§ 33. Staats- und Kunstlehre des Aristoteles.

  • [141] Literatur: Die »Politik« (8 Bücher), namentlich die Schilderung des Idealstaats, ist leider unvollendet. Außer den allgemeinen Darstellungen vgl. namentlich Gomperz III, 245-360 und W. Oncken, Die Staatslehre des Aristoteles, Lpz. 1870-1875; auch Pöhlmann a. a. O. S. 581-610. – J. Bernays, Grundriß der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über die Wirkung der Tragödie, Berlin 1857. J. Vahlen, Beiträge zur aristotelischen Poetik, Wien 1865-1867. Döring, Die Kunstlehre des Aristoteles, Jena 1876.

1. Staatslehre.

Die sittliche Aufgabe ist nur im Staate lösbar. Der Mensch trägt von Natur den Trieb zur Gemeinschaft mit seinesgleichen in sich, ist ein »politisches Lebewesen« (zôon politikon). Zeitlich geht allerdings dem Staate (der Stadt) die Familie und die aus Familien sich zusammensetzende Dorfgemeinde voraus; seiner »Natur« aber, d. i. seinem Zweck nach steht er über jenen, wie das Ganze über seinen Teilen, und muß das Recht regelnden Eingreifens in die menschlichen Verhältnisse besitzen. Sein Ziel ist Erhaltung, Sicherung und Vervollkommnung nicht bloß des physischen Daseins, sondern auch des sittlichen Lebens seiner Bürger und läuft so auf dasselbe hinaus, was die Ethik bereits für das private Leben als höchstes Gut bezeichnet hatte: die Glückseligkeit. »Entstanden um des (nackten) Lebens willen, besteht der Staat um des Gut-Lebens (eu zên) willen.« Bis dahin entfernt sich Aristoteles, abgesehen von der Betonung des Glückseligkeitsprinzips, nicht weit von Plato.[141] Auch in der Wertschätzung einer streng geregelten gemeinsamen Jugenderziehung als wichtigster Aufgabe des Staates stimmt er mit diesem überein. Und nicht weniger als Plato eifert er gegen die Gewinnsucht, die über die Befriedigung des naturgemäßen Bedarfs hinausgeht, gegen Kapitalanhäufung, ja gegen Geld- und Handelsgeschäfte überhaupt. Auch nach Aristoteles gehört der Bürger nicht sich selbst, sondern dem Staate an, der ein Organismus im großen ist, übrigens, wie bei Plato, in der Form des Kleinstaates (polisd.h. Stadtstaat mit Landbesitz) gedacht wird.

Anderseits macht sich Jedoch auch in der Politik, wie zu erwarten war, die andere Geistesart des Schülers, seine größere Nüchternheit, deutlich bemerkbar. Er hält die von Plato erstrebte Einheitlichkeit des Denkens, Fühlens und Wollens weder für erreichbar noch auch nur für begehrenswert. Eine solche »Symphonie« scheint ihm eher eine Monotonie zu sein. Dazu sind, wie er meint, die Bedürfnisse, Ansprüche und Leistungen der Menschen zu verschieden. Die Abschaffung des Privateigentums geht wider die Natur! Sein Maßstab ist nicht der ideale, sondern der Durchschnittsmensch, seine Staatslehre nicht eine in großen Zügen entworfene Politik des Sollens, sondern, gleich seiner Ethik, eine solche der rechten Mitte, die den Anschluß an das historisch Gegebene sucht, mit allen Vorzügen und Schwächen solcher »Real«-Politik. Da er seinen Staat »organisch« auf Familie und Privatbesitz aufbaut, muß er natürlich die platonische Güter-, Weiber- und Kindergemeinschaft verwerfen. Die Sklaverei findet er in der »Natur« begründet, so lange – eine merkwürdige Vorausahnung des 19. Jahrhunderts! – noch keine Maschinen erfunden seien, die deren Arbeit verrichteten. Es gebe von der Natur zu niedriger Arbeit bestimmte Menschen nicht bloß, sondern auch Völker, wie die Barbaren im Vergleich mit den Griechen. Alle banausische Erwerbsarbeit, insbesondere auch Geldgeschäfte, ja selbst die berufsmäßige Ausübung der schönen Künste dünkt ihm des Freien und Vollbürgers unwürdig. Die Tugend bedarf der Muße. Der Schwerpunkt des Staatslebens fällt für ihn in den wohlhabenden Mittelstand. Die bestehende Religion will er – auch dies eine Analogie zur Gegenwart – trotz seiner abweichenden persönlichen Ansichten für das »Volk« aufrecht erhalten. Die Vollbürger, zu denen der Erwerbs-und Arbeiterstand jedoch nicht gehört, sollen an politischen Rechten[142] einander gleich sein, wenngleich für die Beamten und Richterwahl ein dem alten preußischen ähnliches Klassensystem empfohlen wird. Indem ein jeder den Zwecken des Ganzen dient, wird er auch die eigenen am besten fördern. Aristoteles' Staatsideal steht ungefähr in der Mitte zwischen Platos Kommunismus und dem laissez-faire (panta eateon, Politik II, 4, 12) der extremen Individualisten. Seine Durchführung erklärt er selbst für äußerst schwierig, »da allezeit nur die Schwächeren, nicht die jeweils Mächtigeren, sich um Gleichheit und Gerechtigkeit ernstlich kümmern«.

