Fünftes Kapitel
Weshalb die gottesdienstlichen Gebräuche eingeführt worden, und über den Glauben an die Geschichten; weshalb und für wen derselbe nöthig ist.

[75] Im vorigen Kapitel habe ich gezeigt, dass das göttliche Gesetz, was die Menschen wahrhaft selig macht und sie das wahre Leben lehrt, allen Menschen gemein ist, und ich habe es aus der menschlichen Natur so abgeleitet, dass anzunehmen, es sei dem menschlichen Geiste angeboren und gleichsam eingeschrieben. Da nun die Gebräuche, wenigstens die in dem Alten Testament, blos für die Juden eingerichtet und deren Staate so angepasst waren, dass sie grösstentheils nur von der ganzen Gemeinschaft, aber nicht von dem Einzelnen verrichtet werden konnten, so ist gewiss, dass sie nicht zu dem göttlichen Gesetz gehören und deshalb auch zur Seligkeit und Tugend nicht beitragen; vielmehr betreffen sie nur die Erwählung der Juden, d.h. nach dem im dritten Kapitel Ausgeführten, nur das zeitliche Glück des Körpers und die Ruhe des Staats, und sie konnten deshalb nur während des Bestandes ihres Staates von Nutzen sein. Wenn sie im Alten Testamente auf das Gesetz Gottes bezogen werden, so geschah es nur, weil sie durch[75] die Offenbarung oder auf offenbarten Grundlagen eingerichtet waren.

Indess wollen selbst die kräftigsten Gründe bei der Masse der Theologen wenig sagen; ich möchte deshalb diese Sätze auch durch das Ansehn der Bibel bekräftigen und dann zu näherer Deutlichkeit zeigen, weshalb und wie diese Gebräuche zur Befestigung und Erhaltung des jüdischen Reiches beigetragen haben. – Aus Esaias ergiebt sich ganz klar, dass das göttliche Gesetz an sich jenes allgemeine Gesetz bezeichnet, was in dem wahren Lebenswandel und nicht in Gebräuchen besteht. Denn I. 10 ruft der Prophet seinem Volk, dass es das göttliche Gesetz von ihm vernehme. Daraus sondert er vorher alle Arten von Opfer und alle Festtage aus und lehrt erst dann das Gesetz (man sehe v. 16, 17) und fasst dasselbe in wenigen Worten zusammen, nämlich in die Reinigung der Seele, in die Hebung und Gewohnheit der Tugend oder der guten Handlungen und endlich in die Unterstützung der Armen. Ein ebenso klarer Beleg ist die Stelle Psalm. XL. 7, 9, wo der Psalmist Gott anredet: »Du hast kein Opfer und Geschenk gewollt4, Du hast meine Ohren durchstochen; hast keine Brandopfer und kein Sühnopfer für meine Sünden verlangt; Deinen Willen, mein Gott, habe ich vollführen wollen, denn Dein Geist ist in meinen Eingeweiden.« Er nennt also nur das Gottes Gesetz, was den Eingeweiden oder der Seele eingeschrieben ist, und trennt davon die Gebräuche; denn diese sind nur vermöge der Einrichtung, aber nicht von Natur gut und deshalb auch der Seele nicht eingeschrieben.

