XIX.

[186] Wie einsam ich damals mit dem stand, was ich im stillen als meine »Weltanschauung« in mir trug, während meine Gedanken auf Goethe einerseits und Nietzsche andererseits gelenkt waren, das konnte ich auch empfinden an dem Verhältnis zu mancher Persönlichkeit, mit der ich mich freundschaftlich verbunden fühlte, und die doch mein Geistesleben energisch ablehnte.

Der Freund, den ich in jungen Jahren gewonnen hatte, nachdem unsere Ideen so aneinander geprallt waren, daß ich ihm sagen mußte: »Wäre richtig, was du über das Wesen des Lebens denkst, so wäre ich lieber das Holzstück, auf dem meine Füße stehen, als ein Mensch«, verblieb mir in Liebe und Treue zugetan. Seine warm gehaltenen Briefe aus Wien versetzten mich immer wieder an den Ort, der mir so lieb war: namentlich durch die menschlichen Beziehungen, in denen ich da leben durfte.

Aber wenn der Freund in seinen Briefen auf mein Geistesleben zu sprechen kam, da tat sich ein Abgrund auf.

Er schrieb mir oft, daß ich dem ursprünglich Menschlichen mich entfremde, daß ich »meine Seelen-Impulse rationalisiere«. Er hatte das Gefühl, daß bei mir das Gefühlsleben sich umwandle in ein reines Gedankenleben; und er empfand dieses als eine von mir ausgehende Kälte. Es konnte mir alles nichts helfen, was ich auch dagegen geltend machte. Ich mußte sogar bemerken, daß zeitweilig die Wärme seiner Freundschaft abnahm, weil er den Glauben nicht los werden konnte: ich müsse in dem Menschlichen erkalten, da ich mein Seelenleben in der Region des Gedankens verbrauche.

Wie ich, statt im Gedankenleben zu erkalten, das ganze Menschliche in dieses Leben mitnehmen mußte, um mit ihm in der Sphäre des Gedanklichen die geistige Wirklichkeit zu ergreifen, das wollte er nicht begreifen.

Er sah nicht, daß das Rein-Menschliche verbleibt, auch wenn es in das Gebiet des Geistes sich erhebt; er sah nicht, wie man im Gedankengebiet leben könne; er vermeinte, man könne da bloß denken und müsse sich in der kalten Region des Abstrakten verlieren.

Und so machte er mich zu einem »Rationalisten«. Ich empfand[187] darin das größte Mißverständnis dessen, was auf meinen Geisteswegen lag. Alles Denken, das von der Wirklichkeit hinwegführte und in Abstraktheit auslief, war mir im Innersten zuwider. Ich war in einer Seelenverfassung, die den Gedanken aus der sinnenfälligen Welt nur bis zu der Stufe herausführen wollte, wo er droht, abstrakt zu werden: in diesem Augenblicke, sagte ich mir, müsse er den Geist ergreifen. Mein Freund sah, wie ich mit dem Gedanken aus der Welt des Physischen heraustrete; aber er gewahrte nicht, wie ich in demselben Augenblicke in das Geistige hineintrete. Und so war ihm, wenn ich von dem wirklich Geistigen sprach, dies alles ein Wesenloses; und er vernahm in meinen Worten nur ein Gewebe von abstrakten Gedanken.

Ich litt schwer unter der Tatsache, daß ich eigentlich, indem ich das mir Bedeutungsvollste aussprach, für meinen Freund von einem »Nichts« sprach. – Und so stand ich vielen Menschen gegenüber.

