§ 38. Die drei transzendentalen Ideen oder die kritische Psychologie, Kosmologie und Theologie.

[218] 1. Einleitendes und Einteilung. Die Lehrbücher der alten Metaphysik, wie sie auch Kant noch der Vorschrift der Zeit gemäß seinen Vorlesungen zugrunde legte, zählten vier Teile derselben auf: eine rationale Ontologie, Psychologie, Kosmologie und Theologie (vgl. § 28, 2). Die Ontologie als dogmatische Wissenschaft vom Seienden wird durch das ganze Werk Kants zunichte gemacht; gegen die Psychologie, Kosmologie und Theologie, soweit sie dogmatisch zu sein beanspruchen, richtet sich die transzendentale Dialektik. Sie will den transzendentalen oder dialektischen Schein zerstreuen, welcher der menschlichen Vernunft als eine »natürliche und unvermeidliche Illusion« anhaftet: als ob Seele, Welt und höchstes Wesen erkennbare und bestimmbare Dinge (Substanzen) und nicht vielmehr »subjektive Bedingungen unseres Denkens« wären. Diese die Erfahrung übersteigenden (transzendenten) Behauptungen, die sich als konstitutive Grundsätze gebärden, sollen auf ihren wahren Wert als Ideen, d. i. regulative Prinzipien zurückgeführt werden.

Wie wir (S. 210 f.) sahen, entsprach das Aufsuchen der Ideen dem syllogistischen Verfahren der formalen Logik. So entsprechen denn auch die einzelnen transzendentalen Ideen den drei Arten des Vernunftschlusses: 1. dem kategorischen die Idee einer absoluten Einheit des denkenden Subjekts (Seele, 2. dem hypothetischen die einer absoluten Einheit der Reihe der Bedingungen (Welt), 3. dem disjunktiven die Idee eines Inbegriffs alles Möglichen oder einer absoluten Einheit aller Gegenstände des Denkens überhaupt (Gott). Der täuschende Schein einer Seelensubstanz wird in dem Kapitel von den Paralogismen (Fehlschlüssen) der reinen Vernunft zerstreut; der Widerstreit in bezug auf den Weltbegriff in der Antithetik, der Lehre von den Antinomien der reinen Vernunft, entwickelt und gelöst; die Unmöglichkeit aller Beweise vom[218] Dasein Gottes vermittelst spekulativer Vernunft endlich in der Lehre vom »Ideal der reinen Vernunft« dargetan.

2. Die kritische Psychologie. Alle Schlüsse, mit denen die alte, »rationale« Psychologie die Immaterialität, Substantialität (Beharrlichkeit), Simplizität (Einfachheit) und Personalität der »Seele« nachweisen zu können glaubte, sind Fehlschlüsse (Paralogismen). Denn sie machen das »Ich denke«, welches als transzendentale Apperzeption (§ 34), d.h. als erkenntnistheoretischer Maßstab die Möglichkeit der Erfahrung begründet, die an Inhalt gänzlich leere Vorstellung: »Ich« zu einem für sich bestehenden Wesen. Die Einfachheit der Vorstellung eines Subjekts bedeutet aber noch lange keine Erkenntnis der Einfachheit des Subjekts selber. Übrigens kann uns die Frage, ob die Seele eine einfache Substanz ist oder nicht, zur Erklärung der Erscheinungen derselben ganz gleichgültig sein (Proleg. § 44); denn aus dem bloßen Begriffe eines denkenden Wesens folgt noch nicht die mindeste empirische Erkenntnis. Kritischen Wert hat die Seele nicht als »hypostasierter« (verdinglichter) Gegenstand, sondern als regulative Idee, die uns das Problem der Einheit aller seelischen Tätigkeiten stellt. Wir müssen verfahren, als ob eine solche Einheit in unserem Bewußtsein vorhanden sei. Macht man dagegen den Träger der Vorstellungen zu dem der Bewegung, so läuft man Gefahr, die Seele stofflich zu denken. Die kritische Psychologie bewahrt nicht bloß vor einseitigem Spiritualismus, sondern auch vor ebenso einseitigem Materialismus bezw. Spinozismus, indem sie uns lehrt, Bewußtseinsvorgänge nicht in materielle Bewegungsvorgänge zu verwandeln.