Ausser diesen Stellen sind noch andere in der Bibel, die dasselbe bezeugen; doch werden diese zwei genügen. Dass aber die Gebräuche für die Seligkeit Nichts helfen, sondern nur auf das zeitliche Glück des Staats sich beziehen, erhellt aus der Bibel selbst, da sie für diese Gebräuche nur Vortheile und Annehmlichkeiten des Körpers verheisst, die Glückseligkeit aber nur für das allgemeine göttliche Gesetz. In den nach Moses benannten fünf Büchern wird, wie erwähnt, nur dieses zeitliche Glück[76] verheissen, d.h. Ehren, Ruhm, Siege, Reichthümer, Genüsse und Gesundheit; und wenn auch diese Bücher neben den Gebräuchen viel Moralisches enthalten, so ist es doch nicht in der Form von moralischen, allen Menschen gemeinsamen Lehren darin enthalten, sondern nur als Befehle, die der Fassungskraft und dem Verstande des jüdischen Volkes vorzugsweise angepasst sind, und die deshalb auch nur den Nutzen ihres Reiches bezwecken. So lehrt z.B. Moses die Juden nicht als Lehrer oder Prophet, dass sie nicht tödten und nicht stehlen sollen, sondern er verbietet es als Gesetzgeber und Fürst; er stützt die Lehren nicht auf die Vernunft, sondern fügt seinen Befehlen Strafen bei, die, wie die Erfahrung lehrt, nach dem Charakter der Völker wechseln können und müssen. So hat er auch bei dem Verbot des Ehebruchs nur das Wohl des Staates und Reiches im Auge; denn hätte er einen moralischen Satz ihnen lehren wollen, der nicht blos den Nutzen des Staates, sondern die Ruhe der Seele und die wahre Seligkeit des Einzelnen bezweckte, so würde er nicht blos die äussere Handlung verdammen, sondern auch die innere Gesinnung, wie Christus that, der nur allgemeine Lehren gab (Matth. V. 28), und deshalb verspricht auch Christus einen geistigen Lohn und nicht, wie Moses, einen körperlichen. Denn Christus ist, wie gesagt, nicht zur Erhaltung des Reiches und zur Einsetzung von Gesetzen, sondern nur zur Lehre des allgemeinen Gesetzes gesandt worden und daraus erhellt, dass Christus keineswegs das Gesetz Mosis aufgehoben hat, da Christus überhaupt keine neuen Gesetze für den Staat geben wollte, sondern nur moralische Lehren, und diese von den Gesetzen des Staates sondern wollte, vorzüglich um der Unwissenheit der Pharisäer willen, welche meinten, dass Derjenige selig lebe, welcher das Recht des Staates oder das Gesetz Mosis vertheidige; obgleich doch dies nur, wie erwähnt, den Staat im Auge hatte und den Juden nicht zur Belehrung, sondern zum Zwange dienen sollte.