Ich mußte, was mir so im Leben gegenübertrat, auch an meiner Auffassung des Naturerkennens sehen. Ich konnte die rechte Methode des Forschens in der Natur nur darin anerkennen, daß man die Gedanken dazu verwendet, um die Erscheinungen der Sinne in ihren gegenseitigen Verhältnissen zu durchschauen; nicht aber konnte ich zugeben, daß man durch die Gedanken, über das Gebiet der Sinnesanschauung hinaus, Hypothesen bilde, die dann auf eine außersinnliche Wirklichkeit deuten wollen, die in Wahrheit aber nur ein Gespinnst von abstrakten Gedanken bilden. Ich wollte in dem Augenblicke, wo der Gedanke an der Feststellung dessen, was die Sinneserscheinungen, recht angeschaut, durch sich selbst aufklären, genug getan hat, nicht mit einer Hypothesenbildung, sondern mit der Anschauung, mit der Erfahrung des Geistigen beginnen, das in der Sinneswelt und im wahren Sinne nicht hinter der Sinnesanschauung wesenhaft lebt.

Was ich damals, Mitte der neunziger Jahre, intensiv als meine Anschauung in mir trug, das faßte ich später in einem Aufsatz, den ich 1900 in Nr. 16 des »Magazin für Literatur« schrieb, so zusammen: »Eine wissenschaftliche Zergliederung unserer Erkenntnistätigkeit führt ... zu der Überzeugung, daß die Fragen, die wir an die Natur zu stellen haben, eine Folge des eigentümlichen Verhältnisses sind, in dem wir zur Welt stehen.[188] Wir sind beschränkte Individualitäten, und können deshalb die Welt nur stückweise wahrnehmen. Jedes Stück, an und für sich betrachtet, ist ein Rätsel, oder, anders ausgedrückt, eine Frage für unser Erkennen. Je mehr der Einzelheiten wir aber kennen lernen, desto klarer wird uns die Welt. Eine Wahrnehmung erklärt die andere. Fragen, welche die Welt an uns stellt und die mit den Mitteln, die sie uns bietet, nicht zu beantworten wären, gibt es nicht. Für den Monismus existieren demnach keine prinzipiellen Erkenntnisgrenzen. Es kann zu irgendeiner Zeit dies oder jenes unaufgeklärt sein, weil wir zeitlich oder räumlich noch nicht in der Lage waren, die Dinge aufzufinden, welche dabei im Spiele sind. Aber was heute noch nicht gefunden ist, kann es morgen wer den. Die hierdurch bedingten Grenzen sind nur zufällige, die mit dem Fortschreiten der Erfahrung und des Denkens verschwinden. In solchen Fällen tritt dann die Hypothesenbildung in ihr Recht ein. Hypothesen dürfen nicht über etwas aufgestellt werden, das unserer Erkenntnis prinzipiell unzugänglich sein soll. Die atomistische Hypothese ist eine völlig unbegründete, wenn sie nicht bloß als ein Hilfsmittel des abstrahierenden Verstandes, sondern als eine Aussage über wirkliche, außerhalb der Empfindungsqualitäten liegende wirkliche Wesen gedacht werden soll. Eine Hypothese kann nur eine Annahme über einen Tatbestand sein, der uns aus zufälligen Gründen nicht zugänglich ist, der aber seinem Wesen nach der uns gegebenen Welt angehört.«

Ich habe diese Anschauung über Hypothesenbildung damals ausgesprochen, indem ich die »Erkenntnisgrenzen« als unberechtigt, die Grenzen der Naturwissenschaft als notwendige hinstellen wollte. Ich habe es damals nur im Hinblick auf die Naturerkenntnis getan. Aber diese Ideengestaltung hat mir immer den Weg gebahnt, da wo man mit den Mitteln der Naturerkenntnis an der notwendigen »Grenze« steht, mit den Mitteln der Geisteserkenntnis weiterzuschreiten.

Seelisches Wohlbefinden und etwas innerlich tief Befriedigendes erlebte ich in Weimar durch das künstlerische Element, das in die Stadt durch die Kunstschule und durch das Theater mit dem sich daranschließenden Musikalischen gebracht wurde.

