§ 32. Die aristotelische Ethik.

  • [138] Literatur: Die genaueren Titel der Schriften von Hartenstein, Trendelenburg, Luthardt (Vergleich mit der christlichen Ethik), Ueberweg (Vergleich mit Herbart und Kant) u. v. a. s. bei Ueberweg I, Anhang S. 88 f. Vgl. auch Th. Gomperz a. a. O. S. 189-245. – Von erklärenden Ausgaben wird besonders gerühmt die englische von Burnet, The Ethics of Aristotle, London 1900. Die nikomachische Ethik ist in modernes Deutsch übertragen von A. Lasson, Jena 1909, außerdem in der Phil. Bibl. übersetzt von E. Rolfes, Leipzig 1911.

Auch in der Ethik verläßt Aristoteles die von seinem großen Vorgänger so glücklich eingeschlagene erkenntnistheoretische Bahn. Er fragt nicht nach der Idee des[138] Guten, nach einem Sittlichen an sich und seinem Geltungswert. Seine Ethik ist nicht auf die Erkenntnis des einen, ewigen, unveränderlichen Ideals gerichtet, sondern auf die Einsicht in das dem Menschen erreichbare Gute (prakton agathon), das nach Geschlecht, Stand, Beruf, Volk verschieden, ein anderes für Mann, Weib und Sklaven ist. Es ist nicht zu begreifen, meint er Eth. Nicom. I 4, was die »befreundeten Männer« (Platoniker) mit ihrem Ding an sich (auto hekaston) sagen wollen. Gesetzt auch, es gäbe ein Gutes an sich, so wäre es doch für den Menschen weder ausführbar noch erreichbar; »nur ein solches aber wird gesucht.« »Es ist nicht erfindlich, wie der Weber oder der Dachdecker für seine Kunst aus dem Wissen des Guten an sich Nutzen ziehen oder, wie der der bessere Arzt oder Feldherr sein soll, der die Idee selbst geschaut hat.« Das Gute ist vielmehr, so beginnt die nikomachische Ethik, in jeder Kunst und jeder Handlung »das, wonach alles hinstrebt«, also der Zweck des betreffenden Dinges: für die Heilkunst die Gesundheit, für die Kriegskunst der Sieg, für die Wirtschaftslehre der Reichtum usw. Als Maßstab gilt also die bloße Nützlichkeit. Denn unser Ziel ist nicht Erkenntnis, sondern Handeln. Nicht »der Theorie halber«, »nicht, damit wir wissen, was die Tugend ist, sondern damit wir tüchtige Leute werden«, treiben wir Ethik (II 2, 1). Aristoteles verzichtet demnach von vornherein darauf, eine Ethik als Wissenschaft zu begründen – man müsse sich auf diesem Gebiete vielmehr, im Gegensatz zu Mathematik und Metaphysik, mit Wahrscheinlichkeiten zufrieden geben –, er begnügt sich mit empirischen Begriffsbestimmungen und anregenden moralphilosophischen Betrachtungen.

Ein Gutes allerdings gibt es, das von allen Menschen um seiner selbst willen begehrt wird: die Glückseligkeit (eudaimonia), der oberste aller Zwecke, das höchste aller Güter. Aristoteles denkt nun freilich hoch genug, um sie nicht im Sinnengenuß oder im bloßen Besitz von Reichtum, Ehren und anderen äußeren Gütern zu erblicken, sondern in der »vernünftigen oder tugendhaften Tätigkeit der Seele.« Allein schon in dem, was als Erfordernis zu dieser letzteren bezeichnet wird, zeigt sich, daß die Selbständigkeit des Sittlichen aufgegeben ist. Es gehören dazu: 1. die Entwicklung zur vollen Reife des Mannes (nicht Weibes!), 2. gewisse äußere Güter wie Gesundheit, Wohlhabenheit, schöne Gestalt, wenigstens als Beförderungsmittel, 3. das Leben mit anderen im[139] Staate. Nicht das Gute ist eben mehr das Ziel seiner Ethik, sondern die guten Personen.

Die Vorzüge der Seele, welche jene vollkommene Tätigkeit (energeia) hervorrufen, bestehen in solchen des Denkens und des Wollens. Daraus ergibt sich die Einteilung der Tugenden in dianoëtische und ethische (Denk- und Charakter-) Tugenden. Die höheren sind die ersteren: Vernunft, Wissenschaft, Weisheit, Kunst und praktische Einsicht. In dieser, auch theoretisch als Abgrenzung des rein Menschlichen vom Animalischen wertvollen, Auffassung liegt zwar eine berechtigte Reaktion gegen die Wissensverachtung der Zyniker, aber auch etwas von dem Dünkel des von der gemeinen Masse sich vornehm abschließenden Gelehrten. Eigentlich denkselig sind nur die Götter und von den Menschen die »Theoretiker« (hoi theôrountes); für die große Menge der gewöhnlichen Menschen hegt Aristoteles weniger Interesse. – Die vom 2. bis 6. Buche der Nikomachischen Ethik beschriebenen ethischen Tugenden sind: Mannhaftigkeit, Mäßigkeit, vornehmer Sinn, Selbständigkeit, richtige Selbstschätzung, Milde, Wahrhaftigkeit, Fröhlichkeit, Freundschaft und Gerechtigkeit. Und zwar bildet jede dieser Tugenden die richtige Mitte (mesotês) zwischen zwei zu vermeidenden Extremen, z.B. die Tapferkeit zwischen Feigheit und Tollkühnheit, die Mäßigkeit zwischen Wollust und Stumpfsinn, die Freigebigkeit zwischen Geiz und Verschwendung. Worin das Mittlere seinen Maßstab finde, wird nicht genauer begründet, sondern nur auf die praktische Einsicht verwiesen. Die ethischen Tugenden werden definiert als diejenigen Willens- oder Gesinnungs-(êthos) Beschaffenheiten, welche die unserer Natur angemessene Mitte einhalten, gemäß einer vernünftigen Bestimmung (logos), wie sie der Einsichtige, geben wird. Es sind eigentlich nur Versittlichungen des sinnlichen Teils unserer Seele, dauernde Fertigkeiten (hexeis) in der Beherrschung der Affekte, hervorgebracht durch jene den Innersten Kern von Aristoteles' Ethik bildende vernünftige Betätigung der Seele, die von selbst zur Tüchtigkeit (Tugend, aretê) und zum Glücke führt. Die vollkommenste der ethischen Tugenden und zu gleich die Grundlage des staatlichen Lebens ist die Gerechtigkeit (Eth. Nic. Buch V); als austeilende Gerechtigkeit verteilt sie Ehre und materiellen Nutzen nach der Würdigkeit, als ausgleichende gibt sie bei Rechtsgeschäften und Strafvergehen jedem das ihm Zukommende.[140]

Einen hervorragenden philosophischen Wert vermögen wir allen diesen Erörterungen, welche die Ethik auf Psychologie und Anthropologie gründen, nicht zuzuerkennen. Dagegen zeugen Aristoteles' ethische Schriften an vielen Stellen von reicher Welt- und Menschenkenntnis, sowie von feiner psychologischer Beobachtung. Besonders eingehend wird neben der Gerechtigkeit die Freundschaft, die sich bei unserem Philosophen schließlich zu einer Art Nächstenliebe erweitert, behandelt (Buch VIII und IX). Beide Tugenden zusammen sind die sittliche Grundlage alles menschlichen Zusammenlebens in der Familie und im Staate. So bildet die Ethik nur eine Einleitung in die Politik, als deren Teil sie einmal geradezu bezeichnet wird.

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 1, Leipzig 51919, S. 138-141.
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