Was Philosophie ist, kann man nur durch eigenes Philosophieren und im Laufe desselben lernen. Wir vermeiden es daher absichtlich, uns gleich zu Anfang dieser Philosophiegeschichte in tiefergehende Auseinandersetzungen über Begriff und Wesen der Philosophie ein zulassen, sondern beschränken uns darauf, eine gedrängte Skizze ihrer Namensgeschichte zu geben, um daran einige Bemerkungen über unsere eigene Auffassung zu schließen.
Der Ausdruck philosophein wird zuerst von Herodot (I, 30) gebraucht, und zwar in seinem ursprünglichen Wortsinne der Liebe zur Weisheit, des Bildungsstrebens; ähnlich in der Grabrede des Perikles (Thukyd. II, 40). Neben dieser allgemeineren erhält das Wort seine engere Bedeutung als Fachausdruck für die Wissenschaft »vom Seienden« erst bei Plato und Aristoteles.1 Es bezeichnet bei diesen Klassikern der antiken Philosophie fast genau das, was wir heute unter »Wissenschaft« verstehen, und wird deshalb auch in der Mehrzahl (philosophiai) gebraucht. Aristoteles insbesondere unterscheidet bestimmter seine »erste« Philosophie, welche die ersten Gründe und Prinzipien alles Seienden erforscht, von den übrigen Philosophien oder Wissenschaftszweigen, desgleichen von den vorhergegangenen Denkrichtungen, die ebenfalls philosophiai heißen. Entsprechend der weiteren Entwicklung der Philosophie selbst, fällt dann ihr Begriff bei den nacharistotelischen Schulen der Stoiker und Epikureer wesentlich mit dem Streben nach vernunftgemäßer Glückseligkeit zusammen: die »Weisheitsliebe« wird zur Lebenskunst, während die Einzelwissenschaften, allmählich erstarkt, unter besonderen Namen sich von der gemeinsamen Stammmutter loszulösen beginnen. In ihrer letzten Periode endlich[3] tritt, die antike Philosophie in enge Verbindung mit der religiösen Spekulation.
Die Begriffsbestimmungen des späteren Altertums erleiden zwar im christlichen Mittelalter keine wesentliche Veränderung, aber die Philosophie ist zur dienenden Magd der Theologie geworden, deren von vornherein feststehende Dogmen sie mit den Mitteln der menschlichen Vernunft rechtfertigen, begründen, im besten Falle weiter ausgestalten soll. Mit dem Wiedererwachen der Wissenschaften im Zeitalter der Renaissance wirft die Philosophie das kirchliche Joch ab, betrachtet als ihre einzige Quelle das »natürliche Licht« der Vernunft und wird wieder zu dem, was sie im klassischen Altertum gewesen war: einer auf vernunftmäßiger Begründung ruhenden Welterkenntnis und Lebensanschauung. Im Gegensatz zum kirchlichen Dogma wird sie so zur »Weltweisheit«, wie man im 18. Jahrhundert zu sagen pflegte, Ihr Wissenschaftscharakter tritt natürlich bei den verschiedenen Systemen in verschieden starkem Grade hervor, am entschiedensten bei Kant.
Wie aus der vorangegangenen Skizze klar geworden sein wird, ist »Philosophie« schon im Altertum in einem engeren und in einem weiteren Sinne – Kant würde sagen: nach ihrem Schulbegriff und nach ihrem Weltbegriff2 – gebraucht worden. Dem schließt auch die folgende Begriffsbestimmung sich an. Philosophie im engeren Sinne, genauer Philosophie als Wissenschaft, sucht die Vereinheitlichung der Erkenntnis, welche die Einzelwissenschaften auf ihren Teilgebieten erstreben, auf dem Gesamtgebiet menschlichen Erkennens überhaupt zu erreichen, indem sie dessen Grundsätze und Grundbegriffe festzustellen und in systematischen Zusammenhang miteinander zu bringen sucht. Am kürzesten könnte man deshalb Philosophie in diesem Sinne vielleicht als Prinzipienlehre der Wissenschaften bezeichnen. Alle Wissenschaften haben das Bestreben, ihre letzten Grundlagen philosophisch nachzuweisen. Wir unterscheiden heute nicht mehr bloß die älteren philosophischen Lehrfächer der Logik (Erkenntnistheorie), Psychologie, Ethik und Ästhetik, sondern reden auch von einer Rechts-, Geschichts-, Natur-, Sprach-, Religions-, Sozialphilosophie,[4] ja sogar von einer Philosophie der Mathematik und der Technik.