In den malenden Lehrern und Schülern der Kunstschule offenbarte sich, was damals aus älteren Traditionen heraus nach einer neuen, unmittelbaren Anschauung und Wiedergabe von[189] Natur und Leben strebte. Recht viele waren unter diesen Malern, die im echten Sinne als »suchende Menschen« erschienen. Wie dasjenige, was der Maler als Farbe auf seiner Palette oder in seinem Farbentopfe hat, auf die Malfläche zu bringen ist, damit, was der Künstler schafft, ein berechtigtes Verhältnis habe zu der im Schaffen lebenden und vor dem menschlichen Auge erscheinenden Natur: das war die Frage, die mit anregender, oft wohltuend phantasievoller, oft auch doktrinärer Art in den mannigfaltigsten Formen erörtert wurde, und von deren künstlerischem Erleben die zahlreichen Bilder zeugten, die von Weimarer Malern in der ständigen Kunstausstellung in Weimar vorgeführt wurden.

Meine Kunstempfindung war damals noch nicht so weit wie mein Verhältnis zu den Erkenntnis-Erlebnissen. Aber ich suchte doch auch im anregenden Verkehr mit den Weimarer Künstlern nach einer geistgemäßen Auffassung des Künstlerischen.

Ziemlich chaotisch steht vor der rückschauenden Erinnerung, was ich in der eigenen Seele empfand, wenn die modernen Maler, die Licht- und Luftstimmung im unmittelbaren Anschauen ergreifen und wiedergeben wollten, zu Felde zogen gegen die »Alten«, die aus der Tradition »wußten«, wie man dies oder jenes zu behandeln habe. Es war in Vielen ein begeistertes, aus den ursprünglichsten Seelenkräften stammendes Bestreben, »wahr« zu sein im Erlauschen der Natur.

Aber nicht so chaotisch, sondern in den deutlichsten Formen steht vor meiner Seele das Leben eines jungen Malers, dessen künstlerische Art, sich zu offenbaren, mit meiner eigenen Entwickelung nach der Seite der künstlerischen Phantasie hin innig zusammenhing. Der damals in der Vollblüte der Jugend stehende Künstler schloß sich für einige Zeit eng an mich an. Das Leben hat auch ihn wieder von mir entfernt; aber ich lebte oft in der Erinnerung an die gemeinsam verbrachten Stunden.

Das Seelenleben dieses jungen Menschen war ganz Licht und Farbe. Was andere in Ideen ausdrücken, sprach er durch »Farben im Lichte« aus. Selbst sein Verstand wirkte so, daß er durch ihn die Dinge und Vorgänge des Lebens verband wie sich Farben verbinden, nicht wie sich die bloßen Gedanken verbinden, die der gewöhnliche Mensch von der Welt sich bildet.

Dieser junge Künstler war einmal auf einer Hochzeitsfeier,[190] bei der ich auch eingeladen war. Es wurden die üblichen Festreden gehalten. Der Pastor suchte für den Inhalt seiner Rede in der Bedeutung der Namen von Braut und Bräutigam; ich suchte mich der Rednerpflicht, die mir oblag, weil ich oft in dem befreundeten Hause verkehrte, dem die Braut entstammte, dadurch zu entledigen, daß ich von den entzückenden Erlebnissen sprach, die die Gäste dieses Hauses haben konnten. Ich redete, weil man erwartete, daß ich rede. Und man erwartete von mir eine Hochzeitstischrede, wie »sich's gehört«. Und so hatte ich an »meiner Rolle« wenig Freude. – Nach mir erhob sich der junge Maler, der längst auch Freund des Hauses geworden war. Von ihm erwartete man eigentlich nichts. Denn man wußte, solche Vorstellungen, wie man sie in Tischreden bringt, die hat der nicht. Er fing an etwa so: »Über den rot erglimmenden Gipfel des Hügels liebend der Sonnenglanz ergossen. Wolken über Hügel und im Sonnenglanz atmend; glühend rote Wangen dem Sonnenlichte entgegenhaltend, zum Geistes-Farben-Triumphbogen sich vereinend, das Geleite gebend dem zur Erde strebenden Lichte. Blumenflächen weit und breit, über sich gelb erglimmende Stimmung, die in die Blumen schlüpft, Leben aus ihnen erweckend ...« Er sprach so noch lange fort. Er hatte ja plötzlich all das Hochzeitsgewühle um sich vergessen und »im Geiste« zu malen begonnen. Ich weiß nicht mehr, warum er aufgehört hat, so malend zu sprechen; ich glaube, es hat ihn jemand an seinem Samtrock gezupft, der ihn sehr lieb hatte, der es aber nicht weniger lieb hatte, daß die Gäste zum ruhigen Genüsse des Hochzeitsbratens kamen.

