus, dem Wesen nach illiberal und antidemokratisch, soweit es sich um englischen Liberalismus und französische Demokratie handelt. Es ist aber auch klar, daß der preußische Instinkt antirevolutionär ist. Den Organismus aus dem Geiste des[15] 18. Jahrhunderts in den des 20. zu überführen – was man in einem ganz andern, spezifisch preußischen Sinne liberal und demokratisch nennen kann – war eine Aufgabe für Organisatoren. Die radikale Theorie aber machte aus einem Teil des Volkes einen vierten Stand zurecht – sinnlos in einem Lande der Bauern und Beamten. Sie gab dem überwiegenden, in zahllose Berufsstände gegliederten Teil den Namen »dritter Stand« und bezeichnete ihn damit als Objekt eines Klassenkampfes. Sie machte den sozialistischen Gedanken endlich zum Privilegium des vierten Standes. Im Banne dieser Konstruktionen zog man denn im November aus, um das zu erreichen, was im Grunde längst da war. Und da man es im Nebel der Schlagworte nicht erkannte, zerschlug man es. Nicht nur der Staat, auch die Partei Bebels, das Meisterwerk eines echt sozialistischen Tatsachenmenschen, durch und durch militärisch und autoritativ und eben damit die unvergleichliche Waffe der Arbeiterschaft, wenn sie dem Staat den Geist des neuen Jahrhunderts einimpfen wollte, ging in Trümmer. Das macht diese Revolution so verzweifelt lächerlich: sie brach auf, um ihr eignes Haus anzuzünden. Was 1914 das deutsche Volk sich selbst versprochen, was es bereits langsam, ohne Pathos zu verwirklichen begonnen hatte, wofür zwei Millionen Männer gefallen waren, wurde verleugnet und vernichtet. Und dann stand man ratlos, ohne zu wissen, was nun veranstaltet werden sollte, um sich selbst das Vorhandensein einer fortschreitenden Revolution zu beweisen. Es war sehr nötig, denn der Arbeiter, der etwas ganz andres erwartet hatte, schaute mißtrauisch auf, aber mit dem täglichen Ausrufen der Schlagworte in die leere Luft hinein war es nicht getan.

Quelle:
Oswald Spengler: Politische Schriften. München 1933, S. 14-16.
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