IX.

[104] In diese Zeit (1889) fällt meine erste Reise nach Deutschland. Sie ist veranlaßt worden durch die Einladung zur Mitarbeiterschaft an der Weimarer Goethe-Ausgabe, die im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen durch das Goethe-Archiv besorgt wurde. Einige Jahre vorher war Goethes Enkel, Walter von Goethe, gestorben; er hatte Goethes handschriftlichen Nachlaß der Großherzogin als Erbe übermacht. Diese hatte damit das Goethe-Archiv begründet und im Verein mit einer Anzahl von Goethe-Kennern, an deren Spitze Herman Grimm, Gustav von Loeper und Wilhelm Scherer standen, beschlossen, eine Goethe-Ausgabe zu veranstalten, in der das von Goethe Bekannte mit dem noch unveröffentlichten Nachlaß vereinigt werden sollte.

Meine Veröffentlichungen zur Goethe-Literatur waren die Veranlassung, daß ich aufgefordert wurde, einen Teil der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes für diese Ausgabe zu bearbeiten. Um mich in dem naturwissenschaftlichen Nachlaß zu orientieren und die ersten Schritte zu meiner Arbeit zu machen, wurde ich nach Weimar gerufen.

Mein durch einige Wochen dauernder Aufenthalt in der Goethe-Stadt war für mich eine Festeszeit meines Lebens. Ich hatte jahrelang in Goethes Gedanken gelebt; jetzt durfte ich selber an den Stätten sein, an denen diese Gedanken entstanden sind. Unter dem erhebenden Eindrucke dieses Gefühles verbrachte ich diese Wochen.

Ich durfte nun Tag für Tag die Papiere vor Augen haben, auf denen Ergänzungen zu dem standen, was ich vorher für die Goethe-Ausgabe der Kürschnerschen »National-Literatur« bearbeitet hatte.

Die Arbeit an dieser Ausgabe hat in meiner Seele ein Bild von Goethes Weltanschauung ergeben. Jetzt handelte es sich darum, zu erkennen, wie dieses Bild bestehen kann im Hinblick darauf, daß sich vorher nicht Veröffentlichtes über Naturwissenschaft im Nachlasse vorfand. Mit großer Spannung arbeitete ich mich in diesen Teil des Goethe-Nachlasses hinein.

Ich glaubte bald zu erkennen, daß das noch Unveröffentlichte einen wichtigen Beitrag lieferte, um namentlich Goethes Erkenntnisart genauer zu durchschauen.[105]

Ich hatte in meinen bis dahin veröffentlichten Schriften diese Erkenntnisart so aufgefaßt, daß Goethe in der Anschauung lebte, der Mensch stehe zunächst mit seinem gewöhnlichen Bewußtsein dem wahren Wesen der ihn umgebenden Welt ferne. Und aus diesem Ferne-Stehen sproßt der Trieb auf, vor dem Erkennen der Welt erst Erkenntniskräfte in der Seele zu entwickeln, die im gewöhnlichen Bewußtsein nicht vorhanden sind.

Von diesem Gesichtspunkte aus war es bedeutungsvoll für mich, wenn aus Goethes Papieren mir Ausführungen wie die folgenden entgegentraten:

»Um uns in diesen verschiedenen Arten einigermaßen zu orientieren (Goethe meint die verschiedenen Arten des Wissens im Menschen und seines Verhältnisses zur Außenwelt), wollen wir sie einteilen in: Nutzende, Wissende, Anschauende und Umfassende.

1. Die Nutzenden, Nutzensuchenden, Fordernden sind die ersten, die das Feld der Wissenschaft gleichsam umreißen, das Praktische ergreifen. Das Bewußtsein durch Erfahrung gibt ihnen Sicherheit, das Bedürfnis eine gewisse Breite.

2. Die Wißbegierigen bedürfen eines ruhigen, uneigennützigen Blickes, einer neugierigen Unruhe, eines klaren Verstandes und stehen immer im Verhältnis mit jenen; sie verarbeiten auch nur im wissenschaftlichen Sinne dasjenige, was sie vorfinden.

3. Die Anschauenden verhalten sich schon produktiv, und das Wissen, indem es sich selbst steigert, fordert, ohne es zu bemerken, das Anschauen und geht dahin über, und so sehr sich auch die Wissenden vor der Imagination kreuzigen und segnen, so müssen sie doch, ehe sie sich versehen, die produktive Einbildungskraft zu Hilfe rufen.