Der junge Maler hieß Otto Fröhlich. Er saß viel bei mir auf meiner Stube, wir machten zusammen Spaziergänge und Ausflüge. Otto Fröhlich malte »im Geiste« immer neben mir. Man konnte neben ihm vergessen, daß die Welt noch einen andern Inhalt hat als Licht und Farbe.

So empfand ich den jungen Freund. Ich weiß, wie, was ich ihm zu sagen hatte, ich vor seiner Seele in ein Farbenkleid hüllte, um mich ihm verständlich zu machen.

Und der junge Maler brachte es auch wirklich dahin, den Pinsel so zu führen, die Farbe so zu legen, daß seine Bilder bis zum hohen Grade ein Abglanz wurden seiner lebend-üppigen Farbenphantasie. Wenn er einen Baumstamm malte, dann war auf der Leinwand nicht die Linienform des Gebildes, wohl aber,[191] was Licht und Farben aus sich heraus offenbaren, wenn der Baumstamm ihnen die Gelegenheit gibt, sich darzuleben.

Ich suchte in meiner Art nach dem Geistgehalt des leuchtend Farbigen. In ihm mußte ich das Geheimnis des Farbenwesens sehen. In Otto Fröhlich stand ein Mensch an meiner Seite, der persönlich instinktiv als sein Erleben in sich trug, was ich für das Ergreifen der Farbenwelt durch die menschliche Seele suchte.

Ich empfand es als beglückend, gerade durch mein eigenes Suchen dem jungen Freunde manche Anregung geben zu können. Eine solche bestand im folgenden. Ich erlebte selbst das intensiv Farbige, das Nietzsche in dem Zarathustra-Kapitel vom »häßlichsten Menschen« darbietet, in einem hohen Maße. Dieses »Tal des Todes«, dichtend gemalt, enthielt für mich vieles von dem Lebensgeheimnis der Farben.

Ich gab Otto Fröhlich den Rat: er möge Nietzsches dichtend gemaltes Bild von Zarathustra und dem häßlichsten Menschen nun malend dichten. Er tat dieses. Es kam nun eigentlich etwas Wunderbares zustande. Die Farben konzentrierten sich leuchtend, vielsagend in der Zarathustra-Figur. Diese kam nur nicht als solche voll zustande, weil in Fröhlich noch nicht die Farbe selbst bis zur Schöpfung des Zarathustra sich entfalten konnte. Aber um so lebendiger umwellte das Farbenschillern die »grünen Schlangen« im Tal des häßlichsten Menschen. In dieser Partie des Bildes lebte der ganze Fröhlich. Nun aber der »häßlichste Mensch«. Da hätte es der Linie bedurft, der malenden Charakteristik. Da versagte Fröhlich. Er wußte noch nicht, wie in der Farbe gerade das Geheimnis lebt, aus sich, durch ihre Eigenbehandlung, das Geistige in der Form erstehen zu lassen. Und so wurde der »häßlichste Mensch« eine Wiedergabe desjenigen Modells, das unter weimarischen Malern der »Füllsack« hieß. Ich weiß nicht, ob dies wirklich der bürgerliche Name des Mannes war, den die Maler immer benützten, wenn sie »charakteristisch ins Häßliche« werden wollten; aber ich weiß, daß »Füllsacks« Häßlichkeit schon keine bürgerlich-philiströse mehr war, sondern etwas vom »Genialischen« hatte. Aber ihn so ohne weiteres als den »häßlichen Füllsack« in das Bild hineinzusetzen, als Modellkopie, da, wo Zarathustras Seele leuchtend in Antlitz und Kleid sich offenbarte, wo das Licht wahres Farbenwesen aus seinem Verkehr mit den grünen Schlangen hervorzauberte, das verdarb Fröhlich das malerische Werk. Und so[192] konnte das Bild noch nicht das werden, was ich gehofft hatte, daß es durch Otto Fröhlich zustande käme.