Ich gehe jedoch auf meinen Gegenstand zurück und will noch weitere Stellen der Bibel beibringen, welche für die Gebräuche nur körperliche Vortheile und nur für das allgemeine göttliche Gesetz die Seligkeit verheissen. Unter den Propheten sagt dies Niemand deutlicher wie[77] Esaias; denn nachdem er in Kap. 58 die Heuchelei verdammt hat, empfiehlt er die Freigebigkeit und Liebe zu sich und den Nächsten und verspricht dafür: »Dann wird Dein Licht wie die Morgenröthe hervorbrechen, und Deine Gesundheit wird fortblühen, und Deine Gerechtigkeit wird vor Dir wandeln, und der Ruhm Gottes wird Dich5 vergammeln u.s.w.« Dann empfiehlt er auch den Sabbath, für dessen fleissige Beobachtung er verspricht: »Dann wirst Du Dich mit Gott ergötzen,6 und ich werde Dich reiten7 lassen über die Höhen der Erde und ich werde machen, dass Du die Erbschaft Jacob's Deines Vaters issest, wie des Jehovah Mund gesagt hat.« Hier sieht man, wie der Prophet für die Freiheit und Liebe eine gesunde Seele in einem gesunden Körper und Gottes Ruhm auch nach dem Tode verspricht; aber für die Gebräuche nur die Sicherheit des Reiches, die Wohlfahrt und das Glück des Körpers. – In den Psalmen XV. und XXIV. werden die Gebräuche nicht erwähnt, sondern nur moralische Lehren; denn sie handeln nur von der Seligkeit; nur sie wird vorgestellt, wenn auch nur gleichnissweise; denn offenbar werden da unter dem Berge Gottes, unter seinem Zelte und deren Bewohnung der Seligkeit Seelenruhe, aber nicht der Berg zu Jerusalem und die Laubhütte Mosis gemeint; denn diese Orte wurden von Niemand bewohnt und nur von den zu Stamm Levi Angehörigen verwaltet. – Ferner verheissen alle im vorigen Kapitel beigebrachten Aussprüche Salomo's nur für die Pflege der Einsicht und Weisheit die wahre Seligkeit, nämlich, dass nur daraus die Furcht Gottes verstanden und die Erkenntniss Gottes erlangt werde. Dass die Juden nach Zerstörung des Reiches nicht mehr an die Beobachtung der Gebräuche gebunden sind, erhellt aus Jeremias, der bei seinem Gesicht von der nahe bevorstehenden Zerstörung der Stadt sagt: »Gott liebe nur Die,[78] welche wissen und einsehen, dass er selbst die Barmherzigkeit, das Gericht und die Gerechtigkeit übt. Deshalb werden in Zukunft nur Die des Lobes würdig erachtet werden, die dieses wissen werden« (man sehe IX. 23), d.h. Gott verlange nach der Zerstörung der Stadt nichts Besonderes von den Juden und in Zukunft nur die Beobachtung des natürlichen Gesetzes, wie es für alle Sterbliche gelte. Das Neue Testament bestätigt dies; denn darin werden, wie gesagt, nur moralische Kegeln gegeben, und nur dafür wird das Himmelreich verheissen; dagegen beseitigten die Apostel die Gebräuche, nachdem Sie das Evangelium auch anderen Völkern zu lehren begannen, deren Staatsrecht ein anderes war. Wenn die Pharisäer nach dem Untergange des Reiches diese Gebräuche, wenigstens zum grösseren Theil, beibehielten, so geschah es mehr aus Gegnerschaft gegen die Christen, als um Gott zu gefallen. Denn nach der ersten Verwüstung der Stadt, als sie nach Babylon in die Gefangenschaft kamen, vernachlässigten sie, da sie damals, so viel ich weiss, noch nicht in Sekten gespalten waren, sofort die Gebräuche, ja sagten dem Gesetze Mosis ganz Lebewohl und übergaben das väterliche Recht, als überflüssig, der Vergessenheit und begannen sich mit den übrigen Völkern zu vermischen, wie aus Hezra und Nehemia genügend erhellt. Deshalb sind die Juden unzweifelhaft nach Auflösung ihres Reiches nicht mehr so an das Gesetz Mosis gebunden, wie vor Beginn ihrer Gemeinschaft und ihres Staates. Denn so lange sie unter anderen Völkern vor dem Auszug aus Aegypten lebten, hatten sie keine besonderen Gesetze und waren nur an das Naturrecht und unzweifelhaft an das Recht des Staates, in dem sie lebten, gebunden, soweit es dem göttlichen Gesetze nicht widersprach, und wenn die Erzväter Gott Opfer gebracht haben, so ist es, glaube ich, geschehen, weil sie ihren Geist, der von Kindheit ab an die Opfer gewöhnt war, mehr zur Andacht anregen wollten. Denn alle Völker hatten seit der Zeit Enoch's sich an die Opfer gewöhnt und fanden darin die meiste Anregung zur Andacht. Deshalb opferten die Erzväter nicht auf Geheiss eines göttlichen Gesetzes oder in Folge der Belehrung über die allgemeinen Grundlagen des göttlichen Gesetzes, sondern blos in Folge der Sitte der damaligen Zeit, und wenn es auf[79] Jemandes Befehl geschah, so war dies nur der des Rechts des Staates, in dem sie lebten, und das sie auch verpflichtete, wie ich hier und im dritten Kapitel bei Gelegenheit des Melchisedek bemerkt habe.

Hiernach glaube ich meine Ansicht mit dem Ansehn der Bibel unterstützt zu haben, und ich habe nur noch zu zeigen, wie und weshalb diese Gebräuche zur Bewahrung und Erhaltung des jüdischen Reiches beitrugen. Dies kann mit Wenigem geschehen und aus allgemeinen Gründen dargelegt werden. Die Gemeinschaft ist nicht blos gut zum Schutz gegen die Feinde, sondern zur Beschaffung vieler Dinge, und selbst nothwendig; denn wollten die Menschen einander nicht gegenseitig helfen, so wurde ihnen das Geschick und die Zeit fehlen, um sich, soweit es möglich ist, zu ernähren und zu erhalten. Denn Jeder ist nicht zu Jedwedem geschickt, und Niemand vermag Alles das sich zu verschaffen, dessen er nöthig bedarf. Die Kräfte und die Zeit, sage ich, würden Jedem fehlen, wenn er für sich allein pflügen, säen, ernten, mahlen, kochen, weben, nähen und vieles Andere zum Leben Erforderliche machen wollte, ohne der Künste und Wissenschaften zu gedenken, die zur Vervollkommnung der menschlichen Natur und zur Seligkeit höchst nöthig sind. Man sieht, dass Die, welche roh, ohne staatliche Verbindung leben, ein elendes und beinah thierisches Leben führen und selbst das Wenige, Elende und Rohe, welches sie besitzen, ohne gegenseitige Hülfe, sei sie, welche sie wolle, nicht erlangen.

