[266] Könnte man den Gedanken ebenso leicht gebieten wie der Zunge, so würde jeder Herrscher sicher regieren, und es gäbe keine gewaltsame Herrschaft; jeder Unterthan würde nach dem Willen der Gebieter leben und nur nach ihren Geboten bestimmen, was wahr oder falsch, gut oder schlecht, gerecht oder ungerecht sei. Allein es ist, wie ich schon im Beginn von Kap. 17 gesagt, unmöglich, dass die Seele sich ganz in der Herrschaft eines Anderen befinde, da Niemand sein natürliches Recht oder sein Vermögen, frei zu denken und über Alles zu urtheilen, auf einen Anderen übertragen kann, noch dazu gezwungen werden kann. Deshalb gilt die Herrschaft für gewaltthätig, welche sich gegen die Gedanken richtet, und die Staatsgewalt scheint den Unterthanen unrecht zu thun[266] und in ihr Recht einzugreifen, wenn sie Jedem vorschreiben will, was er als wahr annehmen, als falsch verwerfen, und durch welche Ansichten Jeder sich zur Gottesfurcht bestimmen lassen soll. Dies sind Rechte des Einzelnen, die Niemand, auch wenn er will, abtreten kann. Allerdings kann das Urtheil auf mannichfache und beinahe unglaubliche Weise eingenommen werden, so dass es, obgleich es nicht geradezu unter dem Befehl eines Anderen steht, doch von seinem Munde so abhängt, dass er der Herr desselben heissen könnte. Allein so viel auch die Kunst hier geleistet hat, so hat sie es doch niemals erreicht, dass nicht die Menschen immer Ueberfluss an eigenen Meinungen gehabt hätten, und dass nicht die Sinne ebenso verschieden wären wie die Geschmäcke. Selbst Moses, welcher nicht durch Lust, sondern durch göttliche Tugend den Sinn seines Volkes in hohem Maasse lenkte, da er für göttlich galt, der Alles nur nach Gottes Mittheilung sage und thue, konnte doch dem Gerede und den falschen Auslegungen des Volkes nicht entgehen. Noch viel weniger können es die anderen Monarchen, obgleich, wenn es wo möglich wäre, es in dem monarchischen Staat noch am ehesten und in dem demokratischen am wenigsten möglich sein würde, wo Alle oder ein grosser Theil des Volkes gemeinsam regiert, wie Jeder leicht einsehen wird.
So sehr daher auch die höchste Staatsgewalt als die gilt, welche das Recht zu Allem hat und das Recht und die Frömmigkeit auslegt, so konnten die Menschen doch nie verhindert werden, über Alles nach ihrem eigenen Sinn zu urtheilen und bald von dieser, bald von jener Leidenschaft erfasst zu werden. Allerdings kann die Staatsgewalt alle mit ihr nicht Uebereinstimmenden mit Recht für Feinde erklären; aber ich spreche hier nicht von ihrem Recht, sondern von dem Nützlichen; denn ich räume ein, dass sie nach dem Rechte höchst gewaltsam regieren und die Bürger wegen unbedeutender Dinge hinrichten lassen könne; allein Niemand wird behaupten, dass dies verständig sei; ja, da dies nicht ohne grosse Gefahr für den Staat möglich ist, so kann man selbst die Macht und folglich auch das Recht zu solchen und ähnlichen Dingen ihnen absprechen, da dies Recht der höchsten Staatsgewalt sich nach ihrer Macht bestimmt.[267]
Wenn also Niemand sich seiner Freiheit des Denkens und Urtheilens begeben kann, sondern nach dem Naturrecht der Herr seiner Gedanken ist, so folgt, dass in dem Staate es nur ein unglücklicher Versuch bleibt, wenn er die Menschen zwingen will, dass sie nur nach der Vorschrift der Staatsgewalt sprechen sollen, obgleich sie, verschiedener Ansicht sind, denn selbst die Klügsten, ganz abgesehen von der Menge, können nicht schweigen. Es ist dies ein gemeinsamer Fehler der Menschen, dass sie Anderen ihre Gedanken selbst da mittheilen, wo Schweigen nöthig wäre; deshalb wird diejenige Herrschaft die gewaltthätigste sein, wo dem Einzelnen die Freiheit, seine Gedanken auszusprechen und zu lehren, versagt ist, und jene ist eine gemässigte, wo Jeder diese Freiheit besitzt. Allein unzweifelhaft kann die Majestät ebenso durch Worte wie durch die That verletzt werden, und wenn es auch unmöglich ist, diese Freiheit den Unterthanen ganz zu nehmen, so würde es doch höchst schädlich sein, sie ihnen unbeschränkt einzuräumen; ich habe deshalb hier zu untersuchen, wie weit diese Freiheit unbeschadet des Friedens des Staates und des Rechtes der höchsten Staatsgewalt dem Einzelnen eingeräumt werden kann und soll, eine Untersuchung, die wesentlich meine Aufgabe bildet, wie ich im Beginn des 16. Kapitels bemerkt habe.