Das Problem des Zusammenhanges von Seele und Körper löst sich für sie in die Möglichkeit der Verbindung des äußeren und inneren Sinnes (§ 33), somit auch der Sinnlichkeit und des Verstandes in demselben Bewußtsein auf. Ein Beweis der Unsterblichkeit ist unmöglich, da der Begriff der Beharrlichkeit sich nur auf die Zeit des Lebens beziehen kann, der Tod des Menschen aber das Ende aller Erfahrung bedeutet; das Gegenteil ist freilich ebensowenig zu beweisen.

Die rationale Seelenlehre ist demnach eine Scheinwissenschaft. Die empirische Psychologie dagegen gehört zur empirischen Naturlehre oder angewandten Philosophie und ist aus der reinen Philosophie oder Metaphysik zu verbannen.[219]

3. Die kritische Kosmologie. Steigt die Vernunft in der Reihe der objektiven Bedingungen der Erscheinungen immer höher hinauf, bis zu einem Unbedingten, so verwickelt sie sich unvermeidlich in einen »ganz natürlichen« Widerstreit mit sich selbst, der vor allem geeignet ist, sie aus ihrem »dogmatischen Schlummer« zu wecken. Diese »Antithetik« zerfällt, den vier Klassen der Kategorien entsprechend, in vier Antinomien, bei denen nacheinander der Gesichtspunkt der Zusammensetzung, der Teilung, der Entstehung und der Abhängigkeit in Frage kommt, und »Thesis« und »Antithesis« sich jedesmal widersprechen.

Es behaupten nämlich in der


Antinomie der


1. Quantität

die Thesis: Die Welt hat der Zeit und dem Raume nach einen Anfang bezw. eine Grenze.

die Antithesis: Die Welt hat keinen Anfang in der Zeit und dem Raume nach keine Grenzen.

2. Qualität

die Thesis: Alles in der Welt ist einfach oder aus Einfachem zusammengesetzt.

die Antithesis: Nichts in der Welt ist einfach oder aus Einfachem zusammengesetzt.

3. Relation

die Thesis: Es gibt in der Welt eine Kausalität nach Freiheitsgesetzen (kürzer: Es existiert Freiheit in der Welt).

die Antithesis: Es gibt keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Naturgesetzen.

4. Modalität;

die Thesis: Es gehört zu der Welt, als ihre Ursache, ein schlechthin notwendiges Wesen.

die Antithesis: Es gibt kein schlechthin notwendiges Wesen in der Welt, sondern alles in ihr ist zufällig.


Die beiden ersten heißen auch mathematische, die beiden letzten dynamische Antinomien. Beide Seiten, die Thesen wie die Antithesen, können »durch gleich einleuchtende, klare und unwiderstehliche Beweise« dargetan werden. Der Grund ist, daß ich in beiden Fällen unkritischerweise (nach der Anschauung des naiven, dogmatischen[220] Realismus) Dinge an sich angenommen habe, wo doch nur unsere Vorstellungen von solchen vorhanden sind. Liegt aber der Widerspruch nicht in den vermeintlichen Gegenständen, sondern nur in unserer Auffassung von denselben, so ist eine Versöhnung und Lösung des Widerstreits möglich. Endlichkeit und Unendlichkeit, Teilbarkeit und Unteilbarkeit, Natur und Freiheit, Zufall und Notwendigkeit – alle diese uralten, schon von den antiken Denkern behandelten Probleme (auch der mit historischen Rückblicken so sparsame Systematiker Kant kommt hier auf die Atomistiker und Monadologen, Platoniker, Epikureer und Eleaten zu sprechen) sind als Ideen, d. i. regulative Prinzipien, zu begreifen. Wir können keine einzige Erfahrungstatsache aus ihnen ableiten, aber wir müssen »die Bedingungen der... Naturerscheinungen in einer solchen nirgend zu vollendenden Untersuchung verfolgen, als ob dieselbe an sich unendlich sei« (Kr. 700), als ob es eine Vollständigkeit der Bedingungen gäbe.