Wären daher die Menschen von Natur so angewöhnt, dass sie nur das wahrhaft Vernünftige verlangten, so brauchte die Gesellschaft keine Gesetze, sondern es genügte die Unterweisung der Menschen in den moralischen Lehren, um freiwillig und von selbst das wahrhaft Nützliche zu thun. Allein die menschliche Natur ist ganz anders beschaffen; denn Alle suchen zwar ihren Vortheil, aber nicht nach Vorschrift der gesunden Vernunft, sondern sie begehren in der Regel nur die Dinge im Antrieb von Lüsten und Affekten der Seele, ohne Rücksicht auf die Zukunft und andere Dinge; und sie entscheiden sich danach über den Nutzen. Deshalb kann keine Gesellschaft ohne oberste Gewalt und Macht und folglich nicht ohne Gesetze bestehen, welche die Begierden der Menschen[80] und die zügellose Hast massigen und hemmen. Indess lässt sich die menschliche Natur nicht unbedingt zwingen, und wie der Tragiker Seneca sagt, die gewaltsame Herrschaft dauert nicht lange, wohl aber die gemässigte. Denn so lange die Menschen blos aus Furcht handeln, thun sie eigentlich nur das, was sie verabscheuen, und nehmen auf die Nützlichkeit und Nothwendigkeit ihres Thuns keine Rücksicht, sondern sorgen nur, dass sie nicht in die Todes- oder in eine andere Strafe verfallen. Ja, sie müssen sich an dem Uebel und Schaden des Herrschers erfreuen, selbst wenn sie auch grossen Nachtheil davon haben, und sie wünschen ihm alle Uebel und fügen sie ihm zu, soweit sie vermögen. Auch ertragen die Menschen nichts weniger, als die Knechtschaft unter Ihresgleichen und die Herrschaft derselben. Deshalb ist nichts schwerer, als den Menschen die einmal bewilligte Freiheit wieder zu nehmen.

Daraus folgt, 1) dass die ganze Gemeinschaft, wo möglich gemeinsam, die Herrschaft führen muss, damit Jeder so sich selbst und Niemand Seinesgleichen gehorche; haben aber Einige oder Einer die Herrschaft, so muss Dieser etwas über die gemeine Menschennatur zum Voraus haben oder wenigstens mit allen Kräften dies der Menge einzureden versuchen. 2) müssen die Gesetze in jedem Staate so eingerichtet werden, dass die Menschen weniger durch Furcht, als durch die Hoffnung auf einen vorzüglich gewünschten Vortheil in Zucht gehalten werden; denn dann wird Jeder gern das ihm Obliegende thun. Weil 3) der Gehorsam darin besteht, dass die Befehle blos vermöge der Autorität des Befehlenden befolgt werden, so folgt, dass derselbe in einer Gemeinschaft, wo die Herrschaft bei Allen ist, und die Gesetze nach allgemeiner Uebereinstimmung erlassen werden, keinen Platz hat, und dass in einem solchen Staate, mögen die Gesetze vermehrt oder vermindert werden, das Volk dennoch gleich frei verbleibt, weil es nicht nach dem Ansehn eines Andern, sondern nach seiner eignen Uebereinstimmung handelt. Das Gegentheil findet statt, wo Einer allein die Herrschaft unbeschränkt führt; da vollziehen Alle auf Grund der Autorität des Einzigen die Gebote des Reiches. Sind sie daher von Anfang ab nicht so erzogen, dass sie nur auf den Mund des Herrschers sehen, so wird er schwer[81] die nöthigen neuen Gesetze geben und dem Volke die einmal zugestandene Freiheit nehmen können.