Aus den oben dargelegten Grundlagen des Staates folgt deutlich, dass sein Zweck nicht ist, zu herrschen, die Menschen in der Furcht zu erhalten und fremder Gewalt zu unterwerfen, sondern vielmehr den Einzelnen von der Furcht zu befreien, damit er so sicher als möglich lebe, d.h. so, dass er sein natürliches Recht zum Dasein ohne seinen und Anderer Schaden am besten sich erhalte. Ich sage, es ist nicht der Zweck des Staates, die Menschen aus vernünftigen Wesen zu wilden Thieren oder Automaten zu machen; sondern ihre Seele und ihr Körper soll in Sicherheit seine Verrichtungen vollziehen, sie sollen frei ihre Vernunft gebrauchen und weder mit Hass, Zorn oder List einander bekämpfen, noch in Unbilligkeit gegen einander verfahren. Der Zweck des Staates ist also die Freiheit.
Ferner ergab sich, dass die Bildung des Staates erforderte, dass die Macht, über Alles zu beschliessen, bei Allen oder Einigen oder bei Einem sei. Denn das Urtheil[268] der Menschen ist verschieden; ein Jeder meint Alles zu verstehen, und es ist unmöglich, dass Alle desselben Sinnes sind und übereinstimmend sprechen; deshalb war ein friedliches Leben nur möglich, wenn Jeder sich des Rechtes, nach seinem eigenen Gutfinden zu handeln, begab. Aber wenn dies geschah, so begab er sich doch nicht des Rechtes, zu denken und zu urtheilen; deshalb kann Niemand ohne Verletzung des Rechtes der Staatsgewalt gegen ihren Beschluss handeln, wohl aber denken, urtheilen und folglich auch sprechen, sobald es nur einfach gesagt oder gelehrt wird, und nur mit Vernunftgründen, aber nicht mit List, Zorn, Hass oder der Absicht, etwas in dem Staat durch das Ansehn seines eigenen Willens einzuführen, geschieht. Wenn z.B. Jemand von einem Gesetze zeigt, dass es der gesunden Vernunft widerspreche, und deshalb dessen Abschaffung fordert, so macht er sich als guter Bürger um den Staat verdient, sofern er nur seine Ansicht dem Urtheil der Staatsgewalt unterwirft, die allein die Gesetze zu geben und aufzuheben hat, und wenn er einstweilen nichts gegen das Gebot dieses Gesetzes thut. Geschieht es aber, um die Obrigkeit der Ungerechtigkeit zu beschuldigen und bei dem Volke verhasst zu machen, oder will er das Gesetz gegen den Willen der Obrigkeit mit Gewalt beseitigen, so ist er ein Unruhestifter und Aufrührer.
Damit ergiebt sich, wie ein Jeder, unbeschadet des Rechts und der Macht der Staatsgewalt, d.h. unbeschadet des Friedens des Staates, seine Gedanken äussern und lehren kann; nämlich wenn er den Beschluss über die Ausführung ihr überlässt und nichts dagegen thut, sollte er auch dabei oft gegen das, was er klar für gut erkannt und hält, handeln müssen. Dies kann unbeschadet der Gerechtigkeit und Frömmigkeit geschehen und soll geschehen, wenn er sich als ein gerechter und frommer Mann erweisen will. Denn die Gerechtigkeit hängt, wie ich früher dargelegt, nur von dem Beschluss der Staatsgewalt ab; deshalb kann nur Der, wer nach ihren Geboten lebt, gerecht sein. Die Frömmigkeit ist aber, wie ich in dem vorgehenden Kapitel gezeigt, die Summe Alles dessen, was für den Frieden und die Ruhe des Staates gethan wird, und diese kann nicht erhalten bleiben, wenn Jeder nach seinem Belieben leben kann; deshalb ist es auch[269] gottlos, nach seiner Ansicht etwas gegen die Beschlüsse der Staatsgewalt, welcher er untergeben ist, zu thun; denn wäre dies Jedem erlaubt, so folgte daraus nothwendig der Untergang des Staates. Vielmehr kann er nicht gegen den Willen und das Gebot der eignen Vernunft handeln, so lange er nach den Geboten der Staatsgewalt handelt; denn er hat in Anlass seiner eignen Vernunft beschlossen, sein Recht, nach seinem eigenen Willen zu leben, auf sie zu übertragen.