Auf die einzelnen Probleme dieses von Kant besonders ausführlich behandelten Kapitels (die Antinomienlehre umfaßt in der Originalausgabe 163 Seiten, d. i. über ein Sechstel des ganzen Werkes) kann hier nicht eingegangen werden. Nur ein Problem sei als Beispiel kurz hervor gehoben, weil es für die Grundlegung der Ethik in Betracht kommt (s. § 39, 1): das der Vereinigung von Kausalität (Naturnotwendigkeit) und Freiheit. Dieses sonst so unlösbar scheinende Problem, diese crux der Metaphysiker, löst sich ohne besondere Schwierigkeit, sobald wir uns das Verhältnis der Idee zu der ihr niemals vollkommen entsprechenden Erfahrung vor Augen stellen. Dann »kann ich ohne Widerspruch sagen: alle Handlungen vernünftiger Wesen, sofern sie Erscheinungen sind (in irgendeiner Erfahrung angetroffen werden), stehen unter der Naturnotwendigkeit, ebendieselben Handlungen aber, bloß respektive auf das vernünftige Subjekt und dessen Vermögen nach bloßer Vernunft zu handeln, sind frei«, denn »das Verhältnis der Handlungen zu objektiven Vernunftgründen ist kein Zeitverhältnis« (Proleg: § 63). Auf die Erscheinungen der Erfahrung behält das Kausalgesetz unbeschränkte Anwendung; »das Naturgesetz bleibt«, mag das vernünftige Wesen aus Vernunft, »mithin durch Freiheit«, handeln oder nicht; denn in ihren Wirkungen in der Erscheinung ist dieselbe jederzeit »den Naturgesetzen der Sinnlichkeit« unterworfen. Es läßt[221] sich aber auch eine Kausalität denken, »die nicht Erscheinung ist«, d.h. nicht unter Zeitbedingungen steht, und nach dieser handelt das Subjekt als Noumenon. Jene erste Art zu wirken, genauer: Art des »Gesetze seiner Kausalität«, nennt Kant den empirischen, die zweite den intelligibelen Charakter des Subjekts. Der intelligibele Charakter erklärt Handlungen für notwendig, die nicht geschehen sind und vielleicht nie geschehen werden, und behauptet umgekehrt von anderen, die geschehen sind und nach dem Naturlauf geschehen mußten (z.B. ein Verbrechen), daß sie nicht hätten geschehen sollen. Im empirischen Charakter des Menschen ist jede Handlung, ehe sie noch geschieht, vorher bestimmt, während der intelligibele kein Vorher und Nachher kennt. Bei alledem ist zu beachten, daß die Freiheit »hier nur als transzendentale Idee behandelt wird«. Kant erklärt zum Schlüsse des betr. Abschnittes (Kr. 585 f.) ausdrücklich, er habe damit nicht die Wirklichkeit, ja nicht einmal die Möglichkeit der Freiheit als wirkenden Vermögens beweisen wollen, sondern: »daß Natur der Kausalität aus Freiheit wenigstens nicht widerstreite, das war das einzige, was wir leisten konnten, und woran es uns auch einzig und allein gelegen war«.

In ähnlicher Weise, wie die dritte, wird die vierte Antinomie betr. Zufall und notwendiges Wesen aufgelöst. Sie führt uns unmittelbar zu