4. Die Umfassenden, die man in einem stolzen Sinne die Erschaffenden nennen könnte, verhalten sich im höchsten Sinne produktiv, indem sie nämlich von Ideen ausgehen, sprechen sie die Einheit des Ganzen schon aus, und es ist gewissermaßen nachher die Sache der Natur, sich in diese Idee zu fügen.«

Klar wird aus solchen Bemerkungen: Goethe ist der Ansicht, der Mensch steht mit der gewöhnlichen Bewußtseinsform außerhalb des Wesens der Außenwelt. Er muß zu einer anderen Bewußtseinsform übergehen, wenn er mit diesem Wesen sich erkennend vereinigen will. Mir war während meines Weimarer Aufenthaltes die Frage immer entschiedener aufgetaucht: Wie[106] soll man auf den Erkenntnisgrundlagen, die Goethe gelegt hat, weiterbauen, um von seiner Anschauungsart aus denkend zu derjenigen hinüberzuleiten, die geistige Erfahrung, wie sie sich mir ergeben hatte, in sich aufnehmen kann?

Goethe ging von dem aus, was die niederen Stufen des Erkennens, die der »Nutzenden« und der »Wißbegierigen« erreichen. Dem ließ er in seiner Seele entgegenleuchten das, was in den »Anschauenden« und »Umfassenden« dem Inhalt der niedern Erkenntnisstufe durch produktive Seelenkräfte entgegenleuchten kann. Wenn er so mit dem niederen Wissen in der Seele in dem Lichte des höheren Anschauens und Umfassens stand, so fühlte er sich mit dem Wesen der Dinge vereinigt.

Das erkennende Erleben im Geiste ist damit allerdings noch nicht gegeben; aber der Weg dazu ist von der einen Seite her vorgezeichnet, von derjenigen, die sich aus dem Verhältnis des Menschen zur Außenwelt ergibt. Vor meiner Seele stand, daß erst im Erfassen der anderen Seite, die sich aus dem Verhältnis des Menschen zu sich selbst ergibt, Befriedigung kommen könne.

Wenn das Bewußtsein produktiv wird, also von sich aus zu den nächsten Bildern der Wirklichkeit etwas hinzubringt: kann es da noch in einer Wirklichkeit bleiben, oder entschwebt es dieser, um in dem Unwirklichen sich zu verlieren? Was in dem vom Bewußtsein »Produzierten« diesem gegenübersteht, das mußte durchschaut werden. Eine Verständigung des menschlichen Bewußtseins mit sich selbst müsse zuerst bewirkt werden; dann könne man die Rechtfertigung des rein geistig Erlebten finden. Solche Wege nahmen meine Gedanken, ihre früheren Formen deutlicher wiederholend, als ich über Goethes Papieren in Weimar saß.

Es war Sommer. Von dem damals gegenwärtigen Kunstleben Weimars war wenig zu bemerken. Man konnte sich in voller Ruhe dem Künstlerischen hingeben, das wie ein Denkmal für Goethes Wirken dastand. Man lebte nicht in der Gegenwart; man war entrückt in die Goethe-Zeit. Gegenwärtig war ja dazumal in Weimar die Liszt-Zeit. Aber die Vertreter dieser waren nicht da.

Die Zeiten nach den Arbeiten wurden mit den Persönlichkeiten, die im Archiv arbeiteten, verlebt. Dazu kamen die Mitarbeiter, die von auswärts für kürzere oder längere Zeit das Archiv besuchten. Ich ward mit außerordentlicher Liebenswürdigkeit[107] von Bernhard Suphan aufgenommen, dem Direktor des Goethe-Archivs, und ich fand in Julius Wahle, einem ständigen Mitarbeiter des Archivs, einen lieben Freund. Doch alles das nahm erst bestimmtere Formen an, als ich nach einem Jahr für längere Zeit wieder in das Archiv eintrat; und es wird dann erzählt werden müssen, wenn diese Zeit meines Lebens darzustellen ist.

Meine Sehnsucht ging nun vor allem darauf, Eduard von Hartmann, mit dem ich seit Jahren in brieflichem Verkehre über philosophische Dinge stand, persönlich kennen zu lernen. Das sollte während eines kurzen Aufenthaltes in Berlin, der sich an den Weimarischen anschloß, geschehen.

