XXIX.

[270] Auf geistigem Gebiete wollte in die Erkenntniserrungenschaften des letzten Drittels des Jahrhunderts ein neues Licht in das Werden der Menschheit hereinbrechen. Aber der geistige Schlaf, in den die materialistische Ausdeutung dieser Errungenschaften versetzte, verhinderte, dieses auch nur zu ahnen, geschweige denn zu bemerken.

So kam die Zeit herauf, die sich in geistiger Richtung durch ihr eigenes Wesen hätte entwickeln müssen, die aber ihr eigenes Wesen verleugnete. Die Zeit, die die Unmöglichkeit des Lebens zu verwirklichen begann.

Einige Sätze aus Ausführungen möchte ich hierhersetzen, die ich im März 1898 in den »Dramaturgischen Blättern« (die seit Beginn 1898 dem »Magazin« als Beiblatt angeschlossen waren) schrieb. Von der »Vortragskunst« sage ich: »Mehr als auf irgend einem andern Gebiete ist auf diesem der Lernende ganz sich selber und dem Zufall überlassen ... Bei der Gestalt, welche unser öffentliches Leben angenommen hat, kommt gegenwärtig fast jeder in die Lage, öfter öffentlich sprechen zu müssen ... Die Erhebung der gewöhnlichen Rede zum Kunstwerk ist eine Seltenheit ... Es fehlt uns fast ganz das Gefühl für die Schönheit des Sprechens und noch mehr für charakteristisches Sprechen ... Niemandem wird man das Recht zugestehen, über einen Sänger zu schreiben, der keine Kenntnis des richtigen Singens hat ... In bezug auf die Schauspielkunst stellt man weit geringere Anforderungen ... Die Leute, die verstehen, ob ein Vers richtig gesprochen wird oder nicht, werden immer seltener ... Man hält künstlerisches Sprechen heute vielfach für verfehlten Idealismus ... Dazu hätte man nie kommen können, wenn man sich der künstlerischen Ausbildungsfähigkeit der Sprache besser bewußt wäre ...«

Was mir da vorschwebte konnte erst viel später in der Anthroposophischen Gesellschaft eine Art Verwirklichung finden. Marie v. Sivers (Marie Steiner), die für Sprachkunst Begeisterte, widmete sich zunächst selbst einem echt künstlerischen Sprechen; und mit ihrer Hilfe wurde es dann möglich, in Kursen für Sprachgestaltung und dramatische Darstellung für Erhebung dieses Gebietes zur wahren Kunst zu wirken.[271]

Ich durfte dieses hier anführen, um zu zeigen, wie gewisse Ideale sich durch mein ganzes Leben hindurch ihre Entfaltung suchen, weil doch viele Menschen in meiner Entwickelung Widersprechendes finden wollen.

In diese Zeit fällt meine Freundschaft mit dem jung verstorbenen Dichter Ludwig Jacobowski. Er war eine Persönlichkeit, deren seelische Grundstimmung in innerer Tragik atmete. Er trug schwer an dem Schicksal, daß er Jude war. Er stand einem Bureau vor, das, unter der Direktion eines freisinnigen Abgeordneten, den Verein zur »Abwehr des Antisemitismus« leitete und dessen Zeitschrift herausgab. Eine Überlast von Arbeit lag auf Ludwig Jacobowski nach dieser Richtung. Und eine Arbeit, die täglich einen brennenden Schmerz erneuerte. Denn sie stellte täglich vor seine Seele die Vorstellung von der Stimmung gegen sein Volk, an der er doch so sehr litt.

Daneben entfaltete er eine reiche Tätigkeit auf dem Gebiete der Volkskunde. Er sammelte alles, dessen er habhaft werden konnte, als Grundlage für ein Werk über das Werden der Volkstümer seit Urzeiten. Einzelne Aufsätze, die er aus seinem reichen Wissen auf diesem Gebiete schrieb, sind sehr interessant. Sie sind zunächst im materialistischen Sinne der Zeit geschrieben; aber Jacobowski wäre, hätte er länger gelebt, sicher einer Vergeistigung seines Forschens zugänglich gewesen.

Aus diesen Betätigungen strahlt heraus Ludwig Jacobowskis Dichtung. Nicht ganz ursprünglich; aber doch von tief menschlicher Empfindung und voll eines seelenkräftigen Erlebens. »Leuchtende Tage« nannte er seine lyrischen Dichtungen. Sie waren, wenn die Stimmung sie ihm schenkte, in seiner Lebenstragik wirklich das, was wie geistige Sonnentage für ihn wirkte. Daneben schrieb er Romane. In »Werther der Jude« lebt alle innere Tragik Ludwig Jacobowskis. In »Loki, Roman eines Gottes« schuf er ein Werk, das aus deutscher Mythologie heraus geboren ist. Das Seelenvolle, das aus diesem Roman spricht, ist ein schöner Abglanz von des Dichters Liebe zum Mythologischen im Volkstum.