4. Der kritischen Theologie, die in der Gottesidee das »Ideal der reinen Vernunft« zu ihrem Gegenstande hat. Auch hier kommt der dialektische Schein natürlich und unvermeidlich zustande. Unsere Vernunft hat das dringende Bedürfnis, ihre Frage nach dem Warum? immer weiter zu erstrecken, bis sie schließlich zu dem »Inbegriff aller Möglichkeit« gelangt. Anstatt aber nun bei diesem Inbegriff als einer Idee (der durchgängigen Bestimmung aller Dinge) stehen zu bleiben, verdinglicht sie ihn zu einem besonderen Wesen, macht aus der Idee ein Individuum, ein ens realissimum, ein transzendentes Objekt. Hier ist aber der dialektische Schein auch am leichtesten aufzudecken. Denn das höchste Wesen, welches doch schließlich nur angenommen wird, um Verknüpfung, Ordnung und Einheit, kurz »durchgängige Bestimmung« in die Erfahrung zu bringen, ist von vornherein leicht als Idee von den Verstandesbegriffen zu unterscheiden, da sein Begriff sichtlich alle Erfahrung übersteigt. Die transzendentale Dialektik zeigt, daß diese Annahme »eine[222] notwendige Hypothese zur Befriedigung unserer Vernunft«, aber kein Dogma ist, und daß wir fälschlich die »subjektiven Bedingungen unseres Denkens« zu »objektiven Bedingungen der Sachen selbst« gestempelt haben (vgl. Proleg. § 55). Will man aber die Einrichtung der Natur direkt aus dem Willen eines höchsten Wesens erklären, so ist das keine Philosophie mehr, sondern ein Geständnis, daß es damit bei uns zu Ende gehe (ebend. § 44).

Wir verweisen nur kurz auf Kants ausführliche (Kr. 611-670) Widerlegung der vermeintlichen Beweise der spekulativen Vernunft vom Dasein Gottes: a) des ontologischen, b) des kosmologischen, c) des physikotheologischen. – a) Der nervus probandi liegt in der Widerlegung des ersten Beweises, der aus bloßen Begriffen auf das Dasein eines höchsten Wesens schließt. Der bloße Begriff eines Gegenstandes kann aber immer nur seine Möglichkeit, niemals seine wirkliche Existenz beweisen. Das Dasein ist eine Kategorie, die außerhalb des Feldes der Erfahrung keine Bedeutung hat. – b) Der sogenannte kosmologische Beweis aus dem Dasein der Welt wird abgelehnt, weil man kein Recht hat, von endlichen Dingen auf ein unendliches, von bedingten auf eine unbedingte Ursache zu schließen; er ist übrigens nur eine andere Form des ontologischen. – c) Der physikotheologische, aus der zweckmäßigen Einrichtung der Welt geschöpfte Beweis endlich, dessen die natürliche Theologie sich mit Vorliebe zu bedienen pflegt, ist zwar der älteste, klarste und achtungswerteste, aber dennoch trüglich. Er würde auch im besten Falle nur einen Weltbaumeister, nicht einen Weltschöpfer beweisen, womit wir dann wieder bei dem kosmologischen angelangt wären. – Ebensowenig freilich, wie die Existenz, läßt sich die Nicht-Existenz einer Gottheit wissenschaftlich nachweisen.

So ist denn auch das Ideal eines höchsten Wesens nur eine Idee, ein regulatives Prinzip unserer Vernunft, alle Verbindungen in der Welt so anzusehen, als ob sie aus einer allgenügsamen und notwendigen Ursache entspringe. Nicht dagegen ein konstitutives; das wäre vielmehr der Grundsatz einer »faulen« Vernunft (ignava ratio), welche die Naturuntersuchung an irgendeiner Stelle als schlechthin vollendet ansieht, oder der »verkehrten« Vernunft (perversa ratio), die durch Verdinglichung der Ideen die systematische Einheit der Natur gänzlich zerstört. Die wahre Begründung des Gottesglaubens liegt nach Kant auf dem Gebiete der Ethik.[223]

Die Darstellung der Hauptmomente von Kants Kritik der reinen Vernunft, d. i. der theoretischen Erkenntnis, ist hiermit vollendet. Die auf die »transzendentale Dialektik« noch folgende »transzendentale Methodenlehre« ist zwar eine Fundgrube trefflicher Bemerkungen über »Disziplin, Kanon, Architektonik und Geschichte« der reinen Vernunft, deren Lektüre wir nachdrücklichst empfehlen möchten, fügt aber zu dem Systeme der Anschauungsformen, Kategorien, Grundsätze und Ideen, das Kant mit dem Namen »transzendentale Elementarlehre« bezeichnet hat, sachlich nichts Neues hinzu.

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 2, Leipzig 51919, S. 218-224.
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