Ich durfte ein langes Gespräch mit dem Philosophen führen. Er lag mit aufgerichtetem Oberkörper, die Beine ausgestreckt, auf einem Sofa. In dieser Lage verbrachte er, seit sich sein Knieleiden eingestellt hatte, den weitaus größten Teil seines Lebens. Eine Stirne, die ein deutlicher Ausdruck eines klaren, scharfen Verstandes war, und Augen, die in ihrer Haltung die innerlichst gefühlte Sicherheit im Erkannten offenbarten, standen vor meinem Blicke. Ein mächtiger Bart umrahmte das Antlitz. Er sprach mit einer vollen Bestimmtheit, die andeutete, wie er einige grundlegende Gedanken über das ganze Weltbild geworfen hatte und dieses dadurch in seiner Art beleuchtete. In diesen Gedanken wurde alles sogleich mit Kritik überzogen, was an ihn von andern Anschauungen herankam. So saß ich ihm denn gegenüber, indem er mich scharf beurteilte, aber eigentlich mich innerlich doch nicht anhörte. Für ihn lag das Wesen der Dinge im Unbewußten und muß für das menschliche Bewußtsein immer dort verborgen bleiben; für mich war das Unbewußte etwas, das durch die Anstrengungen des Seelenlebens immer mehr in das Bewußtsein heraufgehoben werden kann. Ich kam im Verlauf des Gespräches darauf, zu sagen: man dürfe doch in der Vorstellung nicht von vorneherein etwas sehen, das vom Wirklichen abgesondert nur ein Unwirkliches im Bewußtsein darstelle. Es könne eine solche Ansicht doch nicht der Ausgangspunkt einer Erkenntnistheorie sein. Denn durch dieselbe versperre man sich den Zugang zu aller Wirklichkeit, indem man dann doch nur glauben könne, man lebe in Vorstellungen und könne sich einem Wirklichen nur in Vorstellungshypothesen, das heißt auf unwirkliche Art nähern. Man müsse vielmehr erst[108] prüfen, ob die Ansicht von der Vorstellung als eines Unwirklichen Geltung habe, oder ob sie nur einem Vorurteil entspringe. Eduard von Hartmann erwiderte: darüber ließe sich doch nicht streiten; es läge doch schon in der Wort-Erklärung der »Vorstellung«, daß in ihr nichts Reales gegeben sei. Als ich diese Erwiderung vernahm, bekam ich ein seelisches Frösteln. »Wort-Erklärungen« der ernsthafte Ausgangspunkt von Lebensanschauungen! Ich fühlte, wie weit ich weg war von der zeitgenössischen Philosophie. Wenn ich auf der Weiterreise im Eisenbahnwagen saß, meinen Gedanken und den Erinnerungen an den mir doch so wertvollen Besuch hingegeben, so wiederholte sich das seelische Frösteln. Es war etwas, das in mir lange nachwirkte.

Mit Ausnahme des Besuches bei Eduard von Hartmann waren die kurzen Aufenthalte, die ich im Anschlusse an denjenigen in Weimar auf meiner Reise durch Deutschland in Berlin und München nehmen konnte, ganz dem Leben in dem Künstlerischen gewidmet, das diese Orte bieten. Die Ausdehnung meines Anschauungskreises nach dieser Richtung empfand ich damals als eine besondere Bereicherung meines Seelenlebens. Und so ist diese erste größere Reise, die ich machen konnte, auch für meine Kunstanschauungen von einer weitgehenden Bedeutung gewesen. Eine Fülle von Eindrücken lebte in mir, als ich zunächst nach dieser Reise wieder für einige Wochen im Salzkammergute bei der Familie lebte, deren Söhne ich schon seit vielen Jahren unterrichtete. Ich war auch weiter darauf angewiesen, eine äußere Beschäftigung im Privatunterrichte zu finden. Und ich wurde in demselben auch innerlich gehalten, weil ich den Knaben, dessen Erziehung mir vor Jahren anvertraut war, und bei dem es mir gelungen war, die Seele aus einem völlig schlummernden Zustande zum Wachen zu bringen, bis zu einem gewissen Punkte seiner Lebensentwickelung bringen wollte.