Seine Einzellehren, insbesondere die bekannte von den sechs Grundformen der Staatsverfassung – den zweckmäßigen: Monarchie, Aristokratie, gemäßigte Volksherrschaft (politeia) und ihren Entartungen: Tyrannis, Oligarchie, Pöbelherrschaft (bei ihm dêmokratia) – genauer zu entwickeln, kann nicht unsere Sache sein. Der Philosoph der »rechten Mitte« steht natürlich auf seiten der »Politie«. Die Vorzüge seiner Darstellung liegen auch hier wieder nicht im eigentlich Philosophischen, sondern im Historisch-Psychologischen, in der Sorgfalt, dem guten politischen Blick und der reichen Erfahrung, mit der er die Entstehung, Entwicklung und den Untergang dieser Staatsverfassungen bezw. ihren Übergang ineinander schildert. Daß sein Werk an verschiedenen Stellen ein Torso blieb, ist namentlich in bezug auf die Erziehungslehre zu bedauern.

Zum Schluß werfen wir noch einen kurzen Blick auf


2. die Kunstlehre

des Aristoteles. Zu einer systematischen Durcharbeitung des von ihm als »poietisch« abgegrenzten Gebietes der künstlerischen Tätigkeit scheint der Philosoph nicht gelangt zu sein. Erhalten ist nur seine Schrift »Über die Dichtkunst« (deutsch von Ueberweg, griechisch und deutsch mit Einleitung und Anmerkungen von Susemihl, kritische Ausgabe von Vahlen, 3. Aufl. 1886) und auch von dieser im wesentlichen nur der die Tragödie und das Epos betreffende Teil. Die Lyrik scheint er überhaupt nicht berücksichtigt zu haben. Das stimmt zu seiner ganzen nüchternen Anschauungsweise. Denn auch die Kunst leitet Aristoteles im Gegensatz zu Plato nicht aus der Schöpferkraft der erzeugenden Ideen ab, sondern von dem allen Geschöpfen gemeinsamen, besonders aber den Menschen eigenen Naturtrieb der Nachahmung.[143] Freilich soll die Nachahmung nicht im bloßen Kopieren des Zufälligen bestehen, sondern das »Wahrscheinliche« und »das, was meistenteils geschieht«, so »wie es geschehen müßte« darstellen, sodaß die freie Tätigkeit nicht ganz unterdrückt ist. Aber ein weiterer Maßstab für das schöpferische Gestalten wird nicht gegeben; und nicht das Ewige und Unveränderliche, sondern die Welt des Veränderlichen ist ihr Gebiet. Der Zweck der Kunst ist – abgesehen von den dem unmittelbaren praktischen Nutzen dienenden technischen Künsten – zunächst Erholung und edle Unterhaltung des Geistes, indes doch auch ein höherer: zeitweilige Befreiung (Läuterung, katharsis) der Seele von den sie überwältigenden Affekten. Denn das scheint, nach den mannigfachen neueren Untersuchungen von Bernays u. a., der Sinn der berühmten und viel umstrittenen aristotelischen Definition der Tragödie zu sein; »Die Tragödie ist die Nachahmung einer bedeutenden und abgeschlossenen Handlung von einem gewissen Umfang in anmutiger Rede... welche durch Mitleid und Furcht die Reinigung dieser Affekte (zugleich: von diesen Affekten) vollzieht.«

Eine Art Mittelstellung zwischen Poetik und Ethik nimmt die Rhetorik ein, deren Zweck Überzeugung durch Wahrscheinlichkeitsgründe ist, und deren verschiedenen Gattungen (der beratenden oder Staats-, der gerichtlichen und der Prunkrede) Aristoteles ausführliche, auch mit interessanten psychologischen Abschnitten (Lehre von den Affekten, Charaktertypen, Lebensaltern) untermischte Erörterungen gewidmet hat, die indes dem Zwecke unserer Darstellung fern liegen.

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 1, Leipzig 51919, S. 141-144.
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