Neben dieser Philosophie im engeren, erkenntniskritischen Sinne, welche die Einzelwissenschaften oder Kulturgüter (wie Moral, Religion, Kunst, soziales Leben) zum Gegenstande ihres erkenntniskritischen Verfahrens macht, steht nun aber noch die Philosophie »nach ihrem Weltbegriffe«, die auf Grund der gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnis ein geschlossenes Weltbild zu entwerfen sucht, sonach mit dem Anspruch einer Weltanschauung auftritt. Sie unterscheidet sich von der den gleichen Anspruch erhebenden künstlerischen oder religiösen Weltanschauung durch ihre Gebundenheit an das Vernunftmäßige Denken. In diesem allgemeineren Sinne, den eine Geschichte der Philosophie nicht übersehen darf, weil das philosophische Denken tatsächlich in zahlreichen Fällen diesen Weg eingeschlagen hat, würde Philosophie etwa gleichzusetzen sein mit: vernunftgemäßer Weltbetrachtung.
Erstes Erfordernis aller Geschichtsschreibung ist gewissenhafte Erforschung der Tatsachen nach den Grundsätzen kritisch-historischer Methode, die hier als bekannt vorausgesetzt werden darf. Sind die Tatsachen auf solche Weise sorgfältig ermittelt, so handelt es sich um ihre Verbindung zu einem Ganzen geschichtlicher Darstellung. Eine gewisse Subjektivität ist hierbei unvermeidlich; ohne sie würde ein farb-und blutloses Machwerk entstehen. Insbesondere muß der Verfasser einer Philosophiegeschichte, gerade so wie der Autor einer Geschichte der Mathematik oder der Naturwissenschaften Mathematiker oder Naturforscher sein muß, selbst bis zu einem gewissen Grade Philosoph sein, d. i. zu philosophieren verstehen, denn er hat nicht, wie man es noch vor 100 Jahren verstand, eine philologische Literargeschichte oder eine anekdotenhafte Sammlung merkwürdiger Meinungen zu geben. Wie die Behandlung, so ist auch die Abgrenzung des Stoffes nicht leicht. Das Verhältnis zur Kulturgeschichte, die Entwicklung und die Probleme der positiven Wissenschaften erfordern Berücksichtigung, ferner neben dem systematischen der persönliche (biographische) Faktor.[5]
Die zuverlässigsten Quellen für die Feststellung des Tatsächlichen sind natürlich in erster Linie die Werke der Philosophen selbst. Für die Neuzeit, seit der Erfindung der Buchdruckerkunst, fließen diese Quellen reichlich genug. Neuere und neueste Entdeckungen und Veröffentlichungen einzelner Schriften und namentlich brieflicher Äußerungen haben zwar manche wertvolle Ergänzungen und Berichtigungen im einzelnen, aber im Verhältnis zur Gesamtmasse des bereits Bekannten doch nicht allzuviel Neues von grundstürzender Bedeutung gebracht. Auch über die christliche Scholastik des Mittelalters sind wir durch die zum größten Teile noch erhaltenen Originalwerke ziemlich zuverlässig unterrichtet. Am ungünstigsten steht es in dieser Beziehung mit der Philosophie des Altertums. Aus ihrer ältesten, der vorsokratischen Periode sind uns leider nur zufällig erhaltene Bruchstücke aufbewahrt, aus der nacharistotelischen Philosophie der Griechen nicht viel mehr. Um so erfreulicher ist die Tatsache, daß wenigstens die Werke ihrer Klassiker, Plato und Aristoteles, fast vollständig erhalten sind, aus der späteren Zeit die Schriften des Lukrez, Cicero, Seneka, Plutarch, Epiktet, der wichtigsten Neuplatoniker und Kirchenväter. Für die fehlenden Teile besitzen wir immerhin eine Art sekundärer Quellen in den, freilich meist erst aus nachchristlicher Zeit stammenden, literarhistorischen Berichten (s. unten S. 14 f.).