Obwohl ich Geselligkeit im Charakter meines Wesens sehen muß, so fühlte ich in Weimar doch nie in ausgiebigerem Maße den Antrieb, mich dort einzufinden, wo die Künstlerschaft und alles, was gesellschaftlich sich mit ihr verbunden wußte, die Abende zubrachte.

Das war in einem romantisch aus einer alten Schmiede umgestalteten, gegenüber dem Theater gelegenen »Künstlervereinshaus«. Da saßen im dämmerigen, farbigen Licht vereint die Lehrer und Schüler der Maler-Akademie, da saßen Schauspieler und Musiker. Wer Geselligkeit »suchte«, der mußte sich gedrängt fühlen, am Abend dahin zu gehen. Und ich fühlte es eben deshalb nicht, weil ich doch Geselligkeit nicht suchte, sondern sie dankbar hinnahm, wenn die Verhältnisse sie mir brachten.

Und so lernte ich in anderen geselligen Zusammenhängen einzelne Künstler kennen; nicht aber »die Künstlerschaft«.

Und einzelne Künstler in Weimar in jener Zeit kennen zu lernen, war schon Gewinn des Lebens. Denn die Traditionen des Hofes, die außerordentlich sympathische Persönlichkeit des Großherzogs Karl Alexander gaben der Stadt eine künstlerische Haltung, die fast alles, was Künstlerisches sich in jenem Zeitabschnitt abspielte, in irgend ein Verhältnis zu Weimar brachte.

Da war vor allem das Theater mit den guten alten Traditionen. In seinen wichtigsten Darstellern durchaus abgeneigt, naturalistischen Geschmack aufkommen zu lassen. Und wo das Moderne sich offenbaren und manchen Zopf ausmerzen wollte, der immer auch mit guten Traditionen doch verknüpft ist, da war die Modernität doch weitab gelegen von dem, was Brahm auf der Bühne, Paul Schlenther journalistisch als die »moderne Auffassung« propagierten. Da war unter diesen »Weimarer Modernen« vor allem der durch und durch künstlerische, edle Feuergeist Paul Wiecke. Solche Menschen in Weimar die ersten Schritte ihres Künstlertums machen zu sehen, gibt unauslöschliche Eindrücke und ist eine weite Schule des Lebens. Paul Wiecke brauchte den Untergrund eines Theaters, das, aus seinen Traditionen heraus, den elementarischen Künstler ärgert. Es waren anregende Stunden, die ich im Hause von Paul Wiecke verleben durfte. Er war mit meinem Freunde Julius Wahle tief befreundet; und so kam es, daß ich zu ihm in ein näheres Verhältnis[193] trat. Es war oft entzückend, Wiecke poltern zu hören fast über alles, was er erleben mußte, wenn er die Proben für ein neu aufzuführendes Stück absolvierte. Und im Zusammenhang damit dann ihn die Rolle spielen zu sehen, die er sich so erpoltert hatte; die aber immer durch das edle Streben nach Stil und auch durch schönes Feuer der Begeisterung einen seltenen Genuß darbot.