Nach diesen allgemeinen Betrachtungen komme ich auf den jüdischen Staat zurück. Als die Juden aus Aegypten auszogen, waren sie dem Rechte keines andern Volkes mehr unterworfen; sie konnten daher nach Belieben neue Gesetze erlassen und neue Rechte und einen Staat ordnen, wo sie wollten, und wo sie das Land in Besitz nehmen wollten. Allein sie waren zu Nichts weniger geeignet, als sich weise Gesetze zu geben und die Herrschaft selbst gemeinsam zu behalten; denn ihr Geist war ungebildet, und sie waren durch die harte Sklaverei verderbt. Die Herrschaft musste deshalb bei Einem bleiben, der die Anderen befehligte, sie mit Gewalt zwang, Gesetze gab und sie später auslegte. Diese Herrschaft konnte Moses leicht sich erhalten, da er in göttlicher Kraft die Anderen Übertraf und das Volk Überzeugte, dass er solche besass und dies durch viele Zeugnisse bewies (Exod. XIV. letzter Vers; XIX. 9). Dieser gab also vermöge der göttlichen Kraft, die ihn mächtig erfüllte, dem Volke Gesetze und sorgte dabei, dass das Volk nicht sowohl aus Furcht, sondern freiwillig denselben gehorchte. Zweierlei nöthigte ihn besonders hierzu, nämlich der widerspenstige Geist des Volkes (der sich mit Gewalt nicht zwingen liess) und der bevorstehende Krieg. Damit dieser glücklich geführt würde, mussten die Soldaten mehr ermahnt, als mit Strafen und Drohungen erschreckt werden; denn dann beeifert sich Jeder, durch Tugend und Geistesgrösse zu glänzen, und denkt nicht blos, wie er die Strafe vermeide. Aus diesem Gründe setzte Moses mit Kraft und auf göttlichen Befehl die Religion in seinem Staate ein, damit das Volk seine Pflicht nicht sowohl aus Furcht, sondern aus Ergebenheit erfülle. Dann verpflichtete er es durch Wohlthaten und versprach ihm von Seiten Gottes Vieles für die Zukunft und gab keine zu strengen Gesetze, wie Jeder, der sie genau erforscht, mir leicht zugeben wird; insbesondere wenn er die Nebenumstände beachtet, die zur Verurtheilung eines Angeklagten nöthig waren. Damit endlich das Volk, was sich nicht selbst regieren konnte, dem Herrscher gehorsam wäre, liess er diesen an die Knechtschaft gewohnten Menschen Nichts für ihr Belieben übrig; das Volk konnte Nichts beginnen,[82] ohne dass es des Gesetzes zu gedenken und die Gebote zu vollziehen hatte, die blos von dem Belieben des Herrschers abhingen. Denn es war nicht nach Belieben, sondern nach festen und bestimmten Anordnungen des Gesetzes erlaubt, zu pflügen, zu säen, zu ernten. Ebenso durfte man nichts essen, anziehen, das Haupt und den Bart nicht scheeren, sich nicht freuen noch sonst etwas vornehmen, als nach den in den Gesetzen vorgesehenen Anordnungen und Befehlen. Damit nicht genug, mussten sie an den Thürpfosten, an den Händen und unter den Augen gewisse Zeichen haben, die sie immer an den Gehorsam erinnerten. Es war also das Ziel der Gebräuche, dass diese Menschen Nichts aus eigenem Willen, sondern nur nach dem Gebot eines Andern thaten, und dass sie in allen ihren Handlungen und Gedanken ihre Unselbstständigkeit und Unterwürfigkeit anerkannten. Daraus erhellt, dass die Gebräuche mit der Seligkeit nichts zu thun haben, und dass die in dem Alten Testamente enthaltenen, ja das ganze Gesetz Mosis, nur auf den jüdischen Staat und mithin nur auf körperliche Vortheile abgezielt haben.

Was nun die christlichen Gebräuche anlangt, die Taufe, das Abendmahl, die Feste, die Predigten und Anderes, was dem Christenthum immer gemeinsam gewesen, so sind sie, wenn sie überhaupt von Christus oder den Aposteln eingesetzt worden, was mir noch zweifelhaft scheint, nur als äussere Zeichen der allgemeinen Kirche eingesetzt, aber nicht, um zur Seligkeit beizutragen, und mit einer inneren Heiligkeit. Daher sind diese Gebräuche zwar nicht des Staates wegen, aber doch um der ganzen Gemeinschaft wegen eingesetzt, und deshalb ist Der, welcher für sich allein lebt, an sie nicht gebunden; ja, wenn er in einem Staate lebt, wo die christliche Religion verboten ist, hat er sich derselben zu enthalten und kann doch selig leben. Ein Beispiel dazu giebt das japanesische Reich, wo die christliche Religion verboten ist, und die dort wohnenden Niederländer auf Anordnung der ostindischen Gesellschaft sich aller äusseren gottesdienstlichen Handlungen zu enthalten haben. Ich brauche dies jetzt durch keine weitere Autorität zu unterstützen, und wenn es auch leicht aus den Grundlagen des Neuen Testaments darzulegen und mit deutlichen Zeugnissen zu[83] belegen wäre, so lasse ich es doch gern, da es mich zu Anderem drängt.