Die einzige Sammlung von Hauptwerken der Philosophie, die wir bisher in Deutschland besitzen, bildet die von v. Kirchmann begründete, später in den Verlag von Dürr (jetzt F. Meiner) in Leipzig übergegangene Philosophische Bibliothek. Sie enthält die sämtlichen philosophischen Schriften von Descartes, Plato, Spinoza und Kant; die Hauptwerke von Aristoteles, Bacon, Berkeley, Bruno, Cicero, Comte, Condillac, Eriugena, Fichte, Grotius, Hegel, Hume, Julian, La Mettrie, Leibniz, Lessing, Locke, Macchiavelli, Schelling, Schiller, Schleiermacher, Sextus Empiricus, Shaftesbury, einzelnes von d'Alembert, Fries, Herbart, Lotze, Wolff, – die fremdsprachlichen in deutscher Übersetzung – und wird noch weiter vervollständigt werden, bezw. in zeitgemäßer Neuauflage erscheinen (vgl. unter der Literatur zu den einzelnen Philosophen).
Die Geschichtsschreibung der Philosophie ist eine verhältnismäßig junge Wissenschaft.. Die ältesten historischen Darstellungen, wie die des Engländers Stanley[6] (London 1655) oder des Deutschen Brucker (1731 bis 1737 und 1742 bis 1744), sind heute für uns völlig wertlos. Ein systematisches Interesse für sie erwacht erst nach der großen Erneuerung der Philosophie durch Kant. Indessen sind die Darstellungen aus dem Ende des 18. und dem Anfang des 19. Jahrhunderts (von Tiedemann, Buhle, Tennemann, Fries u. a.) jetzt teils veraltet, teils leiden sie, wie namentlich die geistvollen Vorlesungen von Hegel (Bd. XIII – XV der S. W., Berlin 1833-36), unter der Konstruktionssucht ihrer Verfasser. In Frankreich machte sich in den 40er Jahren namentlich Victor Cousin und seine Schule um die Durchforschung der Geschichte der Philosophie verdient. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden die Gesamtdarstellungen derselben immer häufiger; die Bibliographie in Bd. I, § 4 des gleich zu erwähnenden Werkes von Ueberweg zählt in ihrer neuesten Auflage nicht weniger als 59 seit diesem Zeitraum auf. Wir heben an dieser Stelle nur die wichtigsten hervor:
A). F. Ueberweg, Grundriß der Geschichte der Philosophie (4 Bände), seit Ueberwegs Tod (1871) fortgeführt und bedeutend erweitert von Prof. M. Heinze-Leipzig, nach dessen Tode (1909) von Praechter, Baumgartner, Frischeisen-Köhler und Oesterreich, jetzt in 10. bezw. 11. Auflage vorliegend; zwar trocken, aber als reichhaltige Stoffsammlung und Nachschlagebuch (mit ausführlicher Bibliographie) für den Fachmann unentbehrlich.
W. Windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, 7. Aufl. 1916; mehr eine Geschichte der Probleme, scharf, geistvoll, eigenartig, dem Fortgeschritteneren sehr zu empfehlen.
J. E. Erdmann, Grundriß der Geschichte der Philosophie, 2 Bände, 1866 (in 4. Aufl. von Benno Erdmann, 1896), namentlich für das Mittelalter und die Zeit von 1830-1860.
Stöckl, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie (3. Aufl. 1889) einseitig konfessionell (katholisch), ein kürzerer Grundriß desselben, 2. Aufl. hrsg. von Kirstein, Mainz 1911.
Allgemeine Geschichte der Philosophie von Wundt, Oldenberg, Goldziher, H. v. Arnim, Bäumker, Windelband, 1909 (Bd. I, 5 der Teubnerschen Kultur der Gegenwart).
P. Deussen, Allgemeine Geschichte der Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Religionen, 6 Bde., Lpz.[7] 1894-1918. Schopenhauerscher Standpunkt. Besondere Berücksichtigung der indischen Philosophie.
B) Neben diesen Gesamtdarstellungen seien noch einige hervorragende Werke über einzelne philosophische Richtungen oder Disziplinen erwähnt:
F. A. Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, 1. Aufl. 1866, 8. Aufl. (mit Einleitung und kritischem Nachtrag von H. Cohen) 1908; seit 1905 auch bei Reclam, hrg. von O. A. Ellissen.