In Weimar machte damals seine ersten Schritte Richard Strauß. Er wirkte als zweiter Kapellmeister neben Lassen. Die ersten Kompositionen Richard Strauß' wurden in Weimar zur Aufführung gebracht. Das musikalische Suchen dieser Persönlichkeit offenbarte sich wie ein Stück weimarischen Geisteslebens selbst. Solche freudig-hingebungsvolle Aufnahme von etwas, das im Aufnehmen zum aufregenden künstlerischen Problem wurde, war doch nur im damaligen Weimar möglich. Ringsum Ruhe des Traditionellen, getragene, würdige Stimmung: nun fährt da hinein Richard Strauß' »Zarathustra-Symphonie«, oder gar seine Musik zum Eulenspiegel. Alles wacht auf aus Tradition, Getragenheit, Würde; aber es wacht so auf, daß die Zustimmung liebenswürdig, die Ablehnung harmlos ist – und der Künstler so in der schönsten Art das Verhältnis zu der eigenen Schöpfung finden kann.

Wir saßen so viele Stunden lang bei der Erst-Aufführung von Richard Strauß' Musikdrama »Guntram«, wo der so liebwerte, menschlich so ausgezeichnete Heinrich Zeller die Hauptrolle hatte und sich fast stimmlos sang.

Ja, dieser tief sympathische Mensch, Heinrich Zeller, auch er mußte Weimar haben, um zu werden, was er geworden ist. Er hatte die schönste elementarste Sängerbegabung. Er brauchte, um sich zu entfalten, eine Umgebung, die in voller Geduld entgegennahm, wenn sich eine Begabung nach und nach hinaufexperimentierte. Und so war die Entfaltung Heinrich Zellers zu dem Menschlich-Schönsten zu zählen, das man erleben kann. Dabei war Zeller eine so liebenswürdige Persönlichkeit, daß man Stunden, die man mit ihm verlebte, zu den reizvollsten zählen mußte.

Und so kam es, daß, obwohl ich nicht oft daran dachte, abends in die Künstlervereinigung zu gehen: wenn Heinrich Zeller mich traf und sagte, ich solle mitgehen, ich dieser Aufforderung jedes Mal gerne folgte.[194]

Nun hatten die weimarischen Zustände auch ihre Schattenseiten. Das Traditionelle, Ruhe-Liebende hält nur zu oft den Künstler wie in einer Art von Dumpfheit zurück. Heinrich Zeller ist der Welt außerhalb Weimars wenig bekannt geworden. Was zunächst geeignet war, seine Schwingen zu entfalten, hat sie dann doch wieder gelähmt. Und so ist es ja wohl auch mit meinem lieben Freunde Otto Fröhlich geworden. Der brauchte, wie Zeller, Weimars künstlerischen Boden; den nahm aber auch die abgedämpfte geistige Atmosphäre zu stark in ihre künstlerische Behaglichkeit auf.

Und man fühlte diese »künstlerische Behaglichkeit« in dem Eindringen des Geistes Ibsens und von anderen Modernen. Da machte man alles mit. Den Kampf, den die Schauspieler kämpften, um den Stil z.B. für eine »Nora« zu finden. Ein solches Suchen, wie man es hier bemerken konnte, findet nur da statt, wo man durch die Fortpflanzung der alten Bühnentraditionen eben Schwierigkeiten findet, um das darzustellen, was von Dichtern herrührt, die nicht wie Schiller von der Bühne, sondern wie Ibsen von dem Leben ausgegangen sind.

Man machte aber auch die Spiegelung dieses Modernen aus der »künstlerischen Behaglichkeit« des Theaterpublikums mit. Man sollte nun doch den Weg finden mitten durch das, was einem der Umstand auferlegte, daß man ein Bewohner des »klassischen Weimar« war, und auch durch das, was Weimar doch groß gemacht hat, nämlich daß es immerdar Verständnis für das Neue gehabt hat.

