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[45] Unter allen Völkern Westeuropas zeichnen sich allein diese beiden durch eine straffe soziale Gliederung aus. Das ist der Ausdruck ihres Bedürfnisses nach höchster Aktivität, die jeden einzelnen Menschen an dem Platze sehen will, wo man ihn braucht. Eine solche Ordnung, der eine ganz unbewußte und unwillkürliche Ökonomie der Kräfte zugrunde liegt, ist durch eine noch so geniale Persönlichkeit oder den noch so starken Willen, fremde Formen nachzuahmen, nicht zu erreichen; sie ist einem Volke und diesem allein natürlich und selbstverständlich und von keinem andern wirklich nachzuahmen. Das ganze sittliche Grundgefühl tritt hier in Erscheinung; Jahrhunderte sind nötig, um den Sinn für Distanzen von einer bestimmten Art in dieser Klarheit auszubilden und zugleich zu verwirklichen. Wikingergeist und Ordensgeist treten wieder hervor: das Ethos des Erfolges und das der Pflicht. Das englische Volk ist nach dem Unterschiede von reich und arm, das preußische nach dem von Befehl und Gehorsam aufgebaut. Die Bedeutung des Klassenunterschiedes ist demnach in beiden Ländern eine ganz verschiedene. Die Unterklasse findet sich in der Gesellschaft unabhängiger Privatleute im Gemeingefühl derer zusammen, die nichts haben, im Staate als die Schicht derer, die nichts zu sagen haben. Demokratie bedeutet in England die Möglichkeit für jedermann, reich zu werden, in Preußen die Möglichkeit, jeden vorhandenen Rang zu erreichen: damit wird der einzelne in die ein für allemal gegebene Schichtung durch seine Fähigkeiten[45] und nicht durch eine Tradition eingereiht. Frankreich (und also auch Florenz) hat niemals eine natürliche und dem nationalen Instinkt notwendige Klassenbildung dieser Art gekannt, auch nicht vor 1789. Die soziale Anarchie war die Regel: es gab willkürliche Gruppen von Bevorrechteten jeder Art und jedes Umfangs ohne irgendein sozial feststehendes Verhältnis untereinander. Man denke an den Gerichtsadel neben dem Hofadel, an den Typus des Abbé, an die Generalpächter, an die Unterschiede im städtischen Großbürgertum. Der echt französische Sinn für Gleichheit prägt sich in dieser Unfähigkeit zu abgestufter Ordnung von Urzeiten her deutlich aus. In England ist der Adel allmählich zum Adel auch aus Reichtum, in Preußen zum Militäradel geworden. Der französische Adel hat eine solche Einheit der sozialen Bedeutung nie erlangt. Die englische Revolution richtete sich gegen den Staat, also gegen die »preußische« Ordnung in Kirche und öffentlichem Dasein, die deutsche Revolution gegen die »englische« Ordnung nach reich und arm, die im 19. Jahrhundert mit Industrie und Handel eingedrungen und Mittelpunkt der antipreußischen, antisozialistischen Tendenzen geworden war. Die französische allein richtete sich nicht gegen eine fremde und darum unsittliche, sondern gegen eine Ordnung überhaupt: das ist Demokratie im französischen Sinne.

Hier endlich tritt der tiefethische Sinn der Schlagworte Kapitalismus und Sozialismus zutage. Es sind die menschlichen Ordnungen, die sich auf dem Reichtum und auf der Autorität aufbauen, die, welche durch den ungehemmten Kampf um Erfolge, und die, welche durch Gesetzgebung erzielt wird. Daß der echte Engländer sich Befehle von jemand erteilen lassen sollte, der nichts hat, ist ihm ebenso unerträglich wie dem echten Preußen die Verbeugung vor dem bloßen Reichtum. Aber selbst der klassenbewußte Arbeiter der ehemaligen Bebelpartei gehorchte dem Parteihaupte aus derselben Sicherheit des Instinkts wie ein englischer Arbeiter einen Millionär als glücklicheres und von Gott sichtbar ausgezeichnetes Wesen respektiert. So tief im Seelischen wurzelnde Unterschiede vermag der proletarische Klassenkampf gar nicht anzutasten.[46] Die ganze englische Arbeiterbewegung ist auf den Unterschied von wohlhabend und bettelhaft innerhalb der Arbeiterschaft selbst aufgebaut. An die eiserne Disziplin einer Millionenpartei in preußischem Stil würde hier gar nicht zu denken sein.