Theob. Ziegler, Geschichte der Ethik, 2 Bände, 1881, 1886 (nur bis zum 17. Jh.).
H. Siebeck, Geschichte der Psychologie, 2 Bände 1880, 1884 (bis Thomas von Aquino).
K. Prantl, Geschichte der Logik im Abendlande, 4 Bde., 1855-70 (bis zur Renaissance).
K. Lasswitz, Geschichte der Atomistik vom Mittelalter bis zu Newton, 2 Bände, 1889-90.
R. Richter, Der Skeptizismus in der Philosophie, 2 Bde., 1904, 1908.
Ed. v. Hartmann, Geschichte der Metaphysik, 2 Bde., 1899f.
Ludw. Stein, Die soziale Frage im Lichte der Philosophie, Stuttgart 1897, 2. Aufl. 1903.
C) Darstellungen in Einzelbildern bieten:
Große Denker, unter Mitwirkung einer Reihe Gelehrter (darunter Hönigswald, Kinkel, R. Lehmann, Medicus, Menzer, Natorp, R. Richter, Windelband) herausg. von E. von Aster, Leipzig 1912.
R. Eucken, Die Lebensanschauungen der großen Denker, 12. Aufl. Leipzig 1918.
Frommanns Klassiker der Philosophie (hrsg. von R. Falckenberg); darin erschienen: Fechner, Hobbes, Kierkegaard, Rousseau, Spencer, Nietzsche, Kant, Aristoteles, Platon, Schopenhauer, Carlyle, Lotze, Wundt, Mill, Goethe, die Stoa, Feuerbach, Lessing, Descartes, Hartmann.
Ganz der philosophiegeschichtlichen Forschung widmet sich das seit 1888 in Berlin erscheinende Archiv für Geschichte der Philosophie (herausg. von L. Stein u. a.); außerdem finden sich zahlreiche Beiträge in den übrigen deutschen und ausländischen Fachzeitschriften. Reichhaltiges Material enthält auch R. Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 3 Bde. (über 2000 Seiten), 1910; vgl. auch dessen Philosophen-Lexikon, 1912. Seit 1910 gab Arnold Ruge einige Jahre unter dem Titel Die Philosophie[8] der Gegenwart ein Jahrbuch heraus, das die gesamte jährlich erscheinende wissenschaftlich-philosophische Literatur systematisch zusammenstellte.
Was die Einteilung des Stoffes betrifft, folgen wir der Einfachheit halber der alten Einteilung der Weltgeschichte im Altertum, Mittelalter und Neuzeit. Die Philosophie des Altertums teilen wir in vier größere Perioden: I. eine vorzugsweise kosmologische: die vorsokratische Philosophie; II. eine vorherrschend anthropologische : Sophisten, Sokrates, Sokratiker; III. die systematische Periode oder die klassische Philosophie der Griechen: Plato, Aristoteles; IV. die in erster Linie auf das Praktische gerichtete hellenistisch-römische Philosophie, und als deren Anhang: die neuplatonische Theosophie.
Die Hauptabschnitte der christlichen Philosophie des Mittelalters bilden: I. die Patristik oder Philosophie der Kirchenväter; II. die Scholastik und Mystik.
Die Philosophie der Neuzeit endlich zerfällt in; 1. die Philosophie der Übergangszeit (15. und 16. Jahrhundert); II. die Zeit der großen metaphysischen Systeme (17. Jahrhundert); III. die Philosophie der Aufklärung (18. Jahrhundert); IV. die Neubegründung der Philosophie durch Kant; V. die großen nachkantischen Systeme (1. Hälfte des 19. Jahrhunderts); VI. die Philosophie der Gegenwart (seit etwa 1840).
Ehe wir uns der Geschichte der griechischen Philosophie zuwenden, werfen wir einen kurzen Blick auf die sogenannte »orientalische Philosophie«.
Die Geschichte der Philosophie ist weder Religions-noch Sittengeschichte, die Philosophie selbst besteht weder in theologischer Spekulation noch in praktischer Sittenlehre. Von einer orientalischen »Philosophie« kann man unter solchen Voraussetzungen nur in bedingtem Sinne reden. Der Hauptgrund aber, weshalb wir mit fast sämtlichen Darstellungen der allgemeinen Geschichte der Philosophie von einem näheren Eingehen Abstand nehmen, ist der, daß sie zu dem gesamten europäischen Denken in zu entfernter Beziehung steht. Die einzige unter ihnen aber, die einen wirklich philosophischen Charakter trägt, die tiefsinnige Spekulation der Inder, ist viel zu umfangreich, um Nichtspezialisten eine auf selbständigem Quellenstudium beruhende Darstellung zu gestatten.