Mit Freude denke ich an die Aufführungen der Wagnerschen Musikdramen zurück, die ich in Weimar mitgemacht habe. Der Intendant v. Bronsart entwickelte besonders für diese Seite der Theaterleistungen verständnisvollste Hingabe. Heinrich Zellers Stimme kam da zur vorzüglichsten Geltung. Eine bedeutende Kraft als Sängerin war Frau Agnes Stavenhagen, die Frau des Pianisten Bernhard Stavenhagen, der auch eine Zeitlang Kapellmeister am Theater war. Wiederholte Musikfeste brachten die die Zeit repräsentierenden Künstler und deren Werke nach Weimar. Man sah z.B. da Mahler als Kapellmeister bei einem Musikfest in seinen Anfängen. Unauslöschlich der Eindruck, wie er den Taktstock führte, Musik nicht im Flusse der Formen fordernd, sondern als Erleben eines Übersinnlich-Verborgenen, zwischen den Formen sinnvoll pointierend.[195]

Was sich mir hier von Weimarer Vorgängen, scheinbar ganz losgelöst von mir, vor die Seele stellt, ist aber in Wirklichkeit doch tief mit meinem Leben verbunden. Denn es waren das Ereignisse und Zustände, die ich eben als das erlebte, das mich in intensivster Art anging. Ich habe oftmals später, wenn ich einer Persönlichkeit oder deren Werk begegnete, die ich in ihren Anfängen in Weimar miterlebt habe, dankbar zurückgedacht an diese Weimarer Zeit, durch die so vieles verständlich werden konnte, weil so vieles dorthin gegangen war, um dort den Keimzustand durchzumachen. So erlebte ich gerade damals in Weimar das Kunststreben so, daß ich über das meiste mein eigenes Urteil in mir trug, oft recht wenig in Übereinstimmung mit dem der andern. Aber daneben interessierte mich alles, was die andern empfanden, ebenso stark wie das eigene. Auch da bildet sich in mir ein inneres Doppelleben der Seele aus.

Es war dies eine rechte, durch das Leben selbst schicksalsgemäß herangebrachte Seelen-Übung, um über das abstrakte Entweder-Oder des Verstandes-Urteiles hinauszukommen. Dieses Urteil errichtet für die Seele Grenzen vor der übersinnlichen Welt. In dieser sind nicht Wesen und Vorgänge, die zu einem solchen Entweder-Oder-Anlaß geben. Man muß dem Übersinnlichen gegenüber vielseitig werden. Man muß nicht nur theoretisch lernen, sondern man muß es in die innersten Regungen des Seelenlebens gewohnheitsmäßig aufnehmen, alles von den mannigfaltigsten Gesichtspunkten aus zu betrachten. Solche »Standpunkte« wie Materialismus, Realismus, Idealismus, Spiritualismus, wie sie von abstrakt orientierten Persönlichkeiten in der physischen Welt zu umfangreichen Theorien ausgebildet werden, um etwas an den Dingen selbst zu bedeuten, verlieren für den Erkenner des Übersinnlichen alles Interesse. Er weiß, daß z.B. Materialismus nichts anderes sein kann, als der Anblick der Welt von dem Gesichtspunkte aus, von dem sie sich in materieller Erscheinung zeigt.

Eine praktische Schulung in dieser Richtung ist es nun, wenn man sich in ein Dasein versetzt sieht, das einem das Leben, das außerhalb seine Wellen schlägt, innerlich so nahe bringt wie das eigene Urteilen und Empfinden. Das aber war so für mich mit vielem in Weimar. Mir scheint, mit dem Ende des Jahrhunderts hat das dort aufgehört. Vorher ruhte doch noch der Geist Goethes und Schillers über allem. Und der alte, liebe[196] Großherzog, der so vornehm durch Weimar und seine Anlagen schritt, hatte als Knabe noch Goethe erlebt. Er fühlte wahrhaftig seinen »Adel« recht stark; aber er zeigte überall, daß er sich durch »Goethes Werk für Weimar« ein zweites Mal geadelt fühlte.

Es war wohl der Geist Goethes, der von allen Seiten in Weimar so stark wirkte, daß mir eine gewisse Seite des Mit-Erlebens dessen, was da geschah, zu einer praktischen Seelen-Übung im rechten Darstellen der übersinnlichen Welten wurde.

Quelle:
Steiner, Rudolf: Mein Lebensgang. Stuttgart 1975, S. 186-197.
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