Dies kann ich auch nun durch die Praxis bestätigen. So geschieht selten in den Versammlungen der höchsten und der niederen Staatsgewalten etwas in Folge der einstimmigen Meinung aller Mitglieder und doch nach dem gemeinsamen Beschlusse Aller, sowohl Derer, die dafür, wie Derer, die dagegen gestimmt haben.
Ich kehre jedoch zu meiner Aufgabe zurück; wir haben aus der Grundlage des Staates entnommen, wie Jeder sich seiner Freiheit des Urtheils unbeschadet des Rechts der Staatsgewalt bedienen kann. Daraus kann man ebenso leicht bestimmen, welche Meinungen in einem Staate als aufrührerisch gelten können; nämlich nur die, welche mit ihrer Aufstellung den Vertrag beseitigen, wodurch Jeder sich des Rechts, nach eigenem Belieben zu handeln, begeben hat. Behauptet z.B. Jemand, die Staatsgewalt sei nicht selbstständig, oder Niemand brauche seine Verträge zu halten, oder Jeder müsse nach seinem Belieben leben können, und Aehnliches der Art, welches dem erwähnten Vertrag geradezu widerspricht, so ist er ein Aufrührer nicht sowohl wegen dieses Urtheils und Meinung, sondern wegen der That, welche solche Urtheile enthalten, nämlich weil er schon dadurch, dass er solche Gedanken hat, die der Staatsgewalt stillschweigend oder ausdrücklich versprochene Treue bricht. Dagegen sind andere Meinungen, welche keine That, d.h. keinen Vertragsbruch, keine Rache und keinen Zorn einschliessen, nicht aufrührerisch; höchstens nur in einem Staate, der irgendwo verdorben ist, wo nämlich die Abergläubischen und Ehrgeizigen, welche die Freien nicht ertragen können, einen solchen Ruf erlangt haben, dass ihr Ansehn bei der Menge mehr als das der Staatsgewalt gilt. Ich bestreite jedoch nicht, dass es noch einzelne Ansichten giebt, die, obgleich sie sich anscheinend nur auf das Wahre oder Unwahre[270] beziehen, doch mit Unrecht aufgestellt oder verbreitet werden. Im Kap. 15 habe ich auch dies angegeben, aber so, dass die Vernunft dabei doch frei blieb.
Bedenkt man endlich, dass die Treue gegen den Staat und gegen Gott nur aus den Werken erkannt werden kann, nämlich aus der Liebe zu dem Nächsten, so kann unzweifelhaft ein guter Staat Jedem dieselbe Freiheit des Philosophirens wie des Glaubens bewilligen. Allerdings können daraus einzelne Unannehmlichkeiten entstehen; allein wo gab es je eine so weise Einrichtung, dass kein Nachtheil daraus entstehen konnte? Wer Alles durch Gesetze regeln will, wird die Fehler eher hervorrufen als verbessern. Was man nicht hindern kann, muss man zugestehen, selbst wenn daraus oft Schaden entsteht. Denn wie viel Uebel entspringen nicht aus der Schwelgerei, dem Neid, dem Geiz, der Trunkenheit und Aehnlichem? Allein man erträgt sie, weil man sie durch die Macht der Gesetze nicht hindern kann, obgleich es wirklich Fehler sind; deshalb kann um so viel mehr die Freiheit des Urtheils zugestanden werden, die in Wahrheit eine Tugend ist und nicht unterdrückt werden kann.
Dazu kommt, dass alle aus ihr entstehenden Nachtheile durch das Ansehn der Obrigkeit, wie ich gleich zeigen werde, vermieden werden können; wobei ich nicht erwähnen mag, dass diese Freiheit zur Beförderung der Wissenschaften und Künste unentbehrlich ist; sie können nur von denen mit glücklichem Erfolge gepflegt werden, welche ein freies und nicht voreingenommenes Urtheil haben.