Überschaut man, was Ludwig Jacobowski leistete, so ist man erstaunt über die Fülle auf den verschiedensten Gebieten. Trotzdem pflegte er Verkehr mit vielen Menschen und fühlte sich wohl im geselligen Leben. Dazu gab er damals noch die Monatsschrift »Die Gesellschaft« heraus, die eine ungeheure Überbürdung für ihn bedeutete.[272]

Er verzehrte sich am Leben, nach dessen Inhalt er sehnsüchtig begehrte, um künstlerisch dessen Gestaltung zu bewirken.

Er gründete eine Gesellschaft »Die Kommenden«, die aus Literaten, Künstlern, Wissenschaftern und künstlerisch interessierten Persönlichkeiten bestand. Da versammelte man sich jede Woche einmal. Dichter brachten ihre Dichtungen vor. Vorträge über die mannigfaltigsten Gebiete des Erkennens und Lebens wurden gehalten. Ein zwangloses Zusammensein schloß den Abend. Ludwig Jacobowski war der Mittelpunkt des sich immer mehr vergrößernden Kreises. Jeder liebte die liebenswürdige, ideenerfüllte Persönlichkeit, die in dieser Gemeinschaft sogar feinen, edlen Humor entfaltete.

Aus all dem riß ein jäher Tod den erst Dreißigjährigen. An einer Hirnhautentzündung, der Folge seiner unausgesetzten Anstrengungen, ging er zugrunde.

Mir blieb nur die Aufgabe, für den Freund die Begräbnisrede zu halten und seinen Nachlaß zu redigieren.

Ein schönes Denkmal in einem Buche mit Beiträgen seiner Freunde setzte ihm die Dichterin Marie Stona, mit der er befreundet war.

Alles an Ludwig Jacobowski war liebewert; seine innere Tragik, sein Herausstreben aus dieser zu seinen »leuchtenden Tagen«, seine Hingabe an das bewegte Leben. Ich habe das Andenken an unsere Freundschaft stets lebendig im Herzen bewahrt und sehe auf die kurz Zeit unseres Zusammenlebens mit inniger Hingabe an den Freund zurück.

Eine andere freundschaftliche Beziehung entstand dazumal zu Martha Asmus; eine philosophisch denkende, aber stark zum Materialismus neigende Dame. Diese Neigung wurde allerdings dadurch gemildert, daß Martha Asmus intensiv in den Erinnerungen an ihren früh verstorbenen Bruder Paul Asmus lebte, der ein entschiedener Idealist war.

Paul Asmus erlebt wie ein philosophischer Eremit den philosophischen Idealismus der Hegelzeit noch einmal im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts. Er schreibt eine Schrift über das »Ich« und eine solche über die indogermanischen Religionen. Beide in der Form des Hegelstiles, aber im Inhalte durchaus selbständig.

Diese interessante Persönlichkeit, die damals schon lange nicht mehr lebte, wurde mir durch die Schwester Martha Asmus recht[273] nahe gebracht. Wie ein neues meteorartiges Aufblitzen der geistgeneigten Philosophie des Jahrhundertbeginnes gegen das Jahrhundertende erschien sie mir.

Weniger enge, aber immerhin eine Zeitlang bedeutsame Beziehungen bildeten sich zu den »Friedrichhagenern« heraus, zu Bruno Wille und Wilhelm Bölsche. Bruno Wille ist ja der Verfasser einer Schrift über »Philosophie der Befreiung durch das reine Mittel«. Nur der Titel hat den Anklang an meine »Philosophie der Freiheit«. Der Inhalt bewegt sich auf einem ganz anderen Gebiete. In weitesten Kreisen bekannt wurde Bruno Wille durch seine sehr bedeutenden »Offenbarungen des Wachholderbaumes«. Ein Weltanschauungsbuch aus dem schönsten Natursinn heraus geschrieben, durchdrungen von der Überzeugung, daß Geist aus allem materiellen Dasein spricht. Wilhelm Bölsche ist ja bekannt durch zahlreiche populär-naturwissenschaftliche Schriften, die in weitesten Kreisen ganz außerordentlich beliebt sind.