»Ungleiche Verteilung des Reichtums« ist die echt englische Proletarierformel, die Shaw immer im Munde führt; so sinnlos sie uns klingt, so wahr ist sie für ein Lebensideal, das dem zivilisierten Wikinger allein lebenswert ist. Man sollte also, auch mit Rücksicht auf die großartige Ausbildung dieses Ideals im Typus des Yankee, von Milliardärsozialismus und Beamtensozialismus reden. Zum ersten gehört ein Mann wie Carnegie, der zuerst einen großen Teil des gesamten Volksvermögens in Privatvermögen verwandelt und ihn dann in glänzender Weise ganz souverän für öffentliche Zwecke ausgibt. Sein Ausspruch »Wer reich stirbt, stirbt ehrlos« enthält eine hohe Auffassung des Willens zur Macht über die Gesamtheit. Aber man verkenne ja nicht die tiefe Beziehung dieses Privatsozialismus, der in den äußersten Fällen nichts ist als die diktatorische Verwaltung von Volkseigentum, zum Sozialismus des Beamten und Organisators (der sehr arm sein kann), wie er in Bismarck und Bebel gleichmäßig zur Erscheinung kommt.

Shaw ist heute der Gipfel des »kapitalistischen« Sozialismus, für den reich und arm nach wie vor gestaltende Gegensätze des wirtschaftlichen Organismus sind. »Armut ist das größte der Übel und das schlimmste der Verbrechen« (Major Barbara). Er predigt gegen die »feige Masse, die an dem kümmerlichen Vorurteil festhält, daß man lieber gut sein soll als reich«. Der Arbeiter soll versuchen, reich zu werden, das war von Anfang an auch die Politik der englischen Gewerkschaften, der Trade Unions. Deshalb hat es scheinbar zwischen Owen und Shaw in England keinen Sozialismus im proletarischen Sinn gegeben – er war vom Kapitalismus der Unterklasse der Art nach nicht zu unterscheiden. Für uns ist der gestaltende Gegensatz aber immer wieder Befehlen und Gehorchen in einer streng disziplinierten Gemeinschaft, heiße[47] sie nun Staat, Partei, Arbeiterschaft, Offizierkorps oder Beamtentum, deren Diener jeder Zugehörige ohne Ausnahme ist. Travailler pour le roi de Prusse – das heißt doch auch seine Pflicht tun ohne das schmutzige Schielen nach Profit. Die Bezahlung der Offiziere und Beamten seit Friedrich Wilhelm I. war lächerlich im Verhältnis zu den Summen, mit denen man in England auch nur zur Mittelklasse gehörte. Trotzdem wurde fleißiger, selbstloser, ehrlicher gearbeitet. Der Rang war zuletzt die Belohnung. Und so war es auch unter Bebel. Dieser Arbeiterstaat im Staate wollte nicht reich werden, sondern herrschen. Diese Arbeiter haben bei ihren anbefohlenen Streiks oft genug gedarbt nicht für eine Lohn-, sondern für eine Machtfrage, für eine Weltanschauung, die der ihrer Brotgeber vermeintlich oder tatsächlich entgegengesetzt war, für ein sittliches Prinzip, wobei die verlorene Schlacht im Grunde noch ein moralischer Sieg war. Englischen Arbeitern ist dergleichen ganz unverständlich. Sie waren nicht arm und nahmen bei ihren Streiks noch die Hunderttausende in Empfang, die der arme deutsche Arbeiter sich entzog in der Meinung, daß es sich drüben um die gleiche Sache handle. Die Novemberrevolution war demnach eine Gehorsamsverweigerung im Heere und zugleich in der Arbeiterpartei. Die plötzliche Verwandlung der disziplinierten Arbeiterbewegung in eine wilde Lohnpolitik einzelner Gruppen ohne gegenseitige Rücksicht war ein Sieg des englischen Prinzips. Das Mißlingen äußerte sich in der Tatsache, daß in der Reichswehr ein neuer Organismus von innerer Disziplin entstand. Der einzig fähige Mann, der erschien, war ein Soldat. In solchen militärischautoritativen Erfolgen und Mißerfolgen wird die deutsche Revolution fortgehen.

Quelle:
Oswald Spengler: Politische Schriften. München 1933, S. 45-48.
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