Ich gehe also zu dem zweiten Gegenstande dieses Kapitels über, nämlich: Für welche Personen und aus welchen Gründen der Glaube an die biblische Geschichte nöthig ist. Um dies nach natürlichem Lichte zu ermitteln, werde ich so zu verfahren haben.

Wenn Jemand will, dass die Menschen etwas glauben oder nicht glauben, was nicht von selbst bekannt ist, so muss er zu diesem Zweck seine Behauptung aus Zugestandenem ableiten und sie durch Erfahrung oder die Vernunft überzeugen, also durch Dinge, die sie sinnlich wahrgenommen haben, oder aus geistigen, von selbst bekannten Grundsätzen. Ist die Erfahrung nicht klar und deutlich eingesehen, so kann sie doch vielleicht den Menschen überzeugen, aber sie kann den Verstand nicht ebenso bestimmen und seine Nebel zerstreuen, als wenn die Sache blos durch die Kraft des Verstandes und die Regeln seiner Einsicht dargelegt wird; namentlich wenn es sich um geistige Dinge handelt, die nicht in die Sinne fallen. Indess erfordert eine solche Ableitung aus geistigen Begriffen meist eine lange Verkettung der Sätze und auch grosse Vorsicht und Schärfe des Verstandes und hohe Ausdauer, die selten sich bei den Menschen finden; deshalb ziehen die Menschen lieber die Belehrung durch die Erfahrung vor und mögen ihre Ansichten nicht aus wenigen obersten Grundsätzen ableiten und mit einander verknüpfen. Will daher Jemand einem ganzen Volke oder gar dem ganzen menschlichen Geschlechte eine Lehre beibringen, die Alle verstehen sollen, so muss er sie durch die Erfahrung belegen und seine Gründe und seine Definitionen vor Allem der Fassungskraft des niedrigen Volkes, was den grössten Theil des Menschengeschlechts ausmacht, anbequemen; aber er darf nicht verknüpfen und keine Definitionen bieten, wie sie zur bessern Verkettung der Gründe dienen. Ohnedem mag er lieber für die Gelehrten schreiben, d.h. für nur einen kleinen Theil der Menschen, wo er verstanden werden wird. Da nun die ganze Bibel zuerst für ein ganzes Volk und später für das ganze Menschengeschlecht offenbart worden, so musste ihr Inhalt der Fassungskraft des niederen Volkes[84] vor Allem anbequemt und durch die Erfahrung bestätigt werden.

Ich will mich noch deutlicher ausdrücken. Das blos Spekulative, was die Bibel lehrt, ist, dass es einen Gott giebt oder ein Wesen, was Alles geschaffen hat, Alles mit der höchsten Weisheit leitet und erhält, und was für die Menschen sorgt, d.h. für die Frommen und Rechtlichen; dagegen die Anderen mit harten Strafen belegt und von den Guten sondert. Dies belegt die Bibel blos mit Erfahrungen, nämlich den in ihrer Geschichte erzählten Vorfällen; aber Definitionen giebt sie davon nicht, sondern passt ihre Worte und Gründe dem Verstande des niederen Volkes an. Da nun aber die Erfahrung keine klare Erkenntniss von diesen Sätzen geben und nicht darlegen kann, was Gott ist, und wie er Alles erhält und regiert und für die Menschen sorgt, so kann sie die Menschen nur so weit belehren und unterrichten, als zureicht, Gehorsam und Frömmigkeit ihren Seelen einzuprägen.