Von dieser Seite ging die Begründung einer »Freien Hochschule« aus, zu der ich zugezogen wurde. Es wurde mir der Unterricht in der Geschichte zugeteilt. Bruno Wille besorgte das Philosophische, Bölsche das Naturwissenschaftliche, Theodor Kappstein, ein freigeistig gesinnter Theologe, die Erkenntnis des Religiösen.

Eine zweite Begründung war der »Giordano-Bruno-Bund«. Es sollten sich in demselben solche Persönlichkeiten zusammenfinden, die einer geistig-monistischen Weltanschauung sympathisch gegenüberstanden. Es kam dabei auf die Betonung dessen an, daß es nicht zwei Weltprinzipien, Stoff und Geist gebe, sondern daß der Geist als Einheitsprinzip alles Sein bilde. Bruno Wille leitete diesen Bund in einem sehr geistvollen Vortrage ein, dem er das Goethesche Wort zugrunde legte: »Materie nie ohne Geist«. Leider ergab sich zwischen Wille und mir nach diesem Vortrage ein kleines Mißverständnis. Meine an den Vortrag angeschlossenen Worte, daß Goethe, lange nachdem er dies schöne Wort geprägt hatte, es in gewichtiger Weise dadurch ergänzt habe, daß er in der wirksamen Geisttätigkeit des Daseins Polarität und Steigerung als die konkreten Geistgestaltungen gesehen habe, und daß dadurch das allgemeine Wort erst vollen Inhalt bekomme, wurde wie ein Einwand gegen Willes Vortrag genommen, den ich doch voll in seiner Bedeutung anerkannte.[274]

Aber vollends in einen Gegensatz zu der Leitung des Giordano-Bruno-Bundes kam ich, als ich einen Vortrag über den Monismus selbst hielt. Ich betonte in demselben, daß die schroffe dualistische Fassung »Stoff und Geist« eigentlich eine Schöpfung der neuesten Zeit ist. Daß auch Geist und Natur in den Gegensatz, den der Giordano-Bruno-Bund bekämpfen will, erst in den allerletzten Jahrhunderten zu einander gebracht worden sind. Dann machte ich darauf aufmerksam, wie diesem Dualismus gegenüber die Scholastik Monismus sei. Wenn sie auch einen Teil des Seins der menschlichen Erkenntnis entzogen und dem »Glauben« zuerteilt habe, so stelle die Scholastik doch ein Weltsystem dar, das von der Gottheit, der Geistwelt bis in die Einzelheiten der Natur hinein eine einheitliche (monistische) Konstitution zeige. Damit stellte ich auch die Scholastik höher als den Kantianismus.

Mit diesem Vortrage entfesselte ich die größte Aufregung. Man dachte, ich wolle dem Katholizismus in den Bund hinein die Wege öffnen. Nur Wolfgang Kirchbach und Martha Asmus standen von den leitenden Persönlichkeiten auf meiner Seite. Die andern konnten sich keine Vorstellung davon machen, was ich mit der »verkannten Scholastik« eigentlich wolle. Jedenfalls waren sie davon überzeugt, daß ich geeignet sei, in den Giordano-Bruno-Bund die größte Verwirrung hineinzubringen.

Ich muß dieses Vortrages gedenken, weil er in die Zeit fällt, in der später Viele mich als Materialisten sehen. Dieser »Materialist« galt damals zahlreichen Personen als der, der die mittelalterliche Scholastik neuerdings heraufbeschwören möchte.

Trotz alledem konnte ich später im Giordano-Bruno-Bund meinen grundlegenden anthroposophischen Vortrag halten, der der Ausgangspunkt meiner anthroposophischen Tätigkeit geworden ist.

Mit dem öffentlichen Mitteilen dessen, was Anthroposophie als Wissen von der geistigen Welt enthält, sind Entschlüsse notwendig, die nicht ganz leicht werden.

Es werden sich diese Entschlüsse am besten charakterisieren lassen, wenn man auf einiges Historische blickt.

Entsprechend den ganz anders gearteten Seelenverfassungen einer älteren Menschheit hat es ein Wissen von der geistigen Welt immer, bis zum Beginne der neueren Zeit, etwa bis zum vierzehnten Jahrhundert, gegeben. Es war nur eben ganz anders[275] als das den Erkenntnisbedingungen der Gegenwart angemessene Anthroposophische.

Von dem genannten Zeitpunkte an konnte die Menschheit zunächst keine Geist-Erkenntnis hervorbringen. Sie bewahrte das »alte Wissen«, das die Seelen in bildhafter Form geschaut haben, und das auch nur in symbolisch-bildlicher Form vorhanden war.