Aber man setze, dass diese Freiheit unterdrückt und die Menschen so geknebelt werden können, dass sie nur nach Vorschrift der höchsten Staatsgewalt einen Laut von sich geben, so wird es doch nie geschehen, dass sie auch nur das denken, was diese will, und folglich würden die Menschen täglich anders reden, wie sie denken, die Treue, welche dem Staate so nöthig ist, würde untergraben; eine abscheuliche Schmeichelei und Untreue würde dann gehegt, und damit der Betrug und der Verderb aller guten Künste. Allein daran ist nicht zu denken, dass Alle so sprechen, wie es vorgeschrieben ist; vielmehr werden die Menschen, je mehr ihnen die Freiheit zu sprechen entzogen wird, desto hartnäckiger darauf bestehen, und zwar nicht die[271] Geizigen, die Schmeichler und andere geistigen Schwächlinge, deren höchstes Glück blos darin besteht, dass sie das Geld im Kasten zählen und den Bauch voll haben, sondern Die, welche eine gute Erziehung, ein rechtlicher Charakter und die Tugend der Freiheit zugewendet hat. Die Menschen können ihrer Natur nach nichts weniger ertragen, als dass Meinungen, die sie für wahr halten, als Verbrechen gelten sollen, und dass ihnen als Unrecht das angerechnet werden solle, was sie zur Frömmigkeit gegen Gott und die Menschen bewegt. Dann kommt es, dass sie die Gesetze verwünschen und gegen die Obrigkeit sich vergehen und es nicht für schlecht, sondern für recht halten, wenn sie deshalb in Aufruhr sich erheben und jede böse That versuchen. Ist die menschliche Natur so beschaffen, so treffen die Gesetze gegen Meinungen nicht die Schlechten, sondern die Freisinnigen; sie halten nicht die Böswilligen im Zaum, sondern erbittern nur die Ehrlichen, und sie können nur mit grosser Gefahr für den Staat aufrecht erhalten werden. Auch sind solche Gesetze überhaupt ohne Nutzen; denn wer die von den Gesetzen verbotenen Ansichten für wahr hält, kann dem Gesetz nicht gehorchen, und wer sie für falsch hält, nimmt die sie verbietenden Gesetze wie ein Vorrecht und pocht so darauf, dass die Obrigkeit sie später, selbst wenn sie will, nicht wieder aufheben kann. Dazu kommt das oben in Kap. 18 aus der jüdischen Geschichte unter No. 2 Abgeleitete. Wie viel Spaltungen sind endlich daraus in der Kirche entstanden? Welche Streitigkeiten der Gelehrten hat nicht die Obrigkeit durch Gesetze beenden wollen? Hofften die Menschen nicht, Gesetz und Obrigkeit auf ihre Seite zu ziehen, über ihre Gegner unter dem Beifall der Menge zu triumphiren und Ehre zu gewinnen, so würden sie nie mit so ungerechtem Eifer streiten, und keine solche Wuth würde ihr Gemüth ergreifen.
Dies lehrt nicht blos die Vernunft, sondern auch die Erfahrung in täglichen Beispielen. Solche Gesetze, welche Jedem vorschreiben, was er glauben soll, und umgekehrt, gegen diese oder jene Ansicht etwas zu sagen oder zu schreiben verbieten, sind oft gemacht worden, um dem Zorn Derer zu fröhnen oder vielmehr nachzugeben, die keinen freien Sinn ertragen können und durch Missbrauch[272] ihrer Amtsgewalt die Ansicht der aufrührerischen Menge leicht in Wuth verwandeln und gegen beliebige Personen aufhetzen können. Aber wäre es nicht heilsamer, den Zorn und der Wuth der Menge Einhalt zu thun, als unnütze Gesetze zu geben? Gesetze, die nur von Denen verletzt werden können, welche die Tugend und die Künste lieben und den Staat so in Verlegenheit bringen, dass er freie Männer nicht mehr ertragen kann? Welches grössere Uebel giebt es für einen Staat, als dass rechtliche Männer, welche anders denken und sich nicht verstellen können, wie Verbrecher in die Verbannung geschickt werden? Was ist verderblicher, als Menschen nicht wegen eines Verbrechens oder einer Unthat, sondern wegen ihres freien Sinnes für Feinde zu halten und zum Tode zu führen, so dass die Richtstätte, der Schrecken der Schlechten, sich in das schönste Theater verwandelt, wo ein Beispiel höchster Duldung und Tugend zur Schande der Majestät des Staates dargeboten wird. Denn die sich als ehrliche Leute kennen, fürchten den Tod nicht, wie Verbrecher, und bitten nicht um Gnade. Ihr Gemüth ist nicht durch die Reue über eine schlechte That beängstigt, und sie halten es für recht und ruhmvoll und nicht für ein Verbrechen, wenn sie für die gute Sache und die Freiheit sterben. Welches Beispiel soll also mit dem Tode Solcher gegeben werden, deren Sache die Trägen und Schwachen nicht verstehen, die Aufrührerischen hassen und die Ehrlichen lieben? Es kann nur ein Beispiel zur Nachahmung oder mindestens zur Bewunderung daraus entnommen werden.