In der nächsten Zeit, nach der Rückkehr nach Wien, durfte ich viel in einem Kreise von Menschen verkehren, der von einer Frau zusammengehalten wurde, deren mystisch-theosophische Seelenverfassung auf alle Teilnehmer des Kreises einen tiefen Eindruck machte. Mir waren die Stunden, die ich in dem Hause dieser Frau, Marie Lang, damals verleben durfte, in hohem Maße wertvoll. Ein ernster Zug der Lebensauffassung und Lebensempfindung lebte bei Marie Lang sich in einer edelschönen Art dar. In einer klangvoll-eindringlichen Sprache[109] kamen ihre tiefen Seelenerlebnisse zum Ausdrucke. Ein innerlich mit sich und der Welt schwer ringendes Leben konnte in ihr nur im mystischen Suchen eine wenn auch nicht völlige Befriedigung finden. So war sie zur Seele eines Kreises von suchenden Menschen wie geschaffen. In diesen Kreis war die Theosophie gedrungen, die von H.P. Blavatsky am Ende des vorigen Jahrhunderts ausgegangen war. Franz Hartmann, der durch seine zahlreichen theosophischen Werke und durch seine Beziehungen zu H.P. Blavatsky in weiten Kreisen berühmt geworden ist, hat auch in diesen Kreis seine Theosophie hineingebracht. Marie Lang hatte manches von dieser Theosophie aufgenommen. Die Gedankeninhalte, die sie da finden konnte, schienen in mancher Beziehung dem Zuge ihrer Seele entgegenzukommen. Doch war, was sie von dieser Seite annahm, ihr nur äußerlich angeflogen. Sie trug aber ein mystisches Gut in sich, das auf ganz elementarische Art sich aus einem durch das Leben geprüften Herzen in das Bewußtsein gehoben hatte.

Die Architekten, Literaten und sonstigen Persönlichkeiten, die ich in dem Hause von Marie Lang traf, hätten sich wohl kaum für die Theosophie, die von Franz Hartmann vermittelt wurde, interessiert, wenn nicht Marie Lang einigen Anteil an ihr genommen hätte. Und am wenigsten hätte ich mich selbst dafür interessiert. Denn die Art, sich zur geistigen Welt zu verhalten, die sich in den Schriften Franz Hartmanns darlebte, war meiner Geistesrichtung völlig entgegengesetzt. Ich konnte ihr nicht zugestehen, daß sie von wirklicher innerer Wahrheit getragen ist. Mich beschäftigte weniger ihr Inhalt als die Art, wie sie auf Menschen wirkte, die doch wahrhaft Suchende waren.

Durch Marie Lang wurde ich bekannt mit Frau Rosa Mayreder, die mit ihr befreundet war. Rosa Mayreder gehört zu denjenigen Persönlichkeiten, zu denen ich in meinem Leben die größte Verehrung gefaßt und an deren Entwickelungsgang ich den größten Anteil genommen habe. Ich kann mir ganz gut denken, daß, was ich hier zu sagen habe, sie selbst wenig befriedigen werde; allein ich empfinde, was durch sie in mein Leben getreten ist, in solcher Art. Von den Schriften Rosa Mayreders, die nachher auf viele Menschen einen so berechtigt großen Eindruck gemacht haben, und die sie ganz zweifellos an einen ganz hervorragenden Platz in der Literatur stellen, war damals noch nichts erschienen. Aber, was sich in diesen Schriften offenbart,[110] lebte in Rosa Mayreder in einer geistigen Ausdrucksform, zu der ich mich mit der allerstärksten inneren Sympathie wenden mußte. Diese Frau machte auf mich den Eindruck, als habe sie jede der einzelnen menschlichen Seelengaben in einem solchen Maße, daß diese in ihrem harmonischen Zusammenwirken den rechten Ausdruck des Menschlichen formten. Sie vereinigt verschiedene Künstlergaben mit einem freien, eindringlichen Beobachtungssinn. Ihre Malerei ist ebenso getragen von individueller Lebensentfaltung wie von hingebender Vertiefung in die objektive Welt. Die Erzählungen, mit denen sie ihre schriftstellerische Laufbahn begann, sind vollendete Harmonien, die aus persönlichem Ringen und ganz objektiv Betrachtetem zusammenklingen. Ihre folgenden Werke tragen immer mehr diesen Charakter. Am deutlichsten tritt das in ihrem später erschienenen zweibändigen Werke »Kritik der Weiblichkeit« zu Tage. Ich betrachte es als einen schönen Gewinn meines Lebens, manche Stunde in der Zeit, die ich hier schildere, mit Rosa Mayreder in den Jahren ihres Suchens und seelischen Ringens verbracht zu haben.

