XXXV.

[312] Der Beginn meiner anthroposophischen Betätigung fällt in eine Zeit, in der bei Vielen eine Unbefriedigtheit mit den Erkenntnisrichtungen der unmittelbar vorangehenden Zeit vorhanden war. Man wollte einen Weg aus demjenigen Seinsgebiete herausfinden, in das man sich dadurch abgeschlossen hatte, daß man als »sichere« Erkenntnis nur gelten gelassen hatte, was mit mechanistischen Ideen erfaßt werden kann. Mir gingen diese Bestrebungen mancher Zeitgenossen nach einer Art von Geist-Erkenntnis recht nahe. Biologen wie Oskar Hertwig, der als Schüler von Haeckel begonnen, dann aber den Darwinismus verlassen hatte, weil nach seiner Ansicht die Impulse, die dieser kennt, keine Erklärung des organischen Werdens abgeben können, waren für mich Persönlichkeiten, in denen sich mir das Erkenntnis-Sehnen der Zeit offenbarte.

Aber ich empfand, wie auf all diesem Sehnen ein Druck lastete. Der Glaube, man dürfe als Wissen nur ansehen, was mit Maß, Zahl und Gewicht im Reich der Sinne erforscht werden kann, hat diesen Druck als sein Ergebnis gezeitigt. Man wagte nicht, ein innerlich aktives Denken zu entfalten, um durch dieses die Wirklichkeit näher zu erleben, als man sie mit den Sinnen erlebt. So blieb es denn dabei, daß man sagte: mit den Mitteln, die man bisher zur Erklärung auch der höheren Wirklichkeitsformen wie der organischen angewendet hat, geht es nicht weiter. Aber wenn man dann zu Positivem kommen sollte, wenn man sagen sollte, was in der Lebenstätigkeit wirkt, da bewegte man sich in unbestimmten Ideen.

Es fehlte bei denjenigen, die aus der mechanistischen Welterklärung herausstrebten, zumeist der Mut, sich zu gestehen: wer diesen Mechanismus überwinden will, der muß auch die Denkgewohnheiten überwinden, die zu ihm geführt haben. Ein Geständnis wollte nicht erscheinen, das die Zeit gebraucht hätte. Es ist dieses: mit der Orientierung auf die Sinne hin dringt man in das ein, was mechanistisch ist. Man hat sich in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts an diese Orientierung gewöhnt. Man sollte jetzt, da das Mechanistische unbefriedigt läßt, nicht mit derselben Orientierung in höhere Gebiete dringen wollen. – Die Sinne im Menschen geben sich ihre Entfaltung[313] selbst. Mit dem, was sie sich so geben, wird man aber niemals etwas anderes als das Mechanische schauen. Will man mehr erkennen, so muß man von sich aus den tiefer liegenden Erkenntniskräften eine Gestalt geben, die den Sinnes-Kräften die Natur gibt. Die Erkenntniskräfte für das Mechanische sind durch sich selbst wach; diejenigen für die höheren Wirklichkeitsformen müssen geweckt werden.

Dieses Selbst-Geständnis des Erkenntnisstrebens erschien mir als eine Zeit-Notwendigkeit.

Ich fühlte mich glücklich, wo ich Ansätze dazu wahrnahm. So lebt in schönster Erinnerung in mir ein Besuch in Jena. Ich hatte in Weimar Vorträge über anthroposophische Themen zu halten. Es wurde auch ein Vortrag in kleinerem Kreise in Jena veranlaßt. Nach demselben gab es noch ein Zusammensein mit einem ganz kleinen Kreise. Man wollte über dasjenige diskutieren, was Theosophie zu sagen hatte. In diesem Kreise war Max Scheler, der damals in Jena als Dozent für Philosophie wirkte. In eine Erörterung über dasjenige, was er an meinen Ausführungen empfand, lief bald die Diskussion ein. Und ich empfand sogleich den tieferen Zug, der in seinem Erkenntnisstreben waltete. Es war innere Toleranz, die er meiner Anschauung entgegenbrachte. Diejenige Toleranz, die für denjenigen notwendig ist, der wirklich erkennen will.

Wir diskutierten über die erkenntnistheoretische Rechtfertigung des Geist-Erkennens. Wir sprachen über das Problem, wie sich das Eindringen in die Geistwirklichkeit nach der einen Seite ebenso erkenntnistheoretisch müsse begründen lassen, wie dasjenige in die Sinnes-Wirklichkeit nach der andern Seite.

Schelers Art, zu denken, machte auf mich einen genialischen Eindruck. Und bis heute verfolge ich seinen Erkenntnisweg mit dem tiefsten Interesse. Innige Befriedigung gewährte es mir immer, wenn ich – leider ganz selten – dem Manne, der mir damals so sympathisch geworden war, wieder begegnen konnte.

Für mich waren solche Erlebnisse bedeutsam. Jedesmal, wenn sie kamen, war wieder eine innere Notwendigkeit da, die Sicherheit des eigenen Erkenntnisweges aufs neue zu prüfen. Und in diesem immer wiederkehrenden Prüfen entfalten sich die Kräfte, die dann auch immer weitere Gebiete des geistigen Daseins erschließen.