Damit also nicht die blosse Zustimmung, sondern die Treue geschützt bleibe, und die Staatsgewalt den Staat in gutem Stand erhalte und nicht genöthigt sei, den Aufrührern nachzugeben, muss die Freiheit des Urtheils zugestanden, und die Menschen müssen so regiert werden, dass sie trotzdem, dass sie unverhohlen verschiedener und entgegengesetzter Ansicht sind, doch friedlich mit einander leben. Unzweifelhaft ist dies die beste und mit den wenigsten Nachtheilen verknüpfte Art der Regierung, denn sie stimmt am besten mit der Natur des Menschen überein. Denn in dem demokratischen Staat, welcher sich dem natürlichen Zustand am meisten nähert, sind Alle übereingekommen, nach gemeinsamem Beschluss zu [273] handeln, aber nicht zu urtheilen und zu denken; d.h. weil alle Menschen nicht gleichen Sinnes sein können, ist man übereingekommen, dass das, was die Mehrheit der Stimmen für sich habe, die Kraft des Beschlusses haben solle, mit Vorbehalt, es wieder aufzuheben, wenn Besseres sich zeigt. Je weniger daher dem Menschen die Freiheit des Urtheils gestattet ist, desto mehr entfernt er sich von dem natürlichen Zustand, und desto mehr wird er durch Gewalt regiert.
Auch sind Beispiele genug vorhanden, und ich brauche nicht weit danach zu suchen, dass aus dieser Freiheit keine solchen Nachtheile erwachsen, welche die Staatsgewalt nicht beseitigen konnte, und dass sie genügt, damit die Menschen, wenn sie auch offen zu entgegengesetzten Meinungen sich bekennen, doch von gegenseitiger Verletzung abgehalten werden können. Die Stadt Amsterdam giebt ein solches Beispiel, welche zu ihrem grossen Wachsthum und zur Bewunderung aller Völker die Früchte dieser Freiheit geniesst. Denn in diesem blühenden Staat und vortrefflichen Stadt leben alle Völker und Sekten in höchster Eintracht, und will man da sein Vermögen Jemand anvertrauen, so fragt man nur, ob er reich oder arm sei, und ob er redlich oder hinterlistig zu handeln pflege; im Uebrigen kümmert sie die Religion und Sekte nicht, weil vor dem Richter damit nichts gerechtfertigt oder verurtheilt werden kann, und selbst die Anhänger der verhasstesten Sekten werden, wenn sie nur Niemand verletzen, Jedem das Seinige geben und ehrlich leben, durch das Ansehn und die Hülfe der Obrigkeit geschützt. Als dagegen vordem der Streit der Demonstranten und Contra-Demonstranten über die Religion von den Staatsmännern und den Provinzialständen aufgenommen wurde, wurde zuletzt eine Religionsspaltung daraus, und viele Fälle bewiesen damals, dass Religionsgesetze, welche den Streit beilegen wollen, die Menschen mehr erbittern als bessern. Andere entnehmen daraus eine schrankenlose Freiheit, und es zeigt sich, dass die Spaltungen nicht aus dem Streben nach Wahrheit, als der Quelle der Milde und Sanftmuth, sondern aus der Herrschsucht entspringen. Deshalb sind offenbar nur Diejenigen abtrünnig, welche die Schriften Anderer verdammen und den ausgelassenen Pöbel gegen die Schriftsteller zur Gewalt[274] aufhetzen, aber nicht diese Schriftsteller, welche meist nur für die Gelehrten schreiben und nur die Vernunft zur Hülfe haben. Deshalb sind in einem Staate Diejenigen die wahren Unruhestifter, welche das freie Urtheil, was sich nicht unterdrücken lässt, doch beseitigen wollen.