1. Die allerdings zum Teil spekulative Götterlehre der Ägypter kann unmöglich als Philosophie In unserem Sinne gelten, ebensowenig die religiösen Vorstellungen der alten Assyrer und Babylonier. Auch die von Zarathustra (Zoroaster) reformierte altpersische Religion enthält, außer ihrem allgemeinen dualistischen Prinzip eines Reiches des Lichts (des Guten) und der Finsternis (des Bösen), das uns bei den Manichäern (§ 52) wieder begegnen wird, keine Bestandteile philosophischer Art. Ebenso zeigt das Volk der Hebräer wenig philosophische Anlagen.
2. Die sogenannte chinesische Philosophie ist in ihrem Hauptvertreter Kung-tse d.h. Meister Kung (von den Jesuiten latinisiert in Konfuzius, um 500 v. Chr.) wesentlich praktische Sitten- und Staatslehre, die auf bemerkenswerter sittlicher Höhe steht (»Liebet euch untereinander«, »Vergeltet Gutes mit Gutem und Übles mit – Gerechtigkeit«, »Was du nicht willst, daß dir geschehe, das tue anderen nicht«), dagegen einer theoretischen Grundlage fast völlig entbehrt zu haben scheint. Nur einmal wird folgende Stufenleiter aufgestellt: Das Wissen vervollkommnen besteht darin, die Dinge zu untersuchen; ist das Wissen vollkommen, dann erst ist das Denken wahrhaftig; ist das Denken wahrhaftig, dann erst ist das Herz lauter, die Persönlichkeit ausgebildet, das Hauswesen geregelt, das Staatswesen geordnet. Die Kardinaltugenden sind: Menschlichkeit, Rechtlichkeit, Schicklichkeit, Weisheit und Treue, das Grundprinzip das der[10] richtigen Mitte. Besonders stark betont wird das Gebot der Kindespflicht. Für metaphysische Fragen zeigt Kung kein Verständnis; Religion ist ihm gleichbedeutend mit den altüberlieferten Satzungen und Gebräuchen, wie er denn einmal offenherzig von sich selber bekennt: »Ich bin ein Überlieferer, kein Schöpfer.« In alledem ist er der Typus des Chinesen. Daher auch sein bis heute dauernder ungeheurer Einfluß; nicht weniger als 1500 Tempel sind ihm geweiht. (Weiteres s. bei von der Gabelentz, Confucius und seine Lehre, Leipzig 1888.) Die Lehre des »Meister Kung« wurde zwei Jahrhunderte später von Meng-tse (Mencius) weiter gebildet und philosophisch vertieft. Über ihn, dessen Sittensprüche einen adeln Sinn und aufmerksame Menschenbeobachtung verraten, vgl. die Monographie von F. Faber (Elberfeld 1877).
Eine weit tiefsinnigere Natur als Konfuzius war sein älterer Zeitgenosse Lao-tse, d. i. der Alte, der an den Anfang der Dinge einen namenlosen Urgrund (Tao) setzt, aus dem der Vater des Alls und aller Kräfte und Tugenden hervorgeht. Selbst unerforschlich, unkörperlich und Maß aller Maße, schreibt es, als die vernünftige Ordnung der Dinge, dem Handeln des Menschen den Weg vor. Zu ihm soll der Weise emporstreben, durch Loslösung von allem Sinnlichen und mystisches Sich-Insichselbst-Zurückziehen. (Vgl. Laotse, Vom Sinn des Lebens sowie Das wahre Buch vom quellenden Urgrund und Vom südlichen Blütenland in der Wilhelmschen Sammlung.)