Dies ergiebt deutlich, für wen und weshalb der Glaube an die in der Bibel enthaltenen Erzählungen nöthig ist; denn es folgt aus dem eben Dargelegten, dass diese Kenntniss und dieser Glaube dem niederen Volke höchst nothwendig ist, dessen Verstand diese Dinge nicht deutlich und klar einsehen kann. Ferner ist Der gottlos, welcher sie leugnet, weil er an keinen Gott glaubt und nicht an dessen Sorge für die Welt und die Menschen; wer aber diese Geschichten mir nicht kennt, aber doch durch sein natürliches Licht weiss, dass Gott ist, sammt den Anderen, und hiernach einen wahren Lebenswandel führt, der ist selig, ja seliger als die Masse, weil er neben den wahren Meinungen auch noch eine klare und deutliche Erkenntniss hat. Hiernach ist Der, welcher diese Geschichten der Bibel nicht kennt und auch nach natürlichem Lichte nichts weiss, wenn auch nicht gottlos und ungehorsam, doch unmenschlich und beinah thierisch und ohne eine Gabe Gottes.

Indess verstehe ich mit diesem Satze, dass die Kenntniss der Geschichte dem niederen Volke höchst nöthig sei, nicht die Kenntniss aller Geschichten, welche die Bibel enthält, sondern nur der vorzüglicheren, die, auch ohne die anderen, die erwähnten Sätze am deutlichsten[85] darlegen und das Gemüth der Menschen am meisten bewegen können. Denn wenn die Kenntniss aller Geschichten der Bibel für den Beweis ihrer Lehre nöthig wäre, und keine Folgerung ohne umfassende Betrachtung aller darin erzählten Thatsachen gezogen werden konnte, so würde der Beweis ihrer Lehre und die Ableitung derselben nicht blos den Verstand und die Kräfte des gemeinen Volkes, sondern aller Menschen übersteigen. Denn Niemand konnte auf eine so grosse Zahl von Erzählungen zugleich Acht haben und auf so viele Umstände und Theile der Lehre, die aus so vielen und verschiedenen Erzählungen entnommen werden müssen. Ich für meine Person wenigstens kann daher nicht glauben, dass Die, welche uns die Bibel, so wie sie ist, hinterlassen haben, einen so grossen Verstand besessen haben und einer solchen Schlussfolgerung fähig waren; und noch weniger, dass die Bibellehre nicht eingesehen werden könne, ohne den Streit Isaak's, ohne die Rathschläge, welche Ahitophel dem Absalom gegeben, ohne die Bürgerkriege zwischen den Juden und Israeliten und ohne andere dergleichen Berichte zu kennen, und dass den Juden zu Mosis Zeit diese Lehre aus ihren Geschichten nicht ebenso gut habe gelehrt werden können, wie den Juden zur Zeit Esra's. Hierüber werde ich später noch ausführlicher sprechen.

Das niedere Volk braucht also nur die Geschichten zu kennen, welche seinen Sinn am meisten zum Gehorsam und zur Frömmigkeit bewegen können; aber ein Urtheil kann dieses niedere Volk darüber nicht fällen, vielmehr erfreut es sich nur an der Erzählung der einzelnen unerwarteten Vorfälle und nicht an der Lehre dieser Geschichten. Deshalb bedarf es neben dem Lesen dieser Geschichte noch der Prediger oder Kirchenbeamten, die es seiner Schwäche gemäss belehren. Um indess von der Sache nicht abzuschweifen, schliesse ich meine Aufgabe damit, dass der Glaube an die Geschichten aller Art nicht zu dem göttlichen Gesetz gehört, dass er die Menschen durch sich nicht selig macht, und dass der Nutzen dieser Geschichten blos in der Belehrung liegt, in welcher Hinsicht die eine Geschichte besser als die andere sein kann. Deshalb sind die Erzählungen im Alten und Neuen Testament besser als die weltlichen, und von jenen ist die eine besser als die andere; lediglich je nach den heilsamen[86] Lehren, die aus denselben sich ergeben. Hat Jemand daher die ganzen Geschichten der Bibel gelesen, und glaubt er an alle, hat er aber auf die Lehre, die darin geboten werden soll, nicht geachtet und seinen Lebenswandel nicht gebessert, so ist es ebenso, als hätte er den Koran oder die Schauspiele der Dichter oder die gemeinen Geschäftsbücher mit der Aufmerksamkeit des gemeinen Volkes gelesen, und umgekehrt ist Der selig, der diese Geschichten nicht kennt, aber doch die heilsamen Grundsätze hat und einen wahren Lebenswandel führt; Dieser hat in Wahrheit den Geist Christi in sich.

