§ 55. Allgemeines.

Jüngere Origenisten (Gregor von Nyssa).

[228] Erst jetzt treten wir in das eigentliche Mittelalter ein. Die kräftigen Stämme des Nordens fluten von allen Seiten über die Grenzen des Imperiums herein und drohen dessen alte Kultur zu ersticken. Und sicherlich hätte die in der Auflösung begriffene griechisch-römische Philosophie, Kunst und Sitte der rohen germanischen Kraft nicht widerstehen können, wäre nicht eins gewesen, vor dem auch die rauhen Barbaren sich beugten: die christliche Kirche. Diese hatte sich eben jetzt unter dem Schutze der weltlichen Macht gefestigt und begonnen, sich eine mächtige, rasch erstarkende äußere Organisation zu schaffen. Diese letztere aber konnte nur dadurch erreicht werden, daß man, wie das nun durch eine Reihe von Konzilen geschah, die Grunddogmen endgültig fixierte, Vertreter abweichender Richtungen als Häretiker ausschloß. Gerade dadurch, daß sie eine einheitliche Formel bot, wurde die Kirche eine Macht, mit der auch die weltliche Politik rechnen konnte und rechnete. Für die Entwicklung der theologisch-philosophischen Spekulation aber, die sich bis dahin in freieren Formen vollzogen hatte, war die Folge die, daß sie nun nicht mehr die Glaubenslehre selbst umzubilden wagte. Das Dogma gut immer mehr als unantastbar und wird als Bedingung der Seligkeit angesehen. Die Philosophie, soweit man überhaupt von einer solchen noch reden kann, wird zur[228] bloßen Dienerin der Theologie. Die christliche »Wissenschaft«, d.h. die gelehrte Spekulation der Theologen, beschäftigt sich nur noch mit der gelehrten Ausarbeitung der Einzelheiten, oder mit einer nachträglichen »philosophischen« Begründung der von vornherein feststehenden Kirchenlehre. Eine Geschichte der Philosophie kann sich daher für die folgenden Jahrhunderte sehr kurz fassen. Eine etwas ausführlichere Betrachtung verdient nur die großartige Gestalt Augustins.

Am meisten spekulativer Betrieb erhielt sich zunächst noch in der Schule des Origenes. Auch sie freilich stellt sich jetzt immer mehr auf den Boden der Rechtgläubigkeit. Das damit nicht Übereinstimmende in der Lehre des Stifters wird entweder stillschweigend beseitigt oder auch ausdrücklich bekämpft. Man sucht gewissermaßen »den Glauben des Athanasius in der origenistischen Wissenschaft unterzubringen« (Harnack). Die bedeutendsten Kirchenväter dieser Richtung sind die sogen, drei »großen Kappadozier«: die Bischöfe Basilius von Cäsarea († 379), sein Bruder Gregor von Nyssa († 394) und Gregor von Nazianz († 390). Ersterer hat sich als Kirchenfürst und Mitbegründer des Mönchtums, der letzte als Theologe und Kanzelredner Berühmtheit erworben. Für uns von einer gewissen Bedeutung ist allein Gregor von Nyssa, insofern er in seiner Großen katechetischen Rede eine Art Vernunftbeweis für die kirchliche Lehre versuchte. Die Dreieinigkeitslehre sei die richtige Mitte zwischen dem heidnischen Polytheismus und übertriebenem Monotheismus (Monarchianismus); der Ausdruck »Gott« bezeichne das Wesen, an dem die drei Personen Anteil haben. Die Seele, die mit dem Leibe entstehe, besitze nach dessen Untergang eine unräumliche Existenz, vermöge aber später seine Teile wieder herauszufinden und sich anzueignen! Die menschliche Willensfreiheit steht ihm, im Gegensatz zu Augustin, fest; daher ist auch das Sittlich-Böse – das einzige Übel – notwendig. Aus Gottes Güte folgt jedoch die schließliche Rettung aller Wesen und ihre Wiedervereinigung mit ihm. Bemerkenswert ist seine, neuplatonische Einflüsse verratende, Idealisierung der Sinnenwelt. Die Elemente des Körpers (seine Gestalt, Farbe, Schwere usw.) sind im Grunde stofflose Ideen, deren von Gott veranlaßtes Zusammenwirken den Körper hervorbringt. Für seine Unterordnung unter die Kirchenlehre ist bezeichnend das Gespräch mit seiner Schwester Makrina über die Auferstehung, worin er die Auferstehung nicht aus[229] Überzeugung, sondern »auf Befehl der heiligen Schrift« annehmen zu wollen erklärt und nur nachträglich noch einen Vernunftbeweis versucht. Immerhin ist Gregor ein bis zu einem gewissen Grade origineller Denker, der z.B. den schönen Satz geschrieben hat: »Wer sein Herz von aller Schlechtigkeit und Aufregung befreit, der sieht in der eigenen Schönheit das Abbild des göttlichen Wesens.«

Gegenüber den hochfliegenden Spekulationen der Origenisten und der von ihnen eifrig geübten allegorischen Methode drang die Schule von Antiochien auf nüchternes Denken, ohne indes damit durchzudringen.

Von abendländischen Kirchenvätern vor Augustin nennen wir nur den bekannten Bischof Ambrosius von Mailand († 397), der in seinem vielgelesenen Buche De officiis ministrorum libri III eine nach dem Muster von Cicero de officiis ausgeführte christliche Sittenlehre gab, übrigens ohne philosophische Bedeutung ist (vgl. die Monographie von Th. Foerster, Halle 1884).

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 1, Leipzig 51919, S. 228-230.
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