Wohl hatte der hochsinnige Weise einzelne begeisterte Nachfolger und Fortbildner, indes scheint der weltfremde »Taoismus« im Volke doch nie tiefere Wurzeln geschlagen zu haben, im Gegensatz zu dem recht auf das praktische Wesen des Chinesen berechneten Konfuzianismus. Eine neue Blüte erlebte die chinesische Philosophie im 11. und 12. nachchristlichen Jahrhundert, indem Tschou-tse und Tschu-hi der Lehre des Konfuzius eine metaphysisch-naturphilosophische Grundlage zu geben suchten. Dieser Neukonfuzianismus besitzt noch heute in den höheren Kreisen Chinas das Übergewicht über den Taoismus und den im ersten nachchristlichen Jahrhundert aus Indien eingeführten Buddhismus und hat sich auch nach Japan verbreitet, wo er sowohl die alte, nationale Schinto-Religion als auch den seit dem 6. Jahrhundert n. Chr. von China her eingedrungenen, aber altersschwach gewordenen Buddhismus zurückdrängte. Seitdem befindet sich die »Philosophie« der Chinesen anscheinend im Zustande dauernder[11] Stagnation: anstatt neuen Schaffens Auswendiglernen der »klassischen« Schriften und zahllose Kommentare zu den letzteren.
3. Weit mehr spekulativen Gehalt als das chinesische weist das indische Denken auf, dem man in Europa seit den letzten sechs Jahrzehnten ein immer tiefer eindringendes Studium gewidmet hat, und das von einzelnen dieser Forscher, wie den Deutschen Max Müller (in Oxford †) und Paul Deussen (in Kiel), den höchsten Erzeugnissen abendländischer Philosophie an die Seite gestellt wird. Wir müssen uns begnügen, die Hauptsache hervorzuheben. Den Mittelpunkt des gesamten indischen Philosophierens, in seinen verschiedenen Systemen, bildet die Lehre vom Brahman, dem alle Welten hervorbringenden, tragenden und in sich zurückschlingenden, über alle Endlichkeit erhabenen All-Einen, und die vom Atman, dem eigenen Selbst oder der menschlichen Seele. Die Einheit beider, dadurch daß die Seele erkennt; Tat twam asi (= das bist du), verkünden in schwungvoller Dichtersprache die altindischen Upanishads (d. i. Geheimlehre des Veda oder »heiligen Wissens«)3. Indem unsere Seele in diesem Gedanken Ruhe findet, stößt sie die ganze Sinnenwelt als wertlos und leidvoll von sich. Aber da der Mensch sich doch nun einmal seiner eigenen Beschränktheit wie auch der Vielheit der Sinnendinge beständig bewußt bleibt, so mußte in der Fortentwicklung des indischen Denkens ein innerer Widerspruch entstehen. Ihn suchte die Sankhya-Philosophie zu lösen, indem sie die Wirklichkeit der Welt und der Einzelseele bejahte, sowie den Gegensatz von Natur und Geist zugab. Dem Vedanta-System dagegen ist, ähnlich wie später den griechischen Eleaten (s. § 6), Welt und Einzelseele bloßer Schein und Zaubertrug (der »Schleier der Maya«). Wahrheit liegt nur im Brahman. Denn »nur durch die Offenbarung kann man dies überliefe höchste Brahman erkennen, nicht durch eigenes Nachdenken« : also theologische Spekulation, nicht Philosophie! Nur für das niedere Wissen existiert eine Vielheit von Seelen, die, durch ihre eigene Schuld in die Welt der Körperlichkeit getreten, in dieser mancherlei Formen durchwandeln. Für das höhere Wissen gibt es nur das eine, ungeteilte Brahman, das zugleich Sein und[12] Denken und mit meinem eigenen Selbst identisch ist. Andere Systeme betonen mehr logische oder naturphilosophische Gesichtspunkte. Das von Carvaka predigt sogar krassen Materialismus, Verachtung aller Religion als Priestertrugs und, als höchstes Ziel des Menschen, den sinnlichen Genuß; freilich ist die Carvakalehre nicht spezifisch indisch mehr zu nennen. – Für eingehendere Studien verweisen wir auf das zu Anfang des § genannte dreibändige Werk Deussens, ferner auf Deussen, Das System des Vedanta, 2. Aufl., 1906, außerdem auf die Werke von: v. Schröder, Indiens Literatur und Kultur in historischer Entwicklung, 1887, sowie Max Müller (in deutscher Übersetzung): Physische Religion, Leipzig 1892; Anthropologische Religion, 1894, und besonders: Theosophie oder psychologische Religion, 1895.
Der gleichfalls auf indischem Boden erwachsene, aber später durch Verfolgungen von dort (nach Hinterindien, China, Japan, Tibet, Ceylon) verdrängte Buddhismus teilt mit der Spekulation der Brahminen den pessimistisch-mystischen Grundzug, ist aber wesentlich religiös, praktische Heilslehre. Die von hohem sittlichem Idealismus erfüllte, aber auch zu passivem Quietismus, Unterdrückung auch der gesunden Sinnlichkeit und mönchischer Weltflucht neigende Lehre des indischen Königssohnes dringt neuerdings sogar in Europa vor. Es wurde sogar eine deutsche »Monatsschrift für den Buddhismus«, Der Buddhist, »Publikationsorgan des buddhistischen Missionsvereins« gegründet und 1918 eine Neubuddhistische Zeitschrift (Berlin-Wilmersdorf). Übrigens scheint sich in neuester Zeit bis zu einem gewissen Grade eine Versöhnung des altindischen mit dem europäischen Geiste anzubahnen in der Gestalt des bengalischen Denkers und Dichters Rabindranath Tagore, der neben dem Einssein der Einzelseele mit der Gottheit oder dem All doch auch das Eigenrecht der Persönlichkeit stark hervorhebt, die von dem Quietismus der Beschauung zur Selbstverwirklichung im Handeln führt (vgl. P. Natorp, Die Weltalter des Geistes, 1918, S. 39-51).
Gerade diejenigen Völker also, die den Griechen am nächsten wohnten und mit ihnen in Handelsbeziehungen standen, die Ägypter, Phönizier, Babylonier haben sich[13] nicht zu einer Philosophie erhoben, die von ihren religiösen, d. i. mythologischen Vorstellungen unabhängig gewesen wäre. Es ist daher Torheit, den Ursprung der griechischen Philosophie im Orient zu suchen. Ein solches Bestreben ist auch bei den Griechen selbst während ihrer Blütezeit nie hervorgetreten; erst in den Zeiten des Verfalls, insbesondere des Neuplatonismus (s. Kap. 14 u. 15), suchte man den eigenen, mit morgenländischen Lehren vermischten Philosophemen größeres Ansehen zu geben, indem man sie als Erzeugnisse uralter Weisheit des Morgenlandes darstellte. Auch den Versuchen von Gladisch und Röth, um die Mitte des 19. Jahrhunderts, ist ein solcher Nachweis nicht gelungen.
Im Gegensatz dazu wird die folgende Darstellung erweisen, daß die griechische Philosophie in ganz natürlicher Weise aus den Daseinsformen des griechischen Volkstums hervorgewachsen ist, womit natürlich nicht geleugnet werden soll, daß die Griechen in Mathematik und Astronomie, Mythos und Kunst ihren orientalischen Nachbarn manches verdanken.
Ehe wir zu dieser Darstellung übergehen, seien die wichtigsten Quellen und Hilfsmittel zur Geschichte der griechischen Philosophie erwähnt. Von den unmittelbaren Quellen und ihrer großen Lückenhaftigkeit ist schon die Rede gewesen. Hier nur das Hauptsächlichste von den Quellen zweiten Ranges, den Berichterstattern. Selbstverständlich ist, trotz ihrer naturgemäßen Subjektivität, schon die Charakterisierung philosophischer Richtungen durch Plato von großem Wert, weniger (vgl. § 19) die durch Xenophon. Die erste planmäßige, wenn auch durch seinen eigenen philosophischen Standpunkt stark beeinflußte Darstellung der Prinzipien seiner Vorgänger gab jedoch erst Aristoteles im ersten Buche seiner Metaphysik (c. 3-30). Seine Schule, die peripatetische, zeichnete sich durch zahlreiche Arbeiten ähnlicher Art aus, von denen jedoch nur eine (über Xenophanes, Zeno und Gorgias) und ein Abschnitt von Theophrasts Geschichte der naturphilosophischen Ansichten erhalten sind. Auch von der reichen doxographischen d.h. die Meinungen der Philosophen beschreibenden und erklärenden, übrigens vielfach mit Vorsicht aufzunehmenden Literatur der Alexandriner besitzen wir nur noch Auszüge Späterer. Aus nachchristlicher Zeit stammen die fälschlich unter Plutarchs Namen gehenden sogenannten Placita philosophorum (150 n. Chr.), sowie die Auszüge des Stobäus (um 500[14] n. Chr., gute Ausgabe von Wachsmuth, 1884). Das ausführlichste, aber auch unkritischste Werk sind des Laertius Diogenes (um 240 n. Chr.) 10 Bücher Über Leben und Lehren berühmter Philosophen (neue Ausgabe von Martini vorbereitet). Vieles findet sich außerdem beiden Römern Varro, Cicero, Lukrez, Seneka, bei den Griechen Plutarch, Galen und namentlich Sextus Empirikus, bei mehreren Neuplatonikern und Kirchenvätern und bei den Kommentatoren des Aristoteles, besonders Simplicius.
Die vollständigste bisherige Sammlung, die freilich kritische Genauigkeit vermissen läßt, bietet Mullach, Fragmenta philosophorum Graecorum. 3 Bde. 1860, 1867, 1881. Die griechischen Doxographen hat H. Diels (Doxographi Graeci, 1879) herausgegeben, ebenso die vorzügliche Sammlung : Die Vorsokratiker, griechisch und deutsch 1903, 2. Aufl. 1. Bd. 1906, 2. Bd. 1907 und 1910. Brauchbare Auszüge aus den Quellen gibt die Historia philosophiae Graeco-Romanae von Ritter und Preller, 8. Aufl. ed. Wellmann, Gotha 1898.
Von philosophiegeschichtlichen Werken außer den S. 7 f. genannten, von denen die 10. Auflage (1909) des I. Bandes von Ueberweg-Heinze durch den neuen Herausgeber Karl Praechter wesentlich gewonnen hat, heben wir als die bedeutendsten hervor:
Chr. A. Brandis, Handbuch der griechisch-römischen Philosophie, 3 Teile, 1835 ff., daneben die kürzere Geschichte der Entwickelungen der griechischen Philosophie etc., 1862 ff.
Ed. Zeller, Die Philosophie der Griechen, 1. Aufl., 1844-1852, jetzt in 3., 4. und zum Teil in 5. Aufl.; daneben der kurze Grundriß der Geschichte der griechischen Philosophie (317 S.), 10. Aufl. bearb. von F. Lortzing 1911.
W. Windelband, Geschichte der alten Philosophie, 3. Aufl. sorgfältig neubearbeitet von A. Bonhöffer, 1912.
P. Deussen, Die Philosophie der Griechen, 1911.
Ein Gesamtgemälde der griechischen Philosophie gibt das geistvolle, freilich stark persönlich gefärbte Werk von Th. Gomperz, Griechische Denker. Bd. I (Vorsokratik) 1896, 3. Aufl. 1911, Bd. II (Sokrates, Sokratiker, Plato) 1903, 3. Aufl. 1912, Bd. III (Aristoteles und seine Nachfolger) 1909.
Anregend durch Mitphilosophieren der Verfasser: E. Kühnemann, Grundlehren der Philosophie, Studien über[15] Vorsokratiker, Sokrates und Platon, 1899. Kinkel, Geschichte der Philosophie, Bd. I und II (bis Plato inkl.) 1906, 1908. Eine kurze zusammenfassende Übersicht gibt H. v. Arnim in der S. 7 zitierten Kultur der Gegenwart.
Auch auf Th. Ziegler, Ethik der Griechen und Römer, (1881), Leop. Schmidt, Ethik der alten Griechen (Berlin 1881), Max Wundt, Geschichte der griechischen Ethik, Leipzig 1908, R. Pöhlmann, Geschichte des antiken Kommunismus und Sozialismus, 2 Bde. 2. Aufl. 1912, und Krische, Die theologischen Lehren der griechischen Denker (Göttingen 1840) sei hingewiesen. Eigenartig, jedoch nicht ausgereift das Werk eines geborenen Griechen: Abr. Eleutheropulos, Die Philosophie und die Lebensauffassung des Griechentums auf Grund der gesellschaftlichen Zustände, 2 Bde. 1900.
Die zuverlässigste und reichhaltigste Bibliographie gibt Praechter in der neuesten Auflage von Ueberweg, Bd. I, in einem besonderen Anhang von 130 Seiten.[16]
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