Ich muß auch da wieder auf eines meiner Verhältnisse zu Menschen blicken, die über die Gedanken-Inhalte hinüber und in einem gewissen Sinne ganz unabhängig von diesen entstanden sind und intensives Leben gewannen. Denn meine Weltanschauung und noch mehr meine Empfindungsrichtung waren nicht diejenigen Rosa Mayreders. Die Art, wie ich aus der gegenwärtig anerkannten Wissenschaftlichkeit zum Erleben des Geistigen aufsteige, kann ihr unmöglich sympathisch sein. Sie sucht diese Wissenschaftlichkeit zur Begründung von Ideen zu verwenden, die auf die volle Ausgestaltung der menschlichen Persönlichkeit zielen, ohne daß sie in diese Persönlichkeit die Erkenntnis einer rein geistigen Welt hereinspielen läßt. Was mir nach dieser Richtung eine Notwendigkeit ist, kann ihr kaum etwas sagen. Sie ist ganz hin gegeben an die Forderungen der unmittelbaren menschlichen Individualität und wendet den in dieser Individualität wirkenden geistigen Kräften nicht ihre Aufmerksamkeit zu. Sie hat es durch diese ihre Art zu der bisher bedeutsamsten Darstellung des Wesens der Weiblichkeit und deren Lebensforderungen gebracht.

Ich konnte Rosa Mayreder auch nie befriedigen durch die Anschauung, die sie sich von meinem Verhältnis zur Kunst bildete. Sie meinte: ich verkenne das eigentlich Künstlerische, während[111] ich doch gerade danach rang, dieses spezifisch Künstlerische mit der Anschauung zu erfassen, die sich mir durch das Erleben des Geistigen in der Seele ergab. Sie hielt dafür, daß ich in die Offenbarungen der Sinneswelt nicht genug eindringen und dadurch an das wirklich Künstlerische nicht herankommen könne, während ich darnach suchte, gerade in die volle Wahrheit der sinnengemäßen Formen einzudringen. – Das alles hat nichts weggenommen von dem innigen freundschaftlichen Anteil, den ich an dieser Persönlichkeit in mir entwickelte in der Zeit, als ich ihr wertvollste Stunden meines Lebens verdankte, und der sich bis zum heutigen Tage wahrhaftig nicht vermindert hat.

Im Hause Rosa Mayreders durfte ich des öfteren teilnehmen an den Unterhaltungen, zu denen sich da geistvolle Menschen versammelten. Still, scheinbar mehr in sich schauend als auf die Umgebung hörend, saß da Hugo Wolf, mit dem Rosa Mayreder eng befreundet war. Man hörte in der Seele auf ihn, auch wenn er noch so wenig sprach. Denn, was er lebte, teilte sich auf geheimnisvolle Art denen mit, die mit ihm zusammen sein konnten. – In inniger Liebe war ich zugetan, dem Gatten von Frau Rosa, dem menschlich und künstlerisch so feinen Karl Mayreder, und auch dessen künstlerisch enthusiastischem Bruder Julius Mayreder. Marie Lang und ihr Kreis, Friedrich Eckstein, der damals ganz in theosophischer Geistesströmung und Weltauffassung stand, waren oft da.

Es war dies die Zeit, in der in meiner Seele sich meine »Philosophie der Freiheit« in immer bestimmteren Formen ausgestaltete. Rosa Mayreder ist die Persönlichkeit, mit der ich über diese Formen am meisten in der Zeit des Entstehens meines Buches gesprochen habe. Sie hat einen Teil der innerlichen Einsamkeit, in der ich gelebt habe, von mir hinweggenommen. Sie strebte nach der Anschauung der unmittelbaren menschlichen Persönlichkeit, ich nach der Weltoffenbarung, welche diese Persönlichkeit auf dem Grunde der Seele durch das sich öffnende Geistesauge suchen kann. Zwischen beiden gab es manche Brücke. Und oft hat im weiteren Leben in dankbarster Erinnerung vor meinem Geiste das eine oder das andere Bild der Erlebnisse gestanden von der Art wie ein Gang durch die herrlichen Alpenwälder, auf dem Rosa Mayreder und ich über den wahren Sinn der menschlichen Freiheit sprachen.

Quelle:
Steiner, Rudolf: Mein Lebensgang. Stuttgart 1975, S. 104-112.
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