Es liegen nun aus meinem anthroposophischen Wirken zwei[314] Ergebnisse vor; erstens meine vor aller Welt veröffentlichten Bücher, zweitens eine große Reihe von Kursen, die zunächst als Privatdruck gedacht und verkäuflich nur an Mitglieder der Theosophischen (später Anthroposophischen) Gesellschaft sein sollten. Es waren dies Nachschriften, die bei den Vorträgen mehr oder weniger gut gemacht worden sind und die – wegen mangelnder Zeit – nicht von mir korrigiert werden konnten. Mir wäre es am liebsten gewesen, wenn mündlich gesprochenes Wort mündlich gesprochenes Wort geblieben wäre. Aber die Mitglieder wollten den Privatdruck der Kurse. Und so kam er zustande. Hätte ich Zeit gehabt, die Dinge zu korrigieren, so hätte vom Anfange an die Einschränkung »Nur für Mitglieder« nicht zu bestehen gebraucht. Jetzt ist sie seit mehr als einem Jahre ja fallen gelassen.

Hier in meinem »Lebensgang« ist notwendig, vor allem zu sagen, wie sich die beiden: meine veröffentlichten Bücher und diese Privatdrucke in das einfügen, was ich als Anthroposophie ausarbeitete.

Wer mein eigenes inneres Ringen und Arbeiten für das Hinstellen der Anthroposophie vor das Bewußtsein der gegenwärtigen Zeit verfolgen will, der muß das an Hand der allgemein veröffentlichten Schriften tun. In ihnen setzte ich mich auch mit alle dem auseinander, was an Erkenntnisstreben in der Zeit vorhanden ist. Da ist gegeben, was sich mir in »geistigem Schauen« immer mehr gestaltete, was zum Gebäude der Anthroposophie – allerdings in vieler Hinsicht in unvollkommener Art – wurde.

Neben diese Forderung, die »Anthroposophie« aufzubauen und dabei nur dem zu dienen, was sich ergab, wenn man Mitteilungen aus der Geist-Welt der allgemeinen Bildungswelt von heute zu übergeben hat, trat nun aber die andere, auch dem voll entgegenzukommen, was aus der Mitgliedschaft heraus als Seelenbedürfnis, als Geistessehnsucht sich offenbarte.

Da war vor allem eine starke Neigung vorhanden, die Evangelien und den Schrift-Inhalt der Bibel über haupt in dem Lichte dargestellt zu hören, das sich als das anthroposophische ergeben hatte. Man wollte in Kursen über diese der Menschheit gegebenen Offenbarungen hören.

Indem interne Vortragskurse im Sinne dieser Forderung gehalten wurden, kam dazu noch ein anderes. Bei diesen Vorträgen waren nur Mitglieder. Sie waren mit den Anfangs-Mitteilungen[315] aus Anthroposophie bekannt. Man konnte zu ihnen eben so sprechen wie zu Vorgeschrittenen auf dem Gebiete der Anthroposophie. Die Haltung dieser internen Vorträge war eine solche, wie sie eben in Schriften nicht sein konnte, die ganz für die Öffentlichkeit bestimmt waren.

Ich durfte in internen Kreisen in einer Art über Dinge sprechen, die ich für die öffentliche Darstellung, wenn sie für sie von Anfang an bestimmt gewesen wären, hätte anders gestalten müssen.

So liegt in der Zweiheit, den öffentlichen und den privaten Schriften, in der Tat etwas vor, das aus zwei verschiedenen Untergründen stammt. Die ganz öffentlichen Schriften sind das Ergebnis dessen, was in mir rang und arbeitete; in den Privatdrucken ringt und arbeitet die Gesellschaft mit. Ich höre auf die Schwingungen im Seelenleben der Mitgliedschaft, und in meinem lebendigen Drinnenleben in dem, was ich da höre, entsteht die Haltung der Vorträge.

Es ist nirgends auch nur in geringstem Maße etwas gesagt, was nicht reinstes Ergebnis der sich aufbauenden Anthroposophie wäre. Von irgend einer Konzession an Vorurteile oder Vorempfindungen der Mitgliedschaft kann nicht die Rede sein. Wer diese Privatdrucke liest, kann sie im vollsten Sinne eben als das nehmen, was Anthroposophie zu sagen hat. Deshalb konnte ja auch ohne Bedenken, als die Anklagen nach dieser Richtung zu drängend wurden, von der Einrichtung abgegangen werden, diese Drucke nur im Kreise der Mitgliedschaft zu verbreiten. Es wird eben nur hingenommen werden müssen, daß in den von mir nicht nachgesehenen Vorlagen sich Fehlerhaftes findet.

Ein Urteil über den Inhalt eines solchen Privatdruckes wird ja allerdings nur demjenigen zugestanden werden können, der kennt, was als Urteils-Voraussetzung angenommen wird. Und das ist für die allermeisten dieser Drucke mindestens die anthroposophische Erkenntnis des Menschen, des Kosmos, insofern sein Wesen in der Anthroposophie dargestellt wird, und dessen, was als »anthroposophische Geschichte« in den Mitteilungen aus der Geist-Welt sich findet.

Quelle:
Steiner, Rudolf: Mein Lebensgang. Stuttgart 1975, S. 312-316.
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