Damit habe ich gezeigt, 1) dass den Menschen die Freiheit, das, was sie denken, zu sagen, nicht genommen werden kann; 2) dass diese Freiheit ohne Schaden für das Recht und Ansehn der Staatsgewalt Jedem zugestanden und von ihm geübt werden kann, sobald er sich nur hütet, damit etwas als Recht in den Staat einzuführen oder etwas gegen die geltenden Gesetze zu thun; 3) dass Jedweder diese Freiheit haben kann ohne Schaden für den Frieden des Staates, und ohne dass ein Nachtheil entstände, dem man nicht leicht entgegentreten könnte; 4) dass Jeder diese Freiheit auch unbeschadet der Frömmigkeit haben kann; 5) dass Gesetze, welche über spekulative Dinge erlassen werden, unnütz sind; 6) endlich habe ich gezeigt, dass diese Freiheit nicht blos ohne Schaden für den Frieden des Staates, die Frömmigkeit. und das Recht der Staatsgewalt bewilligt werden kann, sondern dass dies auch zur Erhaltung derselben geschehen muss. Denn wo man dem entgegen dies den Menschen entziehen will, und wo der Streitenden Meinung, aber nicht die Absicht, die allein strafbar ist, vor Gericht gestellt wird, da wird an rechtlichen Leuten ein Beispiel aufgestellt, was vielmehr für ein Märtyrerthum gilt und die Anderen mehr erbittert und mehr zum Mitleiden stimmt, als von der Rache abschreckt. Ferner gehen dabei die guten Kräfte und der gute Glaube zu Grunde; die Schmeichler und Treulosen werden gepflegt, und die Gegner triumphiren, weil man ihrem Zorne nachgiebt, und weil sie die Inhaber der Staatsgewalt zu Anhängern ihrer Meinung gemacht haben, als deren Ausleger sie gelten. Deshalb wagen sie deren Ansehn und Recht sich anzumaassen und scheuen sich nicht, zu behaupten, dass Gott sie unmittelbar auserwählt habe, und dass ihre Beschlüsse göttliche, aber die der Staatsgewalt nur menschliche seien und deshalb den göttlichen, d.h. ihren eigenen, weichen müssen. Jedermann sieht ein, dass dies dem Wohl des Staates geradezu widerspricht, und deshalb schliesse ich, wie oben in[275] Kap. 18, damit, dass für den Staat nichts heilsamer ist, als wenn die Frömmigkeit und Religion nur in die Ausübung der Liebe und Billigkeit gesetzt wird und das Recht der Staatsgewalt in geistlichen wie in weltlichen Dingen nur für die Handlungen gilt, und im Uebrigen Jedem gestattet ist, zu denken, was er will, und zu sagen, was er denkt.
Damit habe ich den in dieser Abhandlung mir gesetzten Zweck erfüllt. Ich habe nur noch ausdrücklich zu erklären, dass ich Alles darin mit Freuden der Prüfung und dem Urtheil der höchsten Staatsgewalt meines Vaterlandes unterwerfe. Sollte etwas darin den Gesetzen des Landes oder dem allgemeinen Wohl nach ihrem Urtheil schaden, so will ich es nicht gesagt haben. Ich weiss, dass ich ein Mensch bin und irren kann; aber ich habe mich emsig bemüht, nicht in den Irrthum zu gerathen und nur das zu schreiben, was den Gesetzen meines Vaterlandes, der Frömmigkeit und den guten Sitten entspricht.
Ende.[276]
Buchempfehlung
Der Waldbrunnen »Ich habe zu zwei verschiedenen Malen ein Menschenbild gesehen, von dem ich jedes Mal glaubte, es sei das schönste, was es auf Erden gibt«, beginnt der Erzähler. Das erste Male war es seine Frau, beim zweiten Mal ein hübsches 17-jähriges Romamädchen auf einer Reise. Dann kommt aber alles ganz anders. Der Kuß von Sentze Rupert empfindet die ihm von seinem Vater als Frau vorgeschlagene Hiltiburg als kalt und hochmütig und verweigert die Eheschließung. Am Vorabend seines darauffolgenden Abschieds in den Krieg küsst ihn in der Dunkelheit eine Unbekannte, die er nicht vergessen kann. Wer ist die Schöne? Wird er sie wiedersehen?
58 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro