II

[5] Es wäre für das Verständnis dieser Lehre ein Hindernis, wenn uns die Kenntnis der großen und tragischen Persönlichkeit Heraklits verlorengegangen wäre. Wir könnten nicht verstehen, weshalb dieser Philosoph den ἀγών, die vornehmste Sitte seiner Zeit, zur Sitte des Kosmos machte, was er mit dem Feuer meinte, dem er eine herrschende Rolle im Weltall zuschrieb. Seine Lehre ist selbst für diese Zeit und für einen Griechen in ungewöhnlichem Grade persönlich, ohne daß von ihm selbst viel die Rede wäre.

Wir sehen einen Menschen, dessen ganzes Fühlen und Denken unter der Herrschaft einer ungezügelten aristokratischen Neigung stand, die durch Geburt und Erziehung stark angelegt[5] und durch Widerstand und Enttäuschung gereizt und gesteigert war. Hier ist der letzte Grund für jeden Zug seines Lebens und jede Besonderheit seiner Gedanken zu suchen. Noch in der energischen Konzentration des Systems, in dem Vermeiden und Verschmähen aller Einzelheiten und Nebensachen, dem Niederschreiben in kurzen, starken, ihm allein geläufigen Wendungen erkennen wir die Hand des Aristokraten.

Der hellenische Adel,2 dessen Untergang in dieser Zeit sich vollzieht, hat die bedeutungsreichste und schönste Periode der hellenischen Kultur geschaffen. Er hat durch seine Sitte für alle Zeit den Typus des vollkommenen Hellenen festgestellt, eine unvergleichlich hohe und edle Kultur des einzelnen Menschen (καλοκἀγαθία); er vertrat nicht nur Rechte oder Interessen, sondern eine Weltanschauung und eine Sitte (Burckhardt). Es war eine stolze, glückliche, herrschaftliebende und -gewöhnte Kaste, stolz auf das Blut, den Rang, die Waffen, die »Antibanausie«; sie war im Alleinbesitz des Geistes und der Kunst. Man kann die ungeheure ethische Macht der Kaste und ihrer Lebensauffassung über den Geist des einzelnen begreifen. Sie selbst konnte untergehen, aber wer einmal in ihrem Banne stand, vermochte sich ihr nicht wieder zu entziehen. Heraklit besaß ihr ganzes Selbstbewußtsein und ihren Stolz, eine starke, ungewollte, jeder Reflexion über sich selbst fremde Vornehmheit; er hängt mit Leidenschaft an ihren tapfern, gesunden, lebensfrohen Sitten, am Kampf, am Streben nach Ruhm.3 Dieser stolze unbeugsame Mann liebte den Unterschied von Herrschenden und Gehorchenden, er hatte Ehrfurcht vor den althergebrachten Sitten und Institutionen,4 die der Demokratie nicht mehr heilig waren. Er[6] war ein zu tiefer Menschenkenner, um den Menschen seiner Zeit schlechthin, unter Absehen von Geburt und Rang, zu beurteilen. Er glaubte an den homerischen Unterschied5 der ἄριστοι der Menschen von großer und vornehmer Lebensauffassung, und der Masse (οἱ πολλοί), an der er mit spöttischem Scharfblick die Mängel des Standes entdeckt.6 Er läßt sich nicht auf Angriffe und Auseinandersetzungen mit dem δῆμος ein, das verbieten ihm sein Geschmack und die Selbstbeherrschung, die eine der ersten Tugenden des vornehmen Griechen war;7 ohne Wut, ohne Ausfälle beurteilt er das Volk von oben herab, kalt, boshaft, mit Verachtung und Ekel, zuweilen durch eine sarkastische Bemerkung den aufsteigenden Groll verbergend.

Der Name des weinenden Philosophen, den ihm das Altertum gab, wird nicht ohne Grund entstanden sein, das verraten Anekdoten8 und manche seiner Aphorismen,9 aus denen ein bittrer, verwundeter Ton spricht. Durch Abkunft und tiefe Anhänglichkeit an ein Lebensideal geknüpft, wurde er zu einer Zeit geboren, wo dies Ideal keine Daseinsmöglichkeit mehr hatte. Die Macht und die Sitten des Adels waren gesunken oder verschwunden. Die Demokratie begann zu herrschen. Zum Nachgeben oder nutzlosen Klagen war er zu starr und zu trotzig. Eine der ersten und einflußreichsten Würden in Ephesos, die ihm durch Erblichkeit zufiel (die des βασιλεύς), war für ihn nicht mehr das, was sie hätte sein müssen. Er verzichtete auf sie. Das Leben der πόλις verlor die aristokratische Form und die Menge begann zu regieren.[7]

Da verließ er die Stadt, wo er ein kleiner Machthaber hätte sein können, und ging in das Gebirge, in eine freiwillige Einsamkeit, ein Dasein, das dem geselligen Griechen, der mit dem Schicksal seiner Stadt verwachsen war, das furchtbarste dünkte. Er ist unversöhnlich dort geblieben, sein Leben ertragend, das ihn zuletzt dem Wahnsinn nahe brachte, wenn man Theophrast glauben darf.10

Als Hellenen galt ihm der Ruhm, man könnte sagen die Berühmtheit, als das Höchste.11 Es ist die Frage, ob ihn jene selbstgewählte Einsamkeit und die seltsamen Züge, die ihm eine bewundernde Aufmerksamkeit zuzogen, nicht vielleicht für eine Rolle in Ephesos schadlos halten sollten. Jeder Grieche wollte in aller Munde sein, und um jeden Preis. Herostrat ist ein berühmtes Beispiel dafür, was man zu diesem Zwecke versuchen konnte. Aber man sieht das auch an Alkibiades, Themistokles und jedem andern, der als echter Hellene gelten kann. Man darf bei Heraklit am wenigsten diese nationale Form des Ehrgeizes, einen verhängnisvollen Zug des griechischen Charakters, vergessen. Diese Eigenschaft, die in unsern Augen unedel erscheint, ist kein Streben, das dem Gegner Großmut und Anerkennung nicht versagt, sondern ein unbändiger verzehrender Neid, ja Haß gegen jeden, der glücklicher war, eine bis zur Selbstvernichtung gehende Unerträglichkeit des Bewußtseins, weniger als andere bewundert zu werden, das die Griechen mit ihrem lebhaften Empfinden zu einem tief unglücklichen Volk machte.

Für die Philosophie folgte daraus, daß es in der altern Zeit nie zu der Behandlung eines Problems durch eine Reihe von Denkern nacheinander gekommen ist. Hier beginnt jeder von vorn, vielleicht gerade vom Gegenteil aus, kaum einer hat die Entdeckungen der Vorgänger dankbar angenommen. Man weiß vielmehr die Unterschiede hervorzukehren, sogar zu übertreiben, und bis auf Aristoteles hat jeder der Großen die andern spöttisch genug[8] angesehen. Man darf von Heraklit als einem Griechen keine Anerkennung fremder Verdienste erwarten. Er neigt im Gegenteil zu schroffer Betonung der Gegensätze in Paradoxien und Antithesen, und wenn er einmal einen berühmten Namen nennt, geschieht es gewiß immer mit einer Bosheit dazu (Fr. 40, 57, 129; Plut. de Iside 48, 370). Die Besonderheit seines Schicksals steigerte in ihm das Selbstgefühl des ungewöhnlichen Menschen und führte zu einer Überspannung des Originalitätstriebes, zu einer grundsätzlichen Ablehnung aller fremden Meinungen, selbst zum Vermeiden geläufiger, ihm vielleicht trivial klingender Wendungen. Unter diesen Voraussetzungen ist die Genesis seiner Gedanken zu verfolgen und der Grad ihrer Abhängigkeit von gleichzeitigen Systemen zu bemessen.

2

Über den Adel s. Wachsmuth, Hell. Altert. I S. 347 ff.; J. Burckhardt, Griech. Kulturgesch. I S. 171 ff., IV S. 86 ff.

3

Fr. 24: Ἀρηιφάτους θεοὶ τιμῶσι καὶ ἄνθρωποι. Fr. 25: Μόροι γὰρ μέζονες μέζονας μοίρας λαγχάνουσι. Die Fragmentzählung geschieht nach H. Diels, Herakleitos von Ephesus, griech. u. deutsch, Berlin 1901.) [Diese Fragmentzählung ist auch in der Ausgabe der Vorsokratiker von H. Diels (5. Aufl., Berlin 1934, bearb. von W. Kranz, Text u. Übersetzung S. 150 ff.) beibehalten. Anm. des Verlags.]

4

Fr. 33: Νόμος καὶ βουλῇ πείθεσθαι ἑνός. Fr. 44: Μάχεσθαι χρὴ τὸν δῆμον ὑπὲρ τοῦ νόμου ὅκωσπερ τείχεος.

5

Ἄριστος (χαρίεις) bei Homer im Sinne von Adel II. VII, 159, 327, XIX, 193. Od. I, 245 und öfter. Ebenso bei Heraklit Fr. 13, 29, 49, 104. Οἱ πολλοί in Fr. 2, 17, 29.

6

Unter vielen andern Fr. 29: Αἱρεῦνται γὰρ ἓν ἀντὶ ἁνάντων οἱ ἄριστοι, κλέος ἀέναον θνητῶν, οἱ δὲ πολλοὶ κεκόρηνται ὅκωσπερ κτήνεα·Fr. 104: Δήμων ἀοιδοῖσι πείθονται καὶ διδασκάλωι χρείωνται ὁμίλωι...

7

Fr. 43: Ὕβριν χρὴ σβεννύναι μᾶλλον ἢ πυρκαΐην. Auch Fr. 47.

8

Er sah einmal spielenden Kindern zu, als Leute aus Ephesos vorüberkamen und stehen blieben. Er fuhr sie an: Was habt ihr hier zu gaffen? Ist dies nicht besser, als mit euch den Staat zu regieren? (Diog. Laert. IX, 3.)

9

Fr. 121. Auch Fr. 85: Θυμῶι μάχεσθαι χαλεπόν· ὃ γὰρ ἂν θέληι, ψυχῆς ὠνεῖται.

10

Aus dem starken Eindruck, den dieser Mann auf seine Zeitgenossen machte, entsprangen die bekannten Erzählungen wie jene, daß er seine Schrift im Artemistempel niedergelegt habe, damit sie erst der Nachwelt in die Hand käme (Diog. Laert. IX, 6).

11

Fr. 24, 25, 29.

Quelle:
Oswald Spengler: Reden und Aufsätze. München 1937, S. 5-9.
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