Dieses »alte Wissen« wurde in alten Zeiten nur innerhalb der »Mysterien« gepflegt. Es wurde denen mitgeteilt, die man erst reif dazu gemacht hatte, den »Eingeweihten«. Es sollte nicht an die Öffentlichkeit gelangen, weil da die Tendenz zu leicht vorhanden ist, es unwürdig zu behandeln. Diese Gepflogenheit haben nun diejenigen spätern Persönlichkeiten beibehalten, die Kunde von dem »alten Wissen« erlangten und es weiterpflegten. Sie taten es in engsten Kreisen mit Menschen, die sie dazu vorbereiteten.

Und so blieb es bis in die Gegenwart.

Von den Persönlichkeiten, die mir mit einer solchen Forderung bezüglich der Geist-Erkenntnis entgegentraten, will ich eine nennen, die innerhalb des Wiener Kreises der Frau Lang, den ich gekennzeichnet habe, sich bewegte, die ich aber auch in andern Kreisen, in denen ich in Wien verkehrte, traf. Es ist Friedrich Eckstein, der ausgezeichnete Kenner jenes »alten Wissens«. Friedrich Eckstein hat, solange ich mit ihm verkehrte, nicht viel geschrieben. Was er aber schrieb, war voll Geist. Aber niemand ahnt aus seinen Ausführungen zunächst den intimen Kenner alter Geist-Erkenntnis. Die wirkt im Hintergrunde seines geistigen Arbeitens. Eine sehr bedeutende Abhandlung habe ich, lange nachdem das Leben auch von diesem Freunde mich entfernt hatte, in einer Schriftensammlung gelesen über die böhmischen Brüder.

Friedrich Eckstein vertrat nun energisch die Meinung, man dürfe die esoterische Geist-Erkenntnis nicht wie das gewöhnliche Wissen öffentlich verbreiten. Er stand mit dieser Meinung nicht allein; sie war und ist die fast aller Kenner der »alten Weisheit«. Inwiefern in der von H.P. Blavatsky begründeten »Theosophischen Gesellschaft« die als Regel von den Bewahrern »alter Weisheit« streng geltend gemachte Meinung durchbrochen wurde, davon werde ich später zu sprechen haben.

Friedrich Eckstein wollte, daß man als »Eingeweihter in altes[276] Wissen« das, was man öffentlich vertritt, einkleidet mit der Kraft, die aus dieser »Einweihung« kommt, daß man aber dieses Exoterische streng scheide von dem Esoterischen, das im engsten Kreise bleiben solle, der es voll zu würdigen versteht.

Ich mußte mich, sollte ich eine öffentliche Tätigkeit für Geist-Erkenntnis entfalten, entschließen, mit dieser Tradition zu brechen. Ich sah mich vor die Bedingungen des geistigen Lebens der Gegenwart gestellt. Denen gegenüber sind Geheimhaltungen, wie sie in älteren Zeiten selbstverständlich waren, eine Unmöglichkeit. Wir leben in der Zeit, die Öffentlichkeit will, wo irgend ein Wissen auftritt. Und die Anschauung von der Geheimhaltung ist ein Anachronismus. Einzig und allein möglich ist, daß man Persönlichkeiten stufenweise mit der Geist-Erkenntnis bekannt macht und niemand zuläßt zu einer Stufe, auf der die höhern Teile des Wissens mitgeteilt werden, wenn er die niedrigeren noch nicht kennt. Das entspricht ja auch den Einrichtungen der niedern und höhern Schulen.

Ich hatte auch niemand gegenüber eine Verpflichtung zur Geheimhaltung. Denn ich nahm von »alter Weisheit« nichts an; was ich an Geist-Erkenntnis habe, ist durchaus Ergebnis meiner eigenen Forschung. Nur wenn sich mir eine Erkenntnis ergeben hat, so ziehe ich dasjenige heran, was von irgend einer Seite an »altem Wissen« schon veröffentlicht ist, um die Übereinstimmung und zugleich den Fortschritt zu zeigen, der der gegenwärtigen Forschung möglich ist.

So war ich mir denn von einem gewissen Zeitpunkte an ganz klar darüber, daß ich mit einem öffentlichen Auftreten mit der Geist-Erkenntnis das Rechte tue.

Quelle:
Steiner, Rudolf: Mein Lebensgang. Stuttgart 1975, S. 270-277.
Lizenz:
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Mein Lebensgang. Eine nicht vollendete Autobiographie
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