Die Juden sind jedoch anderer Ansicht; sie Sägen, dass die wahre Liebe und der wahre Lebenswandel zur Seligkeit nichts nützt, so lange die Menschen dies blos mit dem natürlichen Licht erfassen und nicht als die durch Moses offenbarten Lehren. Maimonides wagt dies offen in der Stelle Könige VIII. 9 mit den Worten auszusprechen: »Jeder, der die sieben Gebote8 in sich aufgenommen hat und sie fleissig erfüllt hat, gehört zu den Frommen in den Völkern und ist ein Erbe der zukünftigen Welt; wenn dies nämlich deshalb von ihm geschehen ist, weil Gott sie in diesem Gesetze gegeben, und weil durch Moses offenbart worden, dass sie ehedem den Söhnen Noah's gegeben worden seien. Hat er es aber blos gethan, weil seine Vernunft ihn dazu geführt hat, so ist Dieser kein Einwohner und gehört nicht zu den Frommen und Weisen in den Völkern.« – Dieses sind die Worte des Maimonides; ihnen fügt R. Joseph, Sohn von Shem Tob, in seinem »Kebod Elohim« oder »Die Ehre Gottes« genannten Buche hinzu: dass wenn auch Aristoteles, welcher nach seiner Meinung die beste Ethik geschrieben hat, und den er hochschätzt, in seinem Lebenswandel nichts zur wahren Ethik Gehöriges und in seiner Ethik Enthaltenes unterlassen, sondern Alles sorgfältig beobachtet hätte, so würde ihm das doch zu seinem Heile nichts genutzt haben, weil er seine Lehre nicht als[87] göttlich offenbart, sondern blos als von der Vernunft geboten erfasst habe.

Dem aufmerksamen Leser wird indess nicht entgehen, dass dies Alles nur reine Einbildungen sind, die sich auf keine Gründe und auf kein Ansehn der Bibel stützen; es genügt deshalb deren Erwähnung zu ihrer Widerlegung. Auch will ich nicht die Ansicht Derer widerlegen, welche meinen, dass das natürliche Licht nichts Gesundes über das zum wahren Heile Gehörige lehren könne. Denn da sie selbst sich keine gesunde Vernunft zutheilen, so können sie dies auch durch Vernunft nicht beweisen, und wenn sie etwas darüber hinaus zu besitzen meinen, so ist dies reine Einbildung, welche tief unter der Vernunft steht, wie schon ihr gewöhnlicher Lebenswandel erkennen lässt. Ich brauche also hierüber nichts weiter zu sagen; nur das will ich noch bemerken, dass man Jedermann nur aus seinen Thaten erkennen kann; wer daher an Früchten Ueberfluss zeigt, d.h. an Liebe, Freudigkeit, Frieden, Langmuth, Güte, Wohlthätigkeit, Treue, Sanftmuth, Mässigkeit, für Diesen (wie Paulus in seinem Briefe an die Galater V. 22 sagt) ist das Gesetz nicht gegeben; der ist, mag er blos durch die Vernunft oder blos durch die Bibel belehrt worden sein, in Wahrheit von Gott belehrt und ein Seliger. Damit ist alles über das göttliche Gesetz zu Sagende erledigt.

4

Ist die Bezeichnung des Empfangenhabens.

5

Ein Hebraismus, womit die Zeit des Todes bezeichnet wird; »zu seinen Vätern versammelt werden« heisst sterben. Man sehe Gen. XLIX. 29, 33.

6

Bedeutet »anständig ergötzen«, wie das niederländische Sprüchwort sagt: Mit Gott und mit Ehre.

7

Bezeichnet die Herrschaft, wie man ein Pferd im Zügel hält.

8

Die Juden glauben, dass Gott dem Noah sieben Gebote gegeben hat, und dass alle Völker nur an diese gebunden sind; nur den Juden habe er noch viel Mehrere gegeben, um sie glücklicher als die Anderen zu machen.

Quelle:
Spinoza: Theologisch-politische Abhandlung. Berlin 1870